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Jetzt tanzen alle Puppen, macht auf der Bühne Licht, macht Musik bis der Schuppen wackelt und zusammen bricht *sing*

Ich war heute morgen schon ganz früh in der Schwimmhalle. Heute ist wieder so ein Tag, da liegt was in der Luft. Viele sind gereizt, einer ist agressiver als der nächste, zwei Leute haben mich heute schon angepöbelt. Einer ist fast über mich gestolpert, weil er nach hinten schaute beim vorwärts gehen, die zweite stand im Weg und träumte, und als ich sie höflich fragte, ob ich mal vorbei dürfte, blubberte sie: „Ich bin selbst behindert“, und steigerte sich dann, obwohl ich überhaupt nicht reagierte und vorher auch überhaupt nicht auf meine Behinderung angespielt hatte, in einen Monolog hinein, in dem es um zu breite Rollstühle, freche Gören, die Jugend von heute und Ausländer ging.

In der Trimmbahn stehen die Omas am Ende und labern, am Beckenrand räumt einer meinen Rolli vom Einstieg weg an die gegenüberliegende Wand, dorthin wo es spritzt, wenn einer die Kaltdusche betätigt, auf dem Weg nach Hause nimmt mich fast ein Auto auf die Haube, weil er übersieht, dass Fußgänger bei seinem Abbiegen auch grün haben, in meiner Straße wird der Gehweg als Parkplatz benutzt, so dass ich durch die Tiefgarage ins Haus rollen muss, dann regt sich auch noch eine Nachbarin auf, die eigentlich laufen könnte, aber lieber mit dem Aufzug fährt und nun von mir in den Keller geholt wurde, obwohl sie in ihrer Wohnung etwas auf dem Herd stehen habe (wie doof muss man eigentlich sein, denn so ein Aufzug könnte ja auch mal stecken bleiben) – es reicht.

Da mache ich meinen PC an, schaue in meinen Blog und muss da erstmal aufräumen. Draußen scheint den Leuten die Sonne auf die Hypophyse, einzelnen offenbar zu lange, so dass sie ihre Hormone nicht mehr unter Kontrolle haben. Okay, okay, rund ein halbes Jahr ist es schon wieder her, als ich mit den Fetischisten den Deal gemacht habe: Ihr bekommt eine Chance, alle Eure Fragen zu stellen, ich werde die, die ich beantworten möchte, beantworten, aber dann ist Schluss – alles weitere wird konsequent und sofort gelöscht. Ich glaube, es ist schon wieder zu lange her und entsprechend wohl mal wieder an der Zeit.

Ja, ich fordere meine Leser auf, mir Fragen zu stellen. Egal welche. Ich werde sie demnächst beantworten. Es ist für mindestens ein halbes Jahr die einzige Chance, auch Fragen und Überlegungen zu posten, die ich sonst sofort löschen werde. Ich verspreche nicht, dass ich alle beantworte, aber je mehr ein Leser auch von sich schreibt (und insbesondere, warum ihn die Frage beschäftigt, das interessiert mich nämlich immer dabei), um so größer ist die Chance, dass ich darauf später einzeln eingehe.

Natürlich ist das auch die Chance, mal was seriöses zu fragen ;). Also beispielsweise: Wieviel Zoll haben die kleinen Lenkräder an deinem Rolli? Welche Maße hat dein Schreibtisch? Magst du Erdbeermarmelade? Trägst du gerne Wollsocken? Welche Zahnpasta benutzt du?

Los geht’s! Einfach die Kommentarfunktion nutzen und drauf los schreiben! Viel Spaß, ich bin gespannt.

Kein schönes Ostertraining

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Nein, natürlich habe ich nicht gemeint, dass alle Sozialpädagogen einen an der Waffel haben, als ich in der letzten Woche vom Pädagogischen Konzept schrieb. Ich finde, man muss eine Menge in meinen Text hinein interpretieren, um das herauszulesen. Allerdings mache ich keinen großen Hehl daraus, dass ich recht fest davon überzeugt bin, dass es unter Sozialpädagogen mindestens genauso viele Idioten gibt wie in anderen Berufen. Und dass ich glaube, dass idiotische Sozialpädagogen deutlich mehr Unheil anrichten können als Idioten in anderen Berufen – zumal das Unheil wohl oft erst dann auffällt, wenn vieles bereits zu spät ist und ganz offensichtlich viele Kontrollen nicht funktionieren oder zu lasch sind. Oder kann mir jemand erklären, wieso ein Gruppen-, Abschnitts- oder Einrichtungsleiter zulässt, dass Susanne zur Durchsetzung pädagogischer Ziele die eigene Mobilität noch weiter eingeschränkt wird als sie es ohnehin schon ist?

Zum Beispiel habe ich auch keinerlei Zweifel, dass Susanne alleine mit Bus und Bahn zu mir fahren könnte – oder auch zum Training. Zumal der letzte Bus direkt über den Deich fährt, auf dem wir trainieren. Trotzdem darf sie das nicht alleine und wir müssen sie zu zweit aus ihrer WG abholen. Zu zweit, damit im Notfall einer Hilfe holen kann, während sich der andere um Susanne kümmert. Kein Kommentar.

Nun hat es unser Verein auch endlich geschafft, zu der absolut geilen Outdoor-Trainingsstrecke die passende Dusch- und Umkleidemöglichkeit zu finden. Bisher war das alles recht improvisiert, doch ab sofort dürfen wir bei einem Sportverein, dessen Vereinshaus am Ende unserer Strecke liegt, duschen und uns umziehen. Und parken. Was natürlich absolut genial ist. Und wie schon gesagt, der Linienbus hält auch direkt vor der Tür. Eingefädelt hatte das übrigens der Dorfpolizist, der in der Nähe dieses Sportvereins wohnt und regelmäßig nach dem Rechten sieht, wenn wir trainieren. Ein etwas rundlicher, älterer Herr mit je drei silbernen Sternen auf den Schultern, der grundsätzlich alleine in seinem Streifenwagen sitzt und uns offenbar in sein Herz geschlossen hat. Fast jedes Mal, wenn wir nachts trainieren, taucht er auf dem Fahrrad sitzend mit seinem Hund auf, grüßt einmal und haut wieder ab.

Da in der Nacht zu Ostersonntag in dem Bereich ein Osterfeuer war, mussten wir diesmal auf die Nacht von Karfreitag auf Ostersamstag ausweichen. Wir waren gerade mitten im Training, ich auf meiner zweiten Runde mit dem Rennrolli, als ich in weiter Ferne ein Auto mit hoher Geschwindigkeit entgegenkommen sah. Das machte einmal kurz Fernlicht an, blinkte dann aber rechts, fuhr auf den Grünstreifen und schaltete das Licht aus. Es war noch mindestens einen Kilometer entfernt. Das kam mir im ersten Moment etwas merkwürdig vor. Ich verlangsamte die Fahrt und überlegte, vorher zu drehen und zurückzufahren. Immerhin war ich in dem Moment alleine und es war ziemlich dunkel. Aber einen Rennrollstuhl bekommt man nicht so einfach und schnell gewendet. Also beschloss ich, rechts auf den Parkstreifen zu rollen und auf den nächsten zu warten, der hinter mir kommen würde. Das nächste, was nach gefühlten zwei Minuten kam, war ein weiteres Auto, relativ schnell – es gehörte weder zu uns noch zu dem Fußgänger-Team, das mit uns trainierte. In etwa einem halben Kilometer Entfernung folgte diesem Auto ein Kleinbus, der zu einem der beiden Teams gehören könnte. Auf der nahezu schnurgeraden Strecke konnte man kilometerweit sehen.

Das Auto, ein Golf, fuhr an mir mit etwas überhöhter Geschwindigkeit vorbei. Als ich wieder nach vorne schaute, ging an dem Auto, das in zwei Kilometer Entfernung auf dem Grünstreifen im Dunkeln stand, das Licht wieder an. Das Auto wendete. Oder? Nein, es wendete nicht, es blieb quer auf der Straße stehen. Und plötzlich flackerte Blaulicht auf dem Dach. Häh?! Hatte der Dorfpolizist uns etwa so lieb, dass er jetzt alle Leute, die trotz „Einfahrt verboten“ die Straße passierten, kontrollierte? Um es nicht endlos spannend zu machen: Der Golffahrer hatte am anderen Ende der gesperrten Straße eine Kurve so geschnitten, dass ein Radler aus dem Fußgänger-Triathlon-Team in den Graben geschliddert ist. Außer ein paar Schürfwunden und einigen zerfetzten Klamotten ist dem aber wohl nichts passiert. Der Golffahrer hatte noch gehupt, ist aber gleich weitergefahren. Unfallflucht nennt man sowas wohl. Per Handy hatte jemand aus dem Team direkt die Polizei angerufen. Ein Begleitfahrzeug hatte den Golf verfolgt. Und der Dorfpolizist hat sich die vier Jugendlichen, die ohne Lappen unterwegs waren, gleich geschnappt und zumindest so lange festgehalten, bis seine Kollegen vom nächsten ständig besetzten Revier dort waren. Damit war allerdings auch das Training für diese Nacht erstmal beendet.

Dafür durften wir am heutigen Ostermontag zum ersten Mal draußen schwimmen. Der See, ein Baggersee, bis zu 19 Meter tief, nur rund 500 Meter breit, dafür aber rund 2300 Meter lang, hatte eine Wassertemperatur von 14 Grad. Etliche Kinder plantschten bereits im flachen Wasser, einige wenige waren auch komplett bis zum Hals drinnen, aber nie länger als wenige Sekunden, dafür war es einfach noch zu kalt. Marie, Cathleen, Simone und ich saßen bereits auf einer Decke auf dem Rasen, zogen uns bis auf die Badesachen aus, während Tatjana noch mit Yvonne, Kristina, Merle und Nadine ins Vereinsbüro wollte, weil die da noch irgendeine Wettkampfmeldung dringend faxen mussten. Es sollte angeblich nur höchstens 30 Minuten dauern, wir sollten uns so lange etwas sonnen.

Nach 20 Minuten begannen wir, uns in die Neoprenanzüge zu zwängen, inzwischen konnten wir es alleine, lediglich Marie machte es zum ersten Mal und brauchte Hilfe. Gefühlte hundert Augen glotzten uns an. Für die ganzen Kinder war es super spannend, dass ein paar Rollifahrer sich dort auf der Erde liegend in ihre Wurstpellen pressten, deren Eltern ließen für Minuten glatt ihre Campinggrills aus den Augen. Nach 10 Minuten saßen wir da, die Einteiler bis zur Brust hochgezogen, auf Tatjana und den Rest wartend. Nach weiteren dreißig (!) Minuten kamen sie dann endlich. Während die anderen sich am Auto umzogen, quetschten wir noch unsere Arme in das Ding, schlossen einander die Reißverschlüsse und warteten darauf, dass es jeden Moment losgehen würde.

Wir rollten langsam vom Rasen auf den Sandstreifen nach unten. Als wir uns wieder umsahen, waren die anderen vier immernoch am Auto. Meine Güte, brauchten die lange. Wir setzten uns schonmal in den Sand. Marie fing an, mich zu ärgern, indem sie mich so anstieß, dass ich (in Ermangelung von Oberkörperstabilität) seitlich umkippte. Sofort warf sie sich auf mich drauf und drückte mich auf die Erde. „Ich bin stärker als du“, meinte sie. Wir kämpften. Es gelang mir, sie umzustoßen und mich zumindest für einige Sekunden mit meinem Oberkörper auf sie draufzulegen, bevor sie uns ein Stück weiter rollte und wieder oben lag. Sie war mir durch ihre niedrigere und imkomplette Querschnittlähmung körperlich eindeutig überlegen. Wir wälzten uns in dem Sand hin und her, aber ich schaffte es nicht, sie irgendwie festzuhalten. Stattdessen hatte sie mich ein paar Mal so unter sich fixiert, dass ich kapitulieren musste. Wir sahen aus wie die panierten Schnitzel. Aber wir wollten ja ohnehin gleich schwimmen.

Tatjana kam und brachte uns vier Flaschen Mineralwasser. „Damit ihr nicht völlig dehydriert in dem warmen Ding“, meinte sie fürsorglich. Sie habe ihren Neo im Auto vergessen, ergo müsse sie jetzt mit dem Kleinbus nochmal zum Parkplatz zurück. Das würde noch weitere 15 Minuten dauern. Die anderen kämen gleich. Wir sollten warten. Wahnsinn. Marie hatte es faustdick hinter den Ohren. Teilweise trank sie, aber zwischendurch nahm sie den Mund voll Mineralwasser, spitzte die Lippen und spuckte es in meine Richtung, mir direkt auf den Arm oder auf die Brust. Das Spielchen fanden Cathleen und Simone natürlich auch toll und so durften etliche Leute beobachten, wie vier Behinderte sich gegenseitig mit Mineralwasser bespuckten, sich in Schwitzkästen nahmen und im Sand herumrollten. Cathleen begann irgendwann, mit Matsch zu werfen und irgendwann waren wir, obwohl wir auf Tatjana warten sollten, im Wasser. Es war dermaßen arschkalt, dass mir richtig ein wenig übel wurde, als ich komplett drinnen war. Im Neo muss sich ja erstmal ein Wasserfilm bilden, bis er isoliert, und der ist erstmal so kalt wie das Seewasser.

Das Schwimmtraining dauerte nur rund 20 Minuten. Das reichte auch. Vor allem mein Kopf fühlte sich wie eingefroren an und meine Stirn fühlte sich leicht schmerzhaft an. Ich war froh, als wir endlich wieder draußen waren, die nassen Sachen ausziehen und uns abtrocknen konnten. Danach kurz gemeinsam duschen, bevor wir dann einen wunderbaren Grillabend am See hatten – es war richtig herrlich.

In der nächsten Woche sind Osterferien, ich werde die Zeit nutzen, um für meinen Test zu lernen, zwei Referate und zwei Hausarbeiten zu schreiben und intensiver zu trainieren. Das Ostertraining war irgendwie nicht der Brüller. „Nicht schön“, wie auch Cathleen fand. Dieser abgebrochene Nachteinsatz und dieses Schwimmen im Eiswasser … da wäre eigentlich mehr drin gewesen. Schwimmen in der Halle wäre jedenfalls effektiver. Auf jeden Fall möchte ich in diesem Jahr noch an mindestens einem Triathlon teilnehmen!

Pädagogisches Konzept

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Schön ist es, wenn man sich nicht langweilt. Nicht mehr ganz so schön ist es, wenn man so viel zu tun hat, dass man nicht mal mehr zum Schreiben kommt. Schöner wird es jedoch, wenn die Dinge, die man zu tun hat, Spaß machen. Mir geht es gut.

Zur Zeit versuche ich ganz viel zu lernen, um meinen Einstellungstest zu bestehen. Wobei mir allerdings schon von ganz vielen Leuten gesagt wurde, dass man den nicht mit Auswendig-Lernen hinbekommt, sondern nur mit Hirn. Zum einen sind die Fragen nicht bekannt (und ständig neu), zum anderen sind die meisten Aufgaben aus Bereichen, die man allenfalls trainieren, aber nicht auswendig lernen kann. Ich lasse mich überraschen. Einen Termin habe ich noch nicht, ich weiß nur, dass es im Mai sein soll.

Damit wäre auch die Frage beantwortet, wie ich mich entschieden habe. Ich möchte auf jeden Fall diesen Test mitmachen. Vielleicht hat sich dann schon alles erledigt. Wenn nicht, werde ich das Studium versuchen – verlieren kann ich nichts. Selbst wenn alle Stricke reißen, dann reißen sie so früh, dass ich mein Abi an der Schule noch nachmachen kann. Danke übrigens für die vielen Glückwünsche und die langen Kommentare. 🙂

Themenwechsel. (Manchmal muss auch ein harter Schnitt sein. Immer nur weiche Überleitungen machen irgendwann müde. Und es ist auch ausgesprochen schwierig, von „Schule“ auf „Sport“ überzuleiten.)

Also Sport. Beim Training auf dem Sportplatz (wo ich meistens nicht bin, da ich das terminlich nicht untergebracht bekomme) war in den letzten Wochen regelmäßig eine Susanne, 19 Jahre alt, Spasti. Spastis haben wir beim Triathlon nicht so viele wie Spifis oder Schnittis, keine Ahnung, warum. Oft ist es so, dass Spastis eine gute und eine schlechte Seite haben, also oft ist der rechte Arm stärker als der linke oder umgekehrt. Was manchmal Schwierigkeiten macht, wenn einer der beiden Arme kaum einsetzbar ist – allerdings denken viele, dass bereits unterschiedlich kräftige Arme ein Ausschlussgrund für den Sport wäre, was absolut nicht der Fall ist. Der Rennrollstuhl fährt auch dann geradeaus, wenn man nur mit einer Hand antreibt und das Handbike ebenso. Lediglich beim Schwimmen müsste man sicher gehen, dass man auch wirklich am Ziel ankommt und nicht irgendwo im Schilf…

Cathleen und ich sollten Susanne abholen. Sie wurde sonst, so Cathleen, immer von einem Typen zum Training gebracht; am Nachttraining dürfe sie nur teilnehmen, wenn sie jemand abholt und zurückbringt. Sie wohne in einer Einrichtung und die Betreuer seien dort manchmal etwas komisch. Der Linienbus hielt direkt vor der Haustür, wir klingelten sofort an der richtigen Tür – es handelte sich um eine betreute Wohngruppe. Allerdings hatten sämtliche Leute, die uns über den Weg liefen, deutliche kognitive Einschränkungen. Ein Typ öffnete uns in Feinripp-Unterhose, Sandalen, sonst nackt, die Haustür. Nein, knackig sah der nicht aus. Er schien rund 60 Jahre alt zu sein, Goldkettchen, streng zurückgekämmte Haare, Pilotenbrille, roch nach Tabac-Rasierwasser. „Hansi“ stellte er sich uns vor.

Er dürfe uns nicht ins Haus lassen, aber er hole mal die Betreuerin. Nach fünf Minuten kam eine Frau, Mitte 40, mit Leib und Seele Sozialpädagogin, auf uns zu und wollte wissen, wieso Susanne jetzt (um 17.15 Uhr) zum Training abgeholt werde – man habe uns um 11.00 Uhr erwartet. Da hatte wohl jemand 11 und 23 Uhr verwechselt, und wir waren am späten Nachmittag verabredet. Tolle Kommunikation. Nein, das könne man ja gar nicht gestatten, man sei ja für ihre Fürsorge zuständig und sie bräuchte Schlaf.

Ich war so perplex, dass mir gar nichts einfiel, aber Cathleen hatte die passenden Worte: „Das würden wir dann doch gerne mit ihr persönlich besprechen. Wir sind mit ihr verabredet, wären Sie so freundlich, uns anzumelden?“ – „Ihr kommt da ja gar nicht rein, ich müsste sie runterholen, und dazu habe ich jetzt leider keine Zeit.“ Sagte sie und verschwand, ließ uns da vor der Tür dumm stehen. So eine blöde Krähe. Cathleen rief bei unserem Vereins-Chef an, fragte nach der Handynummer von Susanne, die wir beide nicht hatten. Als wir Susanne endlich am Telefon hatten, meinte sie, sie würde Bescheid sagen und käme gleich runter. Sie habe schon alles gepackt, bräuchte aber Hilfe von der Betreuerin.

Nach 15 Minuten öffenete die Betreuerin erneut die Tür. Stand in der Tür und schaute mit verschränkten Armen auf die Treppe im Haus. Susanne kam zu Fuß, beide Hände am Geländer, Stufe für Stufe langsam hinunter geklettert. Wie halt ein zünftiger Spasti Treppen läuft. Total verspannt, total konzentriert und jede Sekunde kurz vor dem Absturz. Als sie endlich unten war, gab ihr die Betreuerin beide Hände und ging rückwärts vor ihr her durch den Tagesraum, in dem einige Leute vor dem Fernseher saßen, Susanne an beiden Händen wackelte hinter ihr her, aus unserem Sichtfeld. Plötzlich ging 15 Meter weiter eine weitere Haustür auf und Susanne kam im Rolli zu uns gerollt. Wenigstens einen vernünftigen Stuhl, den Helium, den gleichen, den ich auch habe, hatte sie.

Die Betreuerin kam mit einem Becher Tee in der Hand nach draußen und wollte wissen, wie wir nun sinnvoll vorgehen wollten. Ich fragte: „Wo ist denn das Problem?“ und wurde gleich angepflaumt: „Ich rede mit Susanne.“ Das habe seinen Sinn, Susanne lebe hier in der Einrichtung. Aha. Am liebsten hätte ich sie gefragt, ob sie ihr Vormund ist, weil so benehme sie sich gerade, habe mir es dann aber im Interesse von Susanne verkniffen. Am Ende haben wir ihr angeboten, dass sie bei uns schlafen kann. Woraufhin die dumme Krähe doch Susanne tatsächlich nochmal zu Fuß nach oben geschickt hat, um Nachtsachen zu holen. Mein Angebot, sie könne auch von mir ein T-Shirt bekommen, lehnte die Betreuerin ab. Es habe hier alles seine Konsequenz.

In den 15 Minuten, die Susanne in ihr Zimmer und wieder zurück brauchte, wurden wir gewarnt, ob wir denn wirklich Susanne bei uns schlafen lassen wollen. „Warum sollten wir das ablehnen?“ fragte ich. Susanne sei sehr unsauber. Ich schluckte. Unser Vereins-Chef sagte, sie sei nur körperlich eingeschränkt. Warum sollte sie unsauber sein? Sie hat fast hüftlanges, braunes, krauses Haar, saubere Fingernägel, strahlende Zähne, super gepflegte Gesichtshaut … ich konnte eigentlich nur Anhaltspunkte finden, die das Gegenteil beweisen könnten. „Was meinen Sie mit unsauber?“ – „Untenrum. Schickt sie duschen, wenn sie stinkt und passt auf eure Matratzen auf“, sagte die Betreuerin. In mir kam so eine Wut hoch, dass ich am liebsten auf sie losgegangen wäre. Stattdessen drehte ich mich in die Sonne, machte die Augen zu und sagte: „Machen wir. Kriegen wir hin.“

Das war nicht der einzige Brüller. Wie wir später von Susanne erfuhren, haben ihre Eltern, beide Ärzte, sie in die Einrichtung „abgeschoben“, weil sie der Überzeugung seien, Susanne käme anders nicht zurecht. Die Eltern setzen sie unter Druck, erzeugen Angst, damit, dass sie Susanne fallen lassen, wenn sie sich gegen die Einrichtung wehrt. Und Susanne fehlen natürlich die Erfahrungen, ob sie außerhalb einer solchen Einrichtung, wo sie seit ihrem 12. Lebensjahr lebt, zurecht kommen würde. Obwohl sie nicht dumm ist – ihren Realschulabschluss hat sie. Aber dort auszubrechen und einen eigenen Weg zu beginnen, ohne Unterstützung von außen … Hand hoch, wer sich das trauen würde. Look, no hands.

Wir erfuhren auch, dass sie ihr Zimmer im 2. Stock hat und es keinen Aufzug gibt. Ein bißchen Spaß muss sein … nein, der offizielle Grund sei, dass sie Bewegung brauche. Und das Treppen klettern sei Bewegung. Ebenso wie der Rolli auch auf der anderen Seite des Gruppenraumes steht. Damit sie einmal quer durch den Gruppenraum laufen muss. Entschuldigung, aber ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte. Nein, ich habe noch kein Kind groß gezogen und ich habe auch keine sozialpädagogische Ausbildung. Aber ich bilde mir ein, zu Susanne einen Zugang zu finden, der es mir ermöglicht, sie anders zum Laufen (oder zur Bewegung) zu bringen als durch Zwang. Als durch den Druck, solange vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu sein bis man sein Bewegungspensum erfüllt hat. Widerlich. Diskriminierend. Menschenverachtend. Susanne ist volljährig. Selbst wenn sie sich vollfressen und überhaupt nicht mehr bewegen würde, wäre das ihre Entscheidung. Sie sucht sich aber gerade aus eigenem Antrieb eine Ausdauersportart, die sie mit ihrer Behinderung machen kann. Wie passt das denn bitte zusammen?

Ich möchte das mal zusammenfassen: Sie hat sich wunderbar in die Gruppe integriert. Wer es nicht wusste, wäre nicht auf die Idee gekommen, dass sie in so einer Einrichtung zwischen lauter Menschen mit geistiger Behinderung wohnt. Sie war bei uns in der WG völlig normal. Hat mit uns gegessen, hat erzählt, viel gelacht, hat mir uns ferngesehen, hat beim Training völlig unspektakulär und ohne irgendwelche Probleme mitgemacht. Wir schlafen ja immer nach dem Training zu Hause ein paar Stunden, sie hat auf einem aufblasbaren Gästebett in meinem Zimmer gepennt, wir waren vorher duschen, Zähne putzen, ich wüsste wirklich nicht, was da unsauber gewesen sein sollte, wie die Betreuerin behauptet hatte.

Selbst dieses „passt auf eure Matratzen auf“ war völlig daneben. Nach dem Zähneputzen sagte sie: „Ich werde mir für die Nacht eine Windel anziehen. Nur zur Sicherheit, manchmal verkrampft sich meine Blase. Ich hoffe, das ist okay für dich.“ Hätte sie nichts gesagt, hätte ich das vermutlich nicht mal gemerkt. Ich sagte ihr, dass ich das genauso mache, wenn ich mit anderen Leuten im selben Bett oder im selben Zimmer schlafe. Daraufhin erfuhr ich von ihr, dass sie in der Einrichtung keine Pampers haben dürfe. Sie würden sie dazu verleiten, nicht auf die Toilette zu gehen. Es hätte mich auch gewundert, passt ja super ins Konzept (?!), ist dieselbe Masche wie die Sache mit dem Rolli, der extra weit weg stellt, damit die Muskeln trainiert werden. Aber auch hier bin ich überzeugt: Man bekommt es auch anders hin. Auch ohne Druck. Und ohne Angst. Oder bin ich solche große Ausnahme?!

Manchmal zweifel ich an mir. Warum bin ich / sind meine Freunde aus der WG, vom Sport etc. diejenigen, die ständig über solche Dinge stolpern? Warum gibt es so viele Behörden, Heimaufsichten, Angehörige, keine Ahnung mehr, die das scheinbar alles normal finden? Die darauf vertrauen, dass schon alles richtig sein wird? Oder trauen die sich nicht, mal die Klappe aufzumachen? Oder resignieren die bereits alle? Oder sind sie zu bequem? Bin ich irgendwann auch so? Bin ich in einer Lebensphase, in der man glaubt, man müsste so vieles verändern?

Eine aufregende Woche

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Mir geht es gut. Nein, wirklich. Ich bin selbst erstaunt. Ob es von den ersten Sonnenstrahlen kommt, die Glückshormone freisetzen? Oder vom Sex, der gleiches tut? Oder ob es an den vielen Neuigkeiten und Perspektiven liegt, die meine letzte Woche prall gefüllt haben?

Ich weiß gar nicht, wovon ich zuerst und wovon ich zuletzt schreiben soll. Ich habe auch keine Ahnung, ob sich das jemand antun will, aber ich kündige schon jetzt an: Trotz aller Bemühungen wird es eine lange Kurzfassung. Es war eine Woche, die so bewegt war, dass ich nicht dazu gekommen bin, Tagebuch (Blog) zu schreiben.

Am letzten Wochenende fand endlich mal wieder ein Straßentraining statt. Leider bei keinem tollen Wetter, es fing zwischenzeitlich zu nieseln an. Marie hat zum ersten Mal auf der Straße mittrainiert und es hat ihr sehr gut gefallen. Sie passt prima in unsere Gruppe.

Am letzten Wochenende war auch Pauline dabei. Pauline ist knapp 16 Jahre alt und wohnt in der Straße, in der unser nächtliches Training beginnt und endet. Unser Straßentraining findet ja seit einiger Zeit auf den Elbdeichen statt, im Rahmen einer Sondernutzungserlaubnis teilen wir uns nachts etwa zehn Kilometer Deichstraße mit etlichen Rennradlern. Für den Durchgangsverkehr ist die Straße in dieser Zeit gesperrt.

Pauline saß auch schon die letzten Wochenenden auf einem Verteilerkasten am Straßenrand gegenüber unserer Trainingsbasis und guckte. Sagte kein Wort, sondern beobachtete nur. Über Stunden. Kurz nachdem wir beginnen, kommt sie aus dem Haus, setzt sich auf den Stromkasten (oder Telefonkasten, keine Ahnung, was da verteilt wird), guckt uns ein paar Stunden zu und verschwindet wieder. Keine Eltern in Sicht, es ist arschkalt (wenn man nur da sitzt), sie sagt nichts, sie macht nichts, sie guckt nur.

Vor einer Woche haben wir sie angesprochen. Ergebnis: Sie bewundert uns. Sie bewundert mich. Sie sei verliebt in mich. Sie schwärme für mich. Sie möchte so sein wie ich. Auf meine ziemlich perplexe Frage (immerhin kommt es nicht alle Tage vor, dass jemand mir so etwas sagt, geschweige denn sich dazu überwindet, so etwas zu sagen), was sie denn so toll an mir finde, antwortete sie: Einfach alles. Sie wünsche sich, mit mir tauschen zu können. Aber das ginge ja nicht. Sie träume jeden Abend vor dem Einschlafen davon, so zu sein wie ich.

Ich fragte sie, ob sie sich vorstellen könnte, wie ein Leben mit einer Querschnittlähmung ist. Nein, sagte sie, das könne sie nicht, aber sie bewundere mich und möchte gerne so sein wie ich. Sie fing an, mich Dinge aus meinem Leben zu fragen. Ob ich zu Hause wohne, ob ich noch zur Schule gehe – und ob ich viele Freunde hätte, die im Rollstuhl sitzen. Sie würde auch gerne Rollstuhlfahren lernen.

Ich hielt sie für ziemlich „Psycho“ und fragte sie, was sie am Rollstuhlfahren so erstrebenswert fände. Immerhin kenne ich viele Rollifahrer, die gerne laufen können würden. Sie antwortete, dass ich sie falsch verstanden hätte: Sie sei nicht vom Rollifahren fasziniert, sondern von mir, wie ich Rollstuhl fahre. Dass ich den so gut beherrsche und dass es so wirke, als hätte ich ihn akzeptiert. Das sei bei ihr nicht so – ihr Rollstuhl sei Scheiße und fahren könne sie damit auch nicht. Er sei ganz billig und eigentlich für alte Omas.

Das Gespräch wurde immer verrückter. Sie war eindeutig zu Fuß da und ihr Gangbild deutete nicht im geringsten darauf hin, dass sie irgendeine Einschränkung haben könnte. Im Gegenteil, sie lief, sprang an diesem Stromkasten hoch – völlig unauffällig. Sie sagte, sie habe einen Rollstuhl, weil sie an einigen Tagen nicht laufen könne. Teilweise nicht mal zehn Meter. Lange Strecken sowieso nicht. Die Ärzte finden keinen Grund, die eigenen Eltern halten sie für eine Spinnerin und sie stehe mit ihrem Problem völlig alleine dar.

Woher sie den Rollstuhl denn hätte, wollte ich wissen. Der normale Weg wäre eine Verordnung vom Arzt gewesen – und dann eine Versorgung über ein Sanitätshaus zu Lasten der Krankenkasse. Sie habe ihn selbst gekauft, deswegen sei er auch nur einfach. Und die Eltern wüssten auch nichts von seiner Existenz. Der Kinderarzt habe ihr keinen verschreiben wollen, der meinte, dann würde sie nur noch dadrin sitzen. Auf die Frage, wo der Rolli denn jetzt stehe, meinte sie, dass er bei einem Nachbarn in einer Scheune untergestellt sei. Fragt sich, wie sie dorthin kommt, wenn sie an einigen Tagen nur zehn Meter laufen kann. Wir haben uns verabredet, dass sie den Stuhl nächstes Mal mitbringt und wir mal schauen, ob man den noch besser einstellen kann… Mal sehen, wie die Märchenstunde weitergeht.

A propos „Psycho“: Heute (ich weiß, Chronologie geht anders) saß ich in der S-Bahn, als an der Station „Reeperbahn“ ein Typ einstieg, mit Glatze, Ohrringen, Perlenkette, Stöckelschuhen, Rock und durch die Bluse schimmerte ein BH. Knie frei, stark geschminkt und gepudert – solche Leute trifft man in dem Bereich öfter. Hin und wieder sind sie ein Hingucker, manchmal, weil sie tatsächlich hübsch aussehen, manchmal, weil sie tatsächlich schrecklich aussehen. Der heutige Frau war unspektakulär, setzte sich auf einen Platz und las ein Reclamheft. Mir gegenüber knutschten zwei Typen, Mitte 40, intensivst, eine Sitzgruppe weiter redete jemand laut mit sich selbst und noch ein Stück weiter leckte jemand die Fensterscheibe ab. Als dann, eine Station später, an der Königstraße, noch drei Leute reinkamen, einer mit Gitarre, zwei farbige Frauen in Baströcken dazu, zusammen rockten sie lautstark die Bahn und tanzten, fühlte sich ein Typ genötigt, laut loszubrüllen: „Nur Asoziale hier! Nur Beknackte, Psychotiker und jede Menge Schwuchteln.“ – „Und Behinderte“, fügte ich hinzu und hob demonstrativ meinen Zeigefinger hoch. Der Typ konnte es nicht hören, die beiden homosexuellen Männer grinsten, eine ältere Frau schaute mich vorwurfsvoll an. Großstadt.

Vor knapp zwei Wochen schrieb ich über einen Mann, der keine Erlaubnis bekam, eine ausreichend große Wohnung anzumieten. Das Thema hat sich inzwischen erledigt: Nachdem der Leiter jener Abteilung, die dem Mann diese Berechtigung verwehrt hatte, darüber zu entscheiden hatte, ob die Verfahrensakte zur Einsichtnahme zum Anwalt geschickt werden kann, stellte die Sachbearbeiterin dem Mann den richtigen Berechtigungsschein aus. Damit habe sich die Sache ja nun erledigt…

A propos „erledigen“: Bei meinem „Schulproblem“ hat sich nach wie vor nichts erledigt. Zwei der drei Unruhestifter sind nicht mehr suspendiert, eine endgültige Entscheidung, wie es weiter geht, gibt es trotzdem nicht. Zumindest nicht, was die Konsequenzen für die Plagegeister angeht. Für mich bedeutet das: Es geht (fast) so weiter wie vor der Suspendierung, denn dieser halbherzige Versuch, die Streithähne in die Schranken zu weisen, hat sie offenbar nur in der Ansicht bestärkt, man könne ihnen nicht ans Leder. Die Direktorin ist mir ein paar Mal über den Weg gelaufen, sie grüßt nicht mehr, es scheint mir, als wenn sie mich mutwillig übersieht, vielleicht verdrängt sie mich auch einfach nur aus ihren Gedanken, vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein und sie hat mich einfach nur ein Dutzend Mal nicht gesehen.

Es soll ja bei Beamten die inoffizielle Möglichkeit des „Weglobens“ geben, meistens in aufwärtige Richtung. Damit ist gemeint, dass man einen Beamten, der auf seiner Stelle mehr Scheiße baut als sinnvolles zu leisten, in eine andere (höhere) Position befördert, wo er weniger Unheil anrichten kann – Beamten kann man schließlich schlecht kündigen. Nicht, dass ich nun Gerüchte in die Welt setzen will, dass man meine Direktorin wegloben will – bewahre! Sondern ich komme mir im Moment so vor, als wolle man mich „wegloben“. Ich weiß natürlich, dass das nicht so ist, sondern kann noch gar nicht fassen, was da gerade passiert, welche Mühe sich einige Leute mit mir geben und welche vermutlich einzigartige Chance man mir gerade eröffnet. Ich suche nach Erklärungen – die absurdeste, die des Weglobens, ist noch nicht absurd genug.

Am letzten Dienstag rief mich meine Hausärztin, die Mutter von Marie, nachmittags an. Sie, meine Hausärztin, habe auf Erzählungen von Marie über meinen Schulstress in meinem Blog geblättert. Sie konnte nicht glauben, was Marie ihr erzählt hat. Sie sagte, das alles sei ja unerträglich. Sie wusste zwar aus meinen knappen Erzählungen, dass da nicht alles rund laufe, aber so schlimm habe sie es sich nicht vorgestellt. Meine Texte (in denen es ja auch hin und wieder mal um meine Schulnoten ging) haben ihr aber insgesamt sehr gut gefallen und sie erlebe mich ja auch schon einige Zeit, insofern würde sie mir gerne helfen – ob ich damit einverstanden sei.

Sicherlich bin ich damit einverstanden, nur was kann sie schon tun? Schließlich haben sich ja schon einige Leute vergeblich daran versucht. Sie fragte mich, was ich nach meinem Abi tun möchte. „Studieren“, antwortete ich. – „Was denn?“ – „Genau weiß ich es noch nicht, aber vermutlich Psychologie. Oder irgendwas anderes Soziales, bei dem man mit Menschen zu tun hat.“ – „Medizin?“ – „Dafür ist mein NC zu schlecht.“ – „Scheitert es nur am NC? Oder anders gefragt: Was wäre, wenn im nächsten Jahr der NC so läge, dass es möglich wäre?“

„Ich habe mir darüber noch nie Gedanken gemacht, weil ich keinen NC von 1.1 hinbekomme und sich diese Tür mir sowieso nie öffnen wird. Außerdem weiß ich nicht, ob ich das packen würde, da ich ja nur begrenzt belastbar bin und das Studium ja sehr anspruchsvoll ist. Und ob ich das alles verstehe, gerade in Chemie, weiß ich auch nicht.“ – „Naja, die Belastbarkeit ließe sich ja durch eine längere Studienzeit ausgleichen. Und was den Intellekt angeht, hätte ich überhaupt keine Zweifel. Die entscheidende Frage wäre aus meiner Sicht, ob das inhaltlich das richtige wäre.“

„Und ob ich das letzte Jahr an meiner Schule überstehe“, sagte ich. Maries Mutter ließ nicht locker: „Sie denken mir zu praktisch. Hätten Sie theoretisch Interesse, wenn Ihnen morgen jemand einen Studienplatz anbieten würde?“ – „Ich glaube schon. Aber warum ist das so wichtig?“ – „Marie fängt nächsten Winter an, Medizin in Hamburg zu studieren. Sie hat ein entsprechendes Abi geschafft. Und nun sucht sie noch jemanden, der sie begleiten möchte. Ich habe da spontan an Sie gedacht. Ich glaube, das wäre etwas für Sie.“

„Ich bin doch erst 2012 mit dem Abi fertig. Frühestens. Und ich habe keinen entsprechenden NC.“, antwortete ich. Was sollte das?! Schnallte sie das nicht oder wollte sie mich provozieren? Ich wurde langsam sauer, weil ich mich nicht verstanden und nicht ernst genommen fühlte – und das kann ich nicht leiden. Sie sagte: „Ich weiß, es klingt bescheuert, aber vielleicht schlafen Sie einmal drüber und sagen mir morgen früh, ob das was für Sie wäre, ob Sie sich grundsätzlich vorstellen könnten, Medizin zu studieren, wenn Sie sich über NC und Abi und arschige Mitschüler keine Gedanken machen müssten. Ob das Ihr Studiengang sein könnte. Überlegen Sie sich das ernsthaft und rufen mich bitte bis morgen Mittag an. Ich meine das wirklich ernst!“

„Und dann?“ – „Dann rufen Sie mich wieder an. Bitte nicht vergessen! Tschüss!“ – Zuerst war ich sauer, spielte sogar schon mit dem Gedanken, Marie anzurufen und sie zu fragen, was das sollte, entschied mich dann aber zum Glück dagegen und redete mich allen möglichen Leuten. Alle möglichen Leute hatten alle möglichen Bedenken. Meine körperliche Behinderung, wenn ich da mal jemanden hochheben müsste, oder reanimieren müsste, das ginge doch gar nicht. Ich würde schon im Pflegepraktikum scheitern, das dem Studium vorausgeht. Andererseits gibt es einige wenige Ärzte im Rollstuhl – die müssen es ja irgendwie auch geschafft haben.

Als ich sie am Mittwoch anrief und ihr erzählte, dass ich mir das vorstellen könnte, mehr aus der Neugier heraus, was wohl passieren würde, als aus der Überzeugung, dass da wirklich etwas passieren könnte, antwortete sie, dass ich am Abend einen Termin hätte mit Marie – den sollte ich unbedingt wahrnehmen und alles andere absagen. Es sei meine Chance, ohne NC einen Studienplatz für Medizin zu bekommen. Wenn ich möchte.

Bis dahin habe ich das ganze für albern gehalten, aber als mir in dem Moment klar wurde, dass das wirklich ernst gemeint war (ohne zu wissen, wie das klappen sollte), zweifelte ich doch, ob ich mich richtig entschieden hatte. Mehr aus dieser Eigendymamik heraus fuhr ich abends mit Marie in den Hamburger Westen in ein Krankenhaus und sollte mich bei einer Sekretärin melden. Es dauerte endlos, bis wir die richtige Zimmertür gefunden hatten. Dann standen wir in einem Raum mit einer Dachschräge, ein ziemlich großer, dünner Mann mit blondem, ungeordneten Haar, sehr dezenter Brille, Dreitagebart, großen Händen, schätzungsweise Anfang 40 (später erfuhren wir dann, dass er über 60 war) stand an einem offenen Dachfenster und rauchte. Das Zimmer war grell erleuchtet, überall standen und lagen Bücher herum, prall gefüllte Regale standen an jeder Wand.

Als wir reinrollten, drückte er seine Zigarette in einem Aschenbecher aus und schloss das Fenster. Bevor er uns die Hand gab, ging er zu seinem Schreibtisch, wackelte mit der Maus, um den Bildschirmschoner auszuschalten, und drehte seinen Monitor. „Aus dem Leben einer Stinkesocke“ – mein Blog war auf dem Bildschirm zu sehen.

„Hätte ich das gewusst, hätte ich einige Beiträge ausgeblendet“, sagte ich. Er antwortete: „Gut, dass Sie das nicht gewusst haben. Schauen Sie mal hier. Daran forsche ich gerade. Die Genetik der einzelnen Bakterien im Darm. Sie sind bei jedem Menschen verschieden. Außer bei Zwillingen. Die haben dieselben. Auch, wenn sie seit 50 Jahren nicht mehr zusammen wohnen, sich völlig unterschiedlich ernähren, der eine nimmt ständig Antibiotika, der andere schwört auf Naturheilkunde – die haben trotzdem die gleichen Darmbakterien. Der eine Zwilling hat ein Reizdarmsyndrom, der andere nicht. Woran liegt es?“

„Am Antibiotikum?“ – Der Mann lachte. „Nein. Das kann auch denjenigen Zwilling treffen, der kein Antibiotikum genommen hat.“ – „Keine Ahnung. An der Psyche? An der Ernährung?“ – „Die erste Antwort war richtig.“ – „Die Psyche.“ – „Nein, die erste. ‚Psyche‘ war die zweite.“ – „Keine Ahnung?“ – „Genau. Keine Ahnung. Wir wissen es nicht. Fragen Sie einen Mediziner nach der Ursache des Reizdarmsyndroms und sie bekommen allenfalls eine Bankrott-Erklärung. Die Darmflora ist so gut wie nicht erforscht. Wir wissen, dass in ihm zwischen drei und zwanzig Pfund Bakterien leben, 10% von ihnen haben schon einen Namen. Ende.“

„Warum hat das noch nie jemand erforscht?“, fragte ich. Er antwortete: „Was denken Sie?“ – „Hm, es scheitert schon daran, an alle Bakterien ranzukommen?“ – „Richtig, warum?“ – „Der Darm ist zu lang, um mit irgendwelchen Instrumenten…“ – „Falsch. Im Zweifel nimmt man bei einer Operation oder Sektion irgendwelche Proben. Das ist nicht der Grund.“ – „Hm, vielleicht herrscht da drin so eine einzigartiges Milieu, dass sie tot sind, bevor sie unter dem Mikroskop liegen?“ – „Genau richtig. Erst mit Hilfe der DNA-Untersuchung, die erst seit einigen Jahren möglich ist, hat man festgestellt, was da so alles unterschiedliches lebt. Bei der DNA-Untersuchung ist es egal, ob das Bakterium tot ist oder lebendig. Ein Mediziner in den USA hat sich die Mühe gemacht und die DNA aller Bakterien im Darm eines Menschen entschlüsselt. Und dabei mal eben schnell einige Tausend neue Bakterien gefunden. In einem Menschen. Und im zweiten nochmal. Da ist unheimliches Forschungspotential.“

Er nannte die Chaoten auf meiner Schule „Hallodris“ und wollte von mir hören, warum einige Querschnittgelähmte einen sehr hohen Blasendruck haben und andere nicht. Ich erklärte ihm das. Steht ja auch in meinem Blog. Er wollte dann wissen, wieso Querschnittgelähmte keine Reflexe hätten. Erklärte ich ihm auch. Dann fragte er: „Haben Sie eine Querschnittlähmung?“ – Ich nickte. – „Komplett?“ – Ich nickte nochmal. – „Wetten, dass ich bei Ihnen doch einen Reflex auslöse?“

„Wenn Sie so fragen, gibt es bestimmt einen“, antwortete ich, „den man auslösen kann. Mit List und Tücke.“ – „Ich wette, Sie können mit ihrem großen Zeh wackeln“, sagte er. Ach den. Kannte ich schon. „Babinski lässt grüßen?“ – „Sie haben ein großes medizinisches Interesse, oder?“ – „Es betrifft mich halt. Wenn Sie mich jetzt was über Herzinfarkte fragen würden, müsste ich passen.“ – „Warum wollen Sie Medizin studieren? Weil ein Studium besser wäre als sich weiter zu den Hallodris in die Schule zu setzen? Also die Frage wäre ja, ob nicht derzeit alles besser wäre als diese Hallodris.“

„Ich weiß es nicht. Es würde mich interessieren und ich könnte es mir vorstellen. Ich habe keine fernen Ziele, die ich erreichen will. Ich will keine Darmbakterien entdecken und auch nicht die Welt retten. Vielleicht tue ich das eines Tages mal, nichts ist unmöglich, aber ferne Ziele habe ich derzeit nicht. Als nahes Ziel möchte ich mein Abi schaffen, um studieren zu können und dazu so schnell wie möglich raus aus dieser Chaos-Schule.“

„Ich hätte einen Studienplatz für Sie. Zum 1. Februar 2012. Zusammen mit Marie. Könnten Sie einsteigen. Wenn Sie wollen und sich gut vorbereiten. Wollen Sie?“, fragte er mich. – „Ich bekomme mein Abi frühestens im Mai 2012 und habe keinen Einser-NC.“ – „Wollen Sie?“ – „Ja, aber…“ – „Dann sage ich Ihnen jetzt, wie Sie das machen können.“ – Ich nickte und hörte aufmerksam zu. – „Sie melden sich jetzt zum Test. Es gibt eine Art Einstellungstest, der ist eigentlich im letzten Monat gelaufen, aber es gibt noch einen Nachholtermin im Mai. Bis dahin büffeln Sie, entsprechende Lektüre bekommen Sie von mir mit.“

„Okay!?“, sagte ich. – „Wenn Sie den Test bestehen – daran habe ich keine Zweifel, wenn Sie fleißig üben – haben Sie im Februar 2012 einen Studienplatz. Ab Juni haben Sie Sommerferien und Ihre Fachhochschulreife. Machen Sie die so gut wie irgend möglich. Reden Sie mit den Lehrern, dass Sie jetzt abgehen und gute Noten brauchen. Schreiben Sie Hausarbeiten und Referate, machen Sie alles mit, was Ihre Noten verbessert. Wenn Sie den Test bestanden haben, steigen Sie im Sommer aus und machen alle vorbereitenden Dinge, die Sie für das Studium brauchen. Pflegedienst, Ersthelferkurs, Anmeldeprozedur, Vorgespräche. Ab Februar 2012 studieren Sie. Wenn Sie das nicht packen, steigen Sie ab August 2012 wieder in die Schule ein und hängen Ihr letztes halbes Jahr bis zum Abi dran. Man darf ein Jahr aussetzen. Wenn Sie das mit dem Studium aber packen, haben Sie im Februar 2013 (also nach einem Jahr) eine offizielle Hochschul-Zugangsberechtigung, die in ganz Deutschland gilt. Für alle Studiengänge, für alle Unis. Die ist wie das Abi. Wenn Sie in der Medizin bleiben, werden Ihnen sogar alle Scheine angerechnet, die Sie seit Februar 2012 schon gemacht haben.“

„Aber normalerweise darf man doch nicht ohne Abi an eine Hochschule, oder?“ – „Nein. Aber das Abi ist nicht der einzige Zugangsweg. Man kann auch anders eine Berechtigung zum Hochschulstudium bekommen. Zum Beispiel durch eine abgeschlossene Berufsausbildung und einige Jahre Berufserfahrung. Da gibt es einige Möglichkeiten. Man muss nachweisen, dass man die Reife hat, ein Hochschulstudium zu absolvieren. Der Nachweis gilt auch als erbracht, wenn man den Eingangstest schafft und ein Jahr lang erfolgreich studiert – und (zum Beispiel) eine Empfehlung eines Hochschullehrers hat.“ – „Habe ich denn so eine Empfehlung?“ – „Ja. Ich habe ja nun viel von Ihnen gelesen, ich habe Sie persönlich kennen gelernt, Ihre Noten sind überdurchschnittlich – ich habe keine Zweifel, dass Sie bereits heute mindestens dieselbe Reife besitzen wie eine Abiturientin. Daher würden Sie von mir eine Empfehlung bekommen.“

„Und der NC?“ – „Der ist geschenkt, weil Sie direkt einsteigen. Sie bewerben sich nicht zentral, sondern direkt mit der Empfehlung. Dann könnten Sie theoretisch auch mit dreikommafünfer Durchschnitt sein. Aber nur theoretisch – praktisch würde man zweifeln, ob Sie dann den Einstellungstest bestehen.“

Ist das genial oder genial? Ich weiß das noch gar nicht richtig einzuordnen in meinem Kopf. Und auch ein Trainingslager in Niedersachsen, von dem ich heute erst zurück gekommen bin, hat mir nicht den Kopf freigepustet. Lediglich einen klitzekleinen Sonnenbrand habe ich da bekommen.