Besuch aus Amerika

Die erste Ferienwoche ging schneller vorrüber als ich es erwartet hätte. Lange war es bereits angekündigt worden: Im Rahmen irgendeiner Kooperation zwischen dem Deutschen und einem Amerikanischen Rollstuhlsportverband sollten insgesamt vierzehn Frauen und Männer aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten nach Deutschland kommen, um sich hier zwei Wochen mit uns auszutauschen, gemeinsam Sport und ein wenig Urlaub zu machen. Vier davon kamen nach Hamburg: Zweimal männlich, zweimal weiblich. Alle 14 kamen aus ärmlichen Verhältnissen. Daher wurden Leute gesucht, die diese Amerikanerinnen und Amerikaner kostenlos bei sich zu Hause aufnehmen.

Wir hatten angeboten, eine Frau aufzunehmen, denn bei uns steht ja immernoch ein Zimmer leer, seit Lina und Liam ausgezogen sind und Jana noch immer keine Einzugsberechtigung hat. Maximal zwei Frauen, wenn die sich das Zimmer teilen. Und wir wollten vorher informiert werden, um was für Personen es sich handelt. Außerdem für maximal eine Woche, dann muss getauscht werden, schließlich sind auch noch andere Leute mal gefragt und wir haben nicht die gesamten Ferien Lust, fremde Leute zu beherbergen.

Natürlich wurden wir nicht informiert. Natürlich ging man davon aus, dass wir sie zwei Wochen aufnehmen. Natürlich hatte man nicht auf „weiblich“ geachtet. So teilte man uns Anfang Oktober mit, dass man sich freuen würde, dass zwei Männer für vierzehn Tage bei uns kostenlos wohnen könnten. Woraufhin Frank dann das Angebot komplett zurückzog: Wenn man sich nicht an Absprachen hält, gebe es gar nichts.

Tags darauf ruderte man doch noch zurück: Ob wir nicht doch die zwei Frauen für eine Woche aufnehmen könnten. Die Männer würden sowieso schon in einer Gastwohnung eines Krankenhauses unterkommen, weil sonst niemand bereit sei. Für die zweite Woche seien zwei andere Familien gefunden worden. Wir stimmten dann doch zu und am Ende reisten die Leute nicht Samstag, wie geplant, sondern erst am Dienstagvormittag an.

Dann wurde es jedoch sehr nett. Die beiden Mädels, Alexa und Robin, beide 18 Jahre alt, waren sehr aufgeschlossen und sehr freundlich, wir verstanden uns sofort als würden wir uns schon jahrelang kennen, die sprachliche Distanz war auch relativ schnell überwunden und unsere schlimmste Befürchtung, wir bekämen hier zwei Personen, die so gar nicht zu uns passen würden, erfüllte sich überhaupt nicht. Im Gegenteil, sie packten sofort überall mit an (Tisch decken, Geschirr abräumen, Essen zubereiten, einkaufen), gingen äußerst zurückhaltend, nahezu schon vorsichtig, mit fremdem (unserem) Eigentum um und waren insgesamt absolut verträglich. Im Nachhinein hätten wir sie auch gerne noch eine Woche länger bei uns gehabt. Aber das weiß man ja vorher nicht.

Die beiden Jungs waren auch fast ständig mit uns zusammen, fuhren nur zum Schlafen in diese Gastwohnung. Wir hatten den Mädels extra noch zwei Betten organisiert, ansonsten war das Zimmer „nackt“, hat aber ein eigenes Bad. Die in Hamburg untergebrachten Gäste kamen allesamt aus der Nähe von Garland (Texas) und erzählten aus ihrer Heimat nicht nur schönes. Was ich beispielsweise noch nicht wusste, ist, dass es in einigen Ländern der USA offiziell erlaubt ist, Kinder und Jugendliche zu schlagen. Wer sich in der Schule nicht benimmt, kriegt ein paar gescheuert, oder, bei schwerwiegenden Verstößen, was mit einem „Paddle“ auf den Hosenboden. Auf meinen entsetzten Blick erzählte mir Robin, dass sie oft ungefragt schwätze und sich dafür regelmäßig, mindestens einmal pro Monat, eine Ohrfeige einhandele. Alexa erzählte, dass sie einmal ins Gesicht geschlagen wurde, weil sie während einer Klausur laut gepupst hatte – die Lehrerin wusste nicht, dass das passieren kann, wenn man wegen einer Querschnittlähmung seinen Darm nicht kontrollieren kann. Oder sie wollte es nicht wissen, denn beide sagten übereinstimmend, dass dieses „Recht“ von den Lehrern oft sehr willkürlich angewendet wird und eindeutig häufiger gegen finanziell schlechter gestellte Schülerinnen und Schüler vollzogen wird.

Auffallend war außerdem ihr ungläubiger Blick, als wir mit ihnen die Reeperbahn besuchten. Sie wussten zwar, was da los ist und dass es so etwas gibt, aber im Detail hatten sie, glaube ich, keine Vorstellung von dem, was passiert, wenn man versucht, mit Sex Gewinne zu machen. Damit meine ich weniger den Straßenstrich, sondern vielmehr diese ganzen Touristenläden, die Sexartikel verkaufen. Es gibt einige wenige Fachgeschäfte, in denen man wirklich ernsthaft hochwertige Artikel, teilweise auch sehr ausgefallen, bekommt – der Rest ist Ramsch. Hausschuhe mit Penis vorne drauf, T-Shirts mit eingearbeiteter Vagina unter der Achsel, Billigpornos auf DVD, … nichts, was die Welt wirklich braucht. Sie fanden es zwar äußerst spannend, insgesamt aber dennoch schmuddelig.

Am besten fand ich den Satz: „Und die Polizei schaut sich das alles an.“ Damit war nicht nur das Spektakel auf der Reeperbahn gemeint, sondern vor allem auch öffentliches Trinken von Alkohol, was zumindest in Texas auch verboten sein soll. Auch sagten sie, sie wundern sich über die Geduld unserer Polizisten. Die werden von Besoffenen angepöbelt und sagen immernoch: „Nun gehen Sie mal weiter, nun beruhigen Sie sich mal bitte.“ Robin meinte, bei ihr zu Hause wäre man sofort festgenommen worden, wenn man nicht sofort ganz kleine Brötchen backt.

Gestern waren wir zu einem der letzten Outdoor-Schwimmtrainings dieser Saison und haben die vier selbstverständlich mitgenommen. Auch wenn sie nicht im Triathlon, sondern lediglich im Rennrollstuhl (eine der drei Triathlon-Disziplinen) aktiv sind, konnten sie alle doch überraschend gut schwimmen. Der See hatte 12 Grad, die Luft 20, es war jedoch sehr angenehm – selbstverständlich mit Neo.

Die vier hatten außerdem Freikarten für das Musical „Tarzan“ bekommen und waren begeistert. Insgesamt hat ihnen die erste (halbe) Woche sehr gut gefallen, wie sie erzählten. Sonst hört man regelmäßig, die Hamburger seien so wortkarg und unfreundlich, die vier waren jedoch vom Gegenteil überzeugt: Sie sagten, die Hamburger seien insgesamt sehr gastfreundlich, sehr hilfsbereit gegenüber Menschen mit Behinderung und sehr nett. Na das hört man doch gerne.

13 Gedanken zu „Besuch aus Amerika

  1. Da kann man mal sehen, wie unwissend man ist. Ich wusste das auch nicht. Woher auch, man sucht ja nicht gezielt danach.

    Ich kann mir auch vorstellen, dass die Reeperbahn für die vier etwas total außergewöhnliches war. Ich war vor zehn oder zwölf Jahren mal dort und fand es auch interessant und schmuddelig zugleich.

    Was ich gerade ernsthaft überlege: Wenn ein Schüler Blähungen hat, erwartet man wohl, dass er sich dieser auf einer Toilette entledigt. Was aber, wenn es aus Versehen passiert? Normalerweise sollte man doch einfach überhören. Ich verstehe nicht so ganz, was man mit der Ohrfeige erreichen wollte, denn es muss doch offensichtlich gewesen sein, dass sie es nicht mit Absicht getan hat. Andererseits: Gibt es da keine Hilfsmittel, die das verhindern?

    Hatten die vier eigentlich Neos dabei oder durften sie sich die bei euch ausleihen?

    Schöne Grüße aus NRW – Ralf

  2. Ich hab mal gelesen, dass es dafür Analtampons gibt. Da man den "Luftstau" wegen der Lähmung nicht merkt, wird es auch nicht unangenehm. Jule verwendet die, soweit ich weiß, beim Schwimmen, damit nicht plötzlich was verräterisch blubbert. Ich habe aber keine Ahnung, ob man die auch in der Schule reinmachen könnte oder ob das nur beim Baden geht.

  3. Da sieht man mal wieder, wie unbegrenzt die Möglichkeiten im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wirklich sind…
    Lehrer haben die Möglichkeit, ihre Schüler zu schlagen, weil sie gewisse Körperfunktionen nicht kontrollieren können. – Das ist doch eine tolle Form der Freiheit!
    Und dass Polizisten die Möglichkeit haben, Jeden, der ein wenig rumpöbelt, gleich festzunehmen, zeugt natürlich auch von großer Freiheit.

    Da finde ich es wirklich jammerschade, in unserem Land der begrenzten Möglichkeiten zu leben, in dem es all diese tollen Freiheiten nicht gibt und in dem ich mich von schmuddeligen Penis-Hausschuhen, Vagina-Achsel-T-Shirts, Billigpornos, in der Öffentlichkeit Alkohol trinkenden Leuten, usw. belästigen lassen muss. 😉

    Gruß,
    Banane

  4. Nun, die Möglichkeiten sind tatsächlich unbegrenzter als du denkst 😉 Die Freiheit besteht darin, dass sie sich dafür entscheiden können, wie sie sich verhalten bzw. die Schulen können sich entscheiden, ob sie es vorschreiben oder nicht.
    Hier ein lesenswerter Artikel (http://www.corpun.com/counuss.htm): In 22 Bundestaaten ist die Prügelstrafe erlaubt. Tatsächlich aber beschränkten sich 3/4 aller Anwendungen auf nur 4 Bundesstaaten: Arkansas, Mississippi, Tennessee und Texas.
    So don't blame the USA, blame Texas: "In absolute terms, however, Texas, with its much greater population, is the "world capital of paddling"
    Der von mir weiter oben genannte Spiegel-Artikel nennt als möglichen Grund übrigens die tiefverwurzelte "traditionelle" Sklavenhalter-Mentalität in diesen früheren CSA-Staaten. Küchenpsychologie: Früher haben sie halt ihre Sklaven verprügelt, heute ihre Kinder. Ob das wirklich stimmt, kann und möchte ich nicht beurteilen …

    Ich denke, dass das einiges etwas gerader gerückt hat …

    … und hoffe, dass der Artikel nicht nach den Pinkel-Fetischisten auch noch Spanking-Fetischisten anlockt 😉

    nix für ungut

    Loxia

  5. Ich bin einfach zu wenig drin im Thema, als dass ich mir ein endgültiges Urteil erlauben dürfte. Ich sehe einige Dinge, die Amerika macht oder unterlässt sehr skeptisch. Schüler zu verprügeln finde ich persönlich unter aller Würde. Ich weiß, dass es absolut unmögliche Schüler gibt und ich hatte auch schon selbst mit ziemlichen Chaoten und Chaotinnen zu tun. Aber jemanden zu verdreschen ist, und davon bin ich fest überzeugt, keine Lösung. Ich finde jede Form von Gewalt ohnehin unangebracht, nicht nur in der Schule. Allerdings würde ich als Lehrerin aus Texas möglicherweise auch anderer Meinung sein – wer weiß das schon. Ich bin jedenfalls froh, nicht in Texas zu leben.

    @Loxia: Ich hoffe doch sehr stark, dass hier niemand auf die Idee kommt, die Dresche, die die Leute da beziehen, erzeuge sexuelle Lust. Obwohl, vielleicht ja bei den Lehrern? Igitt, was für eine Vorstellung. Darf ich den Gedanken weit wegschieben?

    @Lutz: Analtampons helfen nicht gegen Blähungen und nicht gegen flüssigen Stuhl. Sondern nur gegen alles, was dazwischen liegt. Sie sind sogar extra so konzipiert, dass sie luftdurchlässig sind. Und es stimmt auch nicht, dass Querschnitte keine Bauchschmerzen bekommen können. Ich verwende die auch inzwischen nicht mehr beim Schwimmen. Der einzig sinnvolle Tipp, wenn man Blähungen vermeiden will, ist, auf entsprechende Lebensmittel zu verzichten, von denen man weiß, dass sie so etwas provozieren, wie beispielsweise Hülsenfrüchte.

    @Ralf: Die vier haben von unserem Verein Neos ausgeliehen bekommen. So ein Ding packt sich ja keiner freiwillig ins Gepäck. Nicht nur wegen des Gewichts, sondern auch wegen des Gestanks.

  6. @Jule: Darf ich fragen, welche Alternative du für dich gefunden hast, damit du die Analtampons nicht mehr verwenden musst beim Schwimmen?

    Und wieso stinken Neos im Gepäck? Wenn man den nach dem Tragen richtig ausspült (also nicht nur im See sondern zu Hause in der Badewanne), stinken die doch nicht mehr, weder nach Seewasser noch nach Schweiß oder anderen Körperflüssigkeiten.

  7. @Anonym: Mit der Zeit gelingt es, auch einen Darm, der keine Verbindung mehr zum Gehirn hat, so zu konditionieren, dass er sich immer im gleichen Rhythmus entleert. Und diese Zeit legt man so, dass man dann nicht gerade beim Schwimmen ist. Oder man legt das Schwimmen so, dass dann nicht gerade Abführzeit ist. Dann klappt es irgendwann auch ohne Analtampons.

    Bei den Neos meinte ich weniger Schweiß oder Pipi, sondern alleine das Gummi stinkt doch ekelhaft. Das möchte ich nicht im Koffer haben, so dass hinterher sämtliche T-Shirts nach Neopren riechen.

  8. @Jule: Und wenn es doch beim Schwimmen passiert? Ist das Risiko nicht sehr groß?

    Ich finde, Neos stinken nur dann ekelhaft, wenn jemand reingepinkelt hat. Aus dem Grund kann ich schon verstehen, dass niemand so etwas im Koffer haben will. Aber was ich noch weniger verstehen kann, ist, dass sich jemand freiwillig so etwas ausleiht, wenn andere Leute das schon getragen haben. Das wär mir viel zu eklig, denn wer weiß, welches Schwein das Ding vor mir getragen hat.

  9. @Anonym 77: Das passiert nicht. Höchstens wenn ich Durchfall habe, und dann gehe natürlich nicht noch schwimmen. Würde ja ein Mensch ohne Querschnittlähmung auch nicht tun, oder?

    Ich habe einen engen Badeanzug an und wenn Du willst, kannst Du ja mal für dich ausprobieren, so dein großes Geschäft zu erledigen. Weißt Du, wie anstrengend es für Babys ist, wenn sie in die Windeln machen? Leckeres Thema BTW. Aber die müssen doch richtig heftig pressen, damit es rauskommt. Ich kann nicht pressen. Was soll da also passieren, selbst wenn der Darm sich entscheidet, sich gerade dann entleeren zu wollen? Es geht nicht, rein aus physikalischen Gesichtspunkten.

    Der Tipp kam übrigens von einer querschnittgelähmten Freundin. Ich sage es immer wieder: Es geht nichts über Kontakte zu anderen Menschen mit dergleichen Behinderung.

    Zum Thema "Neo": Die Dinger stinken meiner Meinung nach immer nach Gummi. Und was die Schweine angeht, weiß bei uns jeder, dass er in einem Verein, in dem die Hälfte der Leute Pampers trägt und die andere Hälfte eine durch Medikamente mehr oder weniger komplett ruhiggestellte Blase hat, keine "unbefleckten" Anzüge ausleihen kann. Die werden nach jedem Tragen ausgespült, und wem das nicht reicht, der muss sich halt eigene Sachen mitbringen oder wieder nach Hause gehen. Allerdings kenne ich auch keinen, der davon gestorben ist.

  10. @Jule: Du erklärst ein wenig "durch die Blume" – habe ich es richtig verstanden, dass es beim Nacktschwimmen durchaus das Problem geben könnte?

    Und zweitens: Weiß denn jeder, der sich bei euch etwas ausleiht, was er da bekommt? Vielleicht sind die Leute ja auch nur deshalb nicht an einer hysterischen Attacke gestorben, weil sie gar nicht wussten, was sie sich dort überstreifen?!

  11. Tja, auch hier zeigen sich Mosaiksteine dafür, dass die USA eben ein lausiger Rechtsstaat sind. Für genau diese (halböffentliche, dokumentierte) Aussage musste doch auch mal eine justizministerin zurücktreten. Aus meiner Sicht zu Recht, denn wenn eine Justizministerin Prügelstrafe zur Schuhlerziehung noch als lausigen Rechtsstaat durchgehen läßt – das ist doch wohl gar kein Rechtsstaat mehr, wenn so etwas möglich ist.

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