Frohes Neues

Inzwischen ist alles überstanden. Der Jahreswechsel war eindeutig anstrengender als das Weihnachtsfest. Aber er war auch mindestens doppelt so schön. Ach, übrigens, frohes neues Jahr!

Am Silvesternachmittag fuhr ich ins Krankenhaus, zu Laura, von der ich noch nicht einmal eine Handynummer hatte. Könnte sein, dass sie sich das inzwischen anders überlegt hat, könnte sein, dass ich völlig umsonst dorthin gurke. Durch das Tauwetter waren alle Straßen mit dem Auto normal befahrbar. Trotzdem gab es immernoch Leute, die mit 28 km/h über die Bundesstraßen fuhren und jede rote Ampel mitnahmen. Einerseits neugierig, andererseits genervt kam ich auf der Station an.

„Du bist ja wirklich gekommen“, begrüßte sie mich, als hätte sie bis zum Schluss Zweifel gehabt, ob sie jemand derbst verladen haben könnte. Nach einer Umarmung sagte sie: „Ich will so schnell wie möglich hier raus. Kannst du mir ein Handtuch leihen?“ – Ich nickte. – „Ätzend, ich hab noch nie seit meinem Unfall eine Jeans angezogen. An den Beinen ist sie viel zu weit und an der Hüfte viel zu eng. Ich krieg nicht mal den Knopf richtig zu.“

„Das ist nicht gut“, sagte ich. „Das ist ein sicheres Rezept für die erste Druckstelle.“ – „Hat die Schwester auch schon gesagt, aber ich kann doch nicht in Sporthose auf eine Party.“ – „Sicher kannst du das, meinst du, das interessiert jemanden, wenn die wissen, dass du noch stationär in der Klinik bist?“ – „Ich weiß nicht?“ – Ich schüttelte den Kopf. – „Okay, dann zieh ich mich nochmal um“, sagte sie, schnappte sich ihre Sporthose und bat mich, schonmal vorzufahren.

Wie kommt man auf den hohen Beifahrersitz eines Viano? Wie muss ich mich festhalten, damit ich nicht in jeder Kurve wegen fehlender Rumpfmuskulatur halb aus dem Sitz purzel und mich im Sicherheitsgurt aufhänge? Wie bekomme ich meine Augen wieder auf eine normale Größe, wenn ich gerade sehr erstaunt über den behindertengerechten Umbau des Fahrzeuges bin? Und wie bekomme ich den Mund wieder zu, der wegen der Faszination über ein komplett mit den Händen bedienten Pkw offen steht? Laura hatte eine halbe Stunde Zeit dafür und es gerade so eben geschafft…

Wir waren noch nicht vom Klinikgelände, als sie fragte: „Kannst du damit im Notfall auch eine Vollbremsung machen?“ – „Na sicher. Man muss das Auto genauso bedienen können wie andere Menschen, die ihre Füße einsetzen. Sonst bekommt man keinen Führerschein.“ – Sie schluckte: „Ja sicher. Wie schnell fährt der?“ – „Laut Tacho etwa 225. Aber ich mag solche Geschwindigkeiten nicht.“ – „Ich auch nicht. Und von 0 auf 100?“ – „Laut Hersteller in 9 Sekunden. Und anschließend muss man tanken.“ – „Verbraucht der viel?“ – „Also in den Tank passen ungefähr 70 Liter Diesel und der Verbrauch hängt stark davon ab, ob ich viele kurze Strecken fahre, ob nur in Hamburg oder auch auf der Autobahn, ob Winter ist oder Sommer und wie oft ich die Standheizung benutze. Die kürzeste Strecke, die ich bisher gefahren bin, waren etwa 750 Kilometer und die längste war knapp 1.100 Kilometer. Mit einem Tank.“

Um 19 Uhr begannen wir mit dem Raclette-Essen. Zwei Raclette-Geräte auf dem Tisch im Gruppenraum (mit Küche), nach 30 Minuten ging der erste Rauchmelder los… Es hat sehr gut geschmeckt, wir waren insgesamt zu zwölft. Um halb elf sind wir dann in Richtung Landungsbrücken aufgebrochen, hatten mit einigen völlig abgefüllten Menschen zu tun, einer hatte sich bis auf die Unterhose ausgezogen, eine andere trug Minirock und Top, ein schmieriger Typ wollte ausgerechnet mit Laura fi**en, wie er mehrmals in der Bahn zum Besten gab. Laura fragte nur: „Was gibt es hier in Hamburg bloß für komische Typen?“

Das Feuerwerk über dem Hamburger Hafen hat ihr dann aber doch noch super gefallen, sie bekam nebenbei einen sehr lebendigen Eindruck davon, dass man mit dem Rollstuhl doch fast überall hinkommt, wenn man weiß, wie, hat sich einmal komplett in den matschigen Schnee gelegt, als sie rückwärts einen Bordstein runterrollte, den sie nicht gesehen hat (man muss dazu sagen, dass er im Dunkeln auch schlecht zu sehen war und auch nur etwa 4 bis 5 Zentimeter Höhe hatte). Es wehte ein eiskalter Wind, obgleich die Temperatur sonst im Plusbereich war und es auch leicht nieselte. Kein wirklich schönes Wetter.

Entsprechend hielten wir uns auch nur knapp eine Stunde am Hafen auf und fuhren sofort danach wieder zurück. Inzwischen funktionierten mal wieder etliche Aufzüge und Rolltreppen nicht mehr.

Als wir endlich wieder zu Hause waren, zog mich Laura zur Seite: „Ich brauch deinen Rat.“ Sie machte einen überforderten Eindruck. Ich fragte: „Was ist passiert?“ – Sie seufzte nur einmal tief. – „Du hast deine Schlafsachen in der Klinik vergessen?“ – Sie schüttelte den Kopf. – „Deine Katheter?“ – Sie schüttelte nochmal den Kopf. – „Dein Tabletten?“ – Nochmal Kopfschütteln. – „Du hast eingepinkelt.“ – Sie guckte mich mit großen Augen an, als hätte sie gerade Gefallen an dem Ratespielchen gefunden und gehofft, ich würde die Lösung erst in einigen Stunden herausbekommen, um die Konfrontation mit der ernüchternden Wahrheit so lange wie möglich hinauszögern zu können. – „Was mach ich denn jetzt?“

„Na duschen gehen, würde ich sagen“, antwortete ich. „Hast du eine trockene Hose mit oder willst du eine von mir haben?“ – „Was denken denn die anderen, wenn ich da plötzlich mit einer Hose von dir auftauche?“ – „Die denken, du hast eingepinkelt und keine Wechselhose dabei gehabt.“ – „Ich will das nicht.“

Cathleen kam um die Ecke und hatte offenbar die letzten Worte mitgehört. „Wer hat eingepinkelt und keine Wechselsachen dabei gehabt?“ fragte sie, so direkt, wie es eben ihre Art ist. Ich schaute zu Laura hinüber, die war kurz davor, loszuheulen. Sagte gar nichts mehr und starrte ins Leere. „Willst du eine Hose von mir haben?“ fragte Cathleen. Laura sagte immernoch nichts. Cathleen rollte zu ihr und nahm sie in den Arm. „Komm, geh duschen, ich such dir was von mir raus.“ – „Ich glaub, ich geh nach dem Duschen gleich ins Bett. Damit mich keiner mehr sieht.“

„So ein Blödsinn, Laura“, sagte ich. „Das ist nun echt Quatsch. Da musst du durch, auch wenn es am Anfang noch so schwer fällt. Als mir das zum ersten Mal passiert ist, wäre ich auch am liebsten im Erdboden versunken. Heute lächel ich einmal drüber. Da ist es nur noch lästig, aber nicht mehr schlimm. Echt, Laura, probier es aus. Geh offensiv damit um. Da werden vielleicht welche schadenfroh lachen, zwei machen einen Spruch, dann gibst du einfach drauf raus und tust so, als hättest du das mit Absicht gemacht, und in fünf Minuten ist alles vergessen. Vertrau mir. Bitte.“

Wir fuhren zurück in den Gruppenraum, Laura mit einer Wechselhose von Cathleen auf dem Schoß. Frank fragte: „So was ist, wollen wir jetzt endlich mal was spielen?“ – Laura antwortete: „Später, ich will erstmal duschen.“ – Frank fragte: „Oh, frierst du? Dann würde ich eine Badewanne empfehlen.“ – Laura sagte: „Nee, ich hab mich angepinkelt.“ – Simone kommentierte mit einem Grinsen und einem langgezogenen: „Pfui.“

Laura antwortete: „Ja, ich weiß. Ich hab gefroren und wollte mir den Po wärmen.“ – Simone sagte: „Du spürst die Wärme doch gar nicht bei deinem Querschnitt.“ – Laura konterte: „Ja, das habe ich dann auch irgendwann gemerkt.“ – Alles lachte. Einschließlich Laura. Frank sagte: „Wenn das so ist, empfehle ich dann doch eher die Dusche als die Badewanne.“ – Situation gerettet, Laura hatte wieder beste Laune.

Um fünf gingen wir ins Bett. Vier Leute fuhren zu sich nach Hause, die hatten es nicht weit, der Rest schlief auf Isomatten, Feldbetten und aufblasbaren Gästebetten. Um halb drei nachmittags gab es Frühstück. Anschließend brachte ich Laura zurück in die Klinik. Ein bißchen traurig war sie schon beim Abschied. Aber sie sagte selbst, dass sie noch einiges erarbeiten müsste, um so mobil zu werden wie wir es alle sind. Wenn diese auswärtige Übernachtung ihr dafür den nötigen Schub gegeben hat, würde es mich sehr freuen.

6 Gedanken zu „Frohes Neues

  1. Dir auch nachträglich ein frohes neues Jahr. Wie Du das mit Laura geschaukelt hast: klasse!!! Ich glaub, ein Beruf in die Richtung wäre eine Bereicherung für jeden, der es "mit Dir zu tun bekommt" 🙂

    Liebe Grüße, Ruthy

  2. Hi Jule,

    ich wünsche dir auch erst mal ein frohes neues Jahr!

    Und ich bin nach wie vor schwer beeindruckt, wie du dich entwickelt hast: Vor ziemlich genau zwei Jahren warst du noch eine jammernde Stinkesocke im Krankenhaus… und heute? – Heute hast du trotz aller Probleme ein tolles Leben und hilfst sogar schon anderen Leuten mit ähnlichem Schicksal dabei, wieder zurück ins Leben zu finden.
    Hut ab vor dieser Leistung!

    Gruß,
    Banane

  3. Klingt nach einer gelungenen Party 🙂 Freut mich sehr, dass es auch Laura gut gefallen hat. 🙂

    Gut, dass sie bei der ersten "Pipi-Attacke" "alte Hasen" um sich herum hatte 😉

  4. Sicher gibt es in Hamburg komische Leute, weiss der geneigte (das kommt im übermüdeten Zustand schonmal vor…) Leser dieses Blogs am besten.
    Aber genauso gibt es eben tolle Leute, mit beachtlicher Entwicklung in Hamburg. Ja Jule & Konsorten, bitte angesprochen fühlen.
    So wie Du es über Laura schriebst, bezogen auf Viano ohen Füße zu bedienen, wäre es mir wohl auch gegangen. Ob ich als Fußgänger auch Schwierigkeiten mit dem aufrechten sitzen hätte, läge dann an Deiner Fahrweise und Bereitschaft das Material zu stressen^^

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