Hättest du doch bloß

Ist schon doof. Ich weiß. Ich möchte öfter schreiben, aber ich bin im Moment so eingespannt – Wahnsinn. Das wird auch noch mindestens einen Monat so weitergehen. Ich bin noch immer mit meinem Pflicht-Pflege-Praktikum beschäftigt. Inzwischen habe ich einen weiteren Monat rum und darf noch ein weiteres Mal wechseln. Offiziell, weil ich gerne einmal bei jemandem Blutdruck gemessen haben möchte, bevor ich mein Studium anfange, inoffiziell, weil es mir in der Psychiatrie zu krass ist.

Nein, nein, ich habe weder meine Haare abgeschnitten noch beiße ich meine Fingernägel kurz oder entwickle irgendwelche Ticks, aber meine Freundinnen und Freunde empfehlen mir bereits nachdrücklich, lieber heute als morgen dort rauszukommen. „Das tut dir nicht gut“, habe ich inzwischen mehrmals gehört. Ein einschneidender und mich völlig überfordernder Hammertag war in der letzten Woche.

Man muss dazu wissen, dass es sich bei den vier Stationen, auf denen ich im Wechsel arbeite, um offene Stationen der Kinder- und Jugendpsychiatrie handelt. Offen heißt: Die Kinder und Jugendlichen dürfen zu den normalen Tageszeiten das Gebäude verlassen, so oft und so lange sie wollen, sie müssen sich nur ab- und wieder anmelden. Therapie- und Gruppentermine müssen sie zwar einhalten, aber insgesamt erinnert auch der Aufbau der Stationen eher an eine betreute WG als an ein Krankenhaus. Suchtprobleme, Psychosen, überhaupt Erkrankungen, für die es mehr als Psychotherapie braucht, werden auf diesen Stationen nicht behandelt. Die meisten Patienten haben Essstörungen, Angststörungen, somatoforme Störungen, Belastungsreaktionen, Probleme im Elternhaus, Schulprobleme, … wobei man das nicht unterschätzen darf. Da geht es teilweise schon richtig heftig zur Sache.

Das Gebäude ist barrierefrei, es gibt sogar eine Rollstuhlfahrerin mit Spina bifida auf einer Station. Allerdings hat man bei der Planung des Gebäudes nicht damit gerechnet, dass auch mal Mitarbeiter im Rollstuhl sitzen könnten. Da ich nicht unbedingt auf die (Kinder-) Patiententoiletten gehen möchte, muss ich zum Pinkeln in den Keller fahren. Dort gibt es eine barrierefreie Toilette für Mitarbeiter. Eigentlich ist das WC direkt unter einer Station, auf der ich arbeite, aber der einzige barrierefreie Weg dorthin führt durch den Verwaltungstrakt, wo ein Aufzug in den Keller fährt, durch mehrere Türen, die nach Feierabend der Bürodamen natürlich verschlossen sind. Aber ich habe einen Schlüssel bekommen und muss nun jedes Mal, wenn ich zum Klo muss, vier Türen vor mir auf- und hinter mir zuschließen, die Klotür nicht mitgezählt. Es gibt schlimmeres – das alles ist so gut planbar, dass ich, wie auch zu Hause, immer so rechtzeitig zum Klo komme, dass ich während der Arbeitszeit keine Windeln brauche. Hat den Vorteil, dass ich die gestellte Kleidung anziehen kann und mir keine Gedanken darum machen muss, was denn da möglicherweise am Rücken aus der Hose schaut und mit Sicherheit zur allgemeinen Belustigung der teilweise ohnehin schon unausstehlichen Patienten beitragen würde.

Letzte Woche, es war der Hammertag, war es kurz vor dem gemeinsamen Abendessen. Ich machte mich auf den Weg zum Klo, rolle im Keller aus dem Aufzug und habe mir, da ich den Weg inzwischen kenne, abgewöhnt, extra die Festbeleuchtung einzuschalten. Die Notbeleuchtung reicht mir zur Orientierung. Ich rolle durch die Flure und bin kurz vor dem Klo, nehme die letzte Ecke und kann gerade noch verhindern, dass ich über etwas falle, was dort an der Erde liegt. Drei Gedanken schossen mir bei Anblick des Umrisses durch den Kopf: 1. Da liegt jemand, 2. da hat sich jemand hingelegt und will dich erschrecken, 3. da hat jemand eine Puppe hingelegt und verarscht dich. Dass mein Herz augenblicklich bis in den Hals klopfte und ich zittrig wurde, muss ich, glaube ich, nicht erwähnen. Ich drehte mich um, rollte zum Lichtschalter.

Ein Mädel von der Station, auf der ich mittwochs bin, lag dort, hatte sich wohl an die Wand gelehnt und war bis auf die Erde runtergerutscht. Die Augen geschlossen, das Shirt halb vollgekotzt, Kopf abgeknickt und Kinn auf der Brust, sah aus als hätte sie sich bis zur Bewusstlosigkeit besoffen. Ich sprach sie an, rüttelte fest an ihrer Schulter, bekam aber keine Reaktion. Immerhin atmete sie, wenn auch recht flach. Ich ließ mich aus dem Stuhl auf die Erde fallen, schnappte sie am Hemdkragen, zog sie von der Wand weg, legte ihren Kopf auf die Erde und drehte sie auf die Seite. Und damit es richtig eklig wird: In dem Moment lief mir mindestens ein halber Liter Kotze entgegen. Es roch nicht säuerlich, sondern süßlich und war alles andere als lecker. Ich bekam sie in die stabile Seitenlage und ihr Gesicht aus der Kotze, dann wollte ich mit dem Handy auf der Station anrufen, nur leider war kein Empfang. Der Notrufversuch mit dem Handy scheiterte ebenfalls am fehlenden Empfang.

Als nächstes pinkelte ich mir erstmal in die Hose. War ja schließlich noch nicht genug Sauerei auf dem Fußboden. Meine gelähmte Blase war in dem Moment allerdings das kleinste Problem. Ich musste dringend Hilfe holen. Brüllen half nichts, obwohl ich direkt am Treppenaufgang zur Station war, hörte mich niemand. Ich wollte nicht minutenlang durch den Verwaltungstrakt zurückfahren und das Mädel so lange alleine lassen. Im Rolli-WC war ein Notruf installiert, das sollte doch erheblich schneller gehen. Ich krabbelte wieder in meinen Rolli, düste um die nächste Ecke und glaubte fast an ein Déjà-vu, nur dass diesmal das Licht schon leuchtete: Dort lag die nächste Patientin. Zwischen etlichen Tablettenpackungen, einer blutigen Schere, Wodka, Kotze, Blut, halbnackt. Lag auf dem Rücken, hatte die Augen weit offen, sagte auch keinen Piep. Und atmete, soweit ich es auf die Schnelle aus dem Rolli heraus feststellen konnte, nicht. Wie ich später erfuhr, hatten sich die beiden überlegt, zusammen Schluss zu machen.

Ich ließ sie liegen, wollte erstmal zum Klo, zum Notruf. Natürlich fiel mir in der Aufregung dann noch zweimal der Schlüssel aus der zitternden Hand und als ich endlich drin war, war dort nur eine Strippe, die aber hochgebunden war. Diese Unsitte der Putzleute hasse ich wie die Pest!!! Man konnte den Notruf über eine Taste neben der Tür ausschalten, aber nicht auslösen. Das ging nur über die Strippe neben dem Klo und die war in ungefähr 180 Zentimeter Höhe über einem Mülleimer. Ich überlegte, ob es sinnvoller wäre, erst Hilfe zu holen (das würde immerhin mindestens 4 bis 5 Minuten dauern) oder erstmal die zweite Patientin zu beatmen. Wie ich mich entscheiden würde, es war auf jeden Fall falsch. Ich entschied mich, Hilfe zu holen, denn ich wusste nicht, wie lange die Leute da schon lagen und wie es um die erste Patientin stand und ob die möglicherweise auch schon lange Zeit zu wenig atmete. Eine schwierige Enscheidung, über die ich mir bereits einige Nächte den Kopf zerbrochen habe.

Auf dem Weg zurück zum Aufzug kam ich an einem Feuermelder vorbei. Ich nahm mein Schlüsselbund, schlug die Scheibe ein und drückte den Alarmknopf. Im selben Augenblick gab es ein ohrenbetäubendes Gepiepe auf dem Flur, sämtliche Türen fielen zu. Und zwar die Tür in Richtung Aufzug und die Tür in Richtung der beiden Patienten. Ich machte mich wieder auf den Weg zu den Patientinnen und schaffte es auch im dritten Anlauf, die schwere Tür so weit aufzustoßen, dass ich hindurch fahren konnte. Ich konnte sehen, dass sich bei der ersten Patientin nach wie vor der Brustkorb bewegte, hören konnte man bei dem Lärm nichts. Ich ließ mich neben der zweiten Patientin eher unkontrolliert (weil schnell) aus dem Stuhl fallen, schürfte mir dabei an der Wand noch schön den Oberarm auf. Das Mädel atmete nicht und ich konnte auch keinen Puls tasten. Ich versuchte, sie zu beatmen und versuchte auch eine Herzmassage, allerdings gestaltet sich das, wie ich schon aus den Ersthelferkursen weiß, im Sitzen neben dem Patienten immer sehr schwer. Es bringt etwas, sich auf die eigenen Füße zu setzen, um eine etwas erhöhte Position zu haben, allerdings ist dann der Wechsel zwischen Beatmen und Herzdruckmassage aufwändiger.

Zwei Mal beatmen, 30 Mal Herzdruckmassage. Und darauf achten, dass meine blutende Oberarmwunde nicht mit ihrem Blut (sie hatte an den Armen herumgeritzt) in Berührung kommt. Oder andersrum. Schweiß tropfte mir aus dem Gesicht. Beim sechsten Wechsel hörte ich oben eine Tür zuschlagen. Ich brüllte, aber das Gepiepe war so laut, dass derjenige mich nicht hörte. Zu allem Überfluss ging auch noch die Flurbeleuchtung aus. Zeitschaltuhr… Kurz danach hörte das Piepen auf. Oben im Treppenhaus waren wieder Stimmen. Ich brüllte nochmal. Nun schien man mich gehört zu haben. Ein Pfleger von meiner Station. Er sagte: „Mach weiter, ich hol schnell Hilfe.“ – Ich konnte ihm gerade noch zurufen: „Um die Ecke liegt noch eine.“

Es hat dann nur noch wenige Sekunden gedauert, bis Leute, immer mehr Leute, kamen, die sich um die beiden gekümmert haben. Ich bin nur noch aus dem Weg gekrabbelt, hab mich gegen eine Wand gelehnt und geheult. Was für ein Stress. Ohne jede Ahnung, ob ich alles richtig gemacht hatte, am Oberarm blutend, vollgekotzt, eingepinkelt, mit beschissenem Geschmack im Mund, zittrig, frierend.

Nach einiger Zeit, der ganze Gang war voller Leute im Kittel, in rotweißer Uniform, in Polizeiuniform, mit Kameras, mit Notizblöcken, kamen zwei Pfleger, einer griff mir unter die Arme, einer unter die Kniekehlen. Sie hoben mich in meinen Rolli und brachten mich in einen Untersuchungsraum und legten mich dort auf die Liege. Ich wurde zugedeckt, bekam eine Infusion gelegt und einen Clip an den Finger. Ich sollte einen Moment liegen bleiben, dann könnte ich duschen fahren. Eine Frau kam rein, meinte, sie sei von der Polizei, ob ich ihr einige Fragen beantworten könnte. Die Ärztin, die im Raum war, sagte, sie soll die drei wichtigsten Fragen stellen, aber nicht mehr, ich stünde unter Schock.

Sie wollte wissen, warum ich im Keller war, ob ich mit den beiden geredet hätte und ob ich den Feuermelder eingeschlagen hätte und warum. Ich antwortete ihr. Sie machte sich Notizen. Am Ende strich sie mir über die Schulter und ging raus. Ich fragte die Ärztin, was mit den beiden Mädchen ist. Sie antwortete: „Die eine wird auf die Intensivstation gebracht. Das sieht wohl nicht so schlimm aus. Aber genaues weiß man erst in ein paar Stunden.“ Mehr sagte sie nicht. Ich fragte nach: „Und die andere?“ – Sie senkte den Blick und schüttelte den Kopf. Ich fragte noch einmal: „Was ist mit der?!“ – Sie schüttelte erneut den Kopf. „Die war schon tot als du sie gefunden hast.“ – Ich weiß noch, wie ich sie angestarrt habe und widersprochen habe, dass sie doch aber noch ganz warm war. Die Ärztin meinte, dass das nichts zu sagen hätte.

Alle sagen, dass ich alles richtig gemacht habe. Alle. Alle Ärzte, die mit mir gesprochen haben, alle Pfleger und Schwestern, die danach mit mir gesprochen haben, sogar der Klinikdirektor hat mich in sein Zimmer bestellt und mir gesagt, dass ich vorbildlich gehandelt hätte. Und dennoch, jedes Mal wenn ich an diese Sache zurück denke, denke ich: Hättest du doch bloß…, wärest du doch bloß…

Zwei Dinge haben sich für die letzten Tage, an denen ich dort war, geändert. Erstens mache ich Licht an, bevor ich durch den Flur fahre. Zweitens hat man die Notrufstrippe auseinander gebunden, so dass man sie jetzt auch erreichen kann.

12 Gedanken zu „Hättest du doch bloß

  1. Dann will ich doch nochmal einen zweiten Anlauf starten. War am überlegen ob ich hier was schreiben soll, aber ich denke doch dass es hilft wenn auch ich als "Unbekannter" mich melde.

    Ich, meineszeichens Rettungssanitäter und hoffentlich auch baldiger Student, meine dass du alles richtig gemacht hast. Ich hätte die beiden wohl auch nicht alleine gelassen um irgendwo auf den Korridoren Hilfe zu suchen. Feueralarm scheint mir auf die Schnelle auch die einzige gute Möglichkeit. Auch gut die Sache mit der Stabilen Seitenlage – hat ihr mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben gerettet. Zur Anderen jungen Dame ist es zwar Traurig, aber den Anspruch jeden retten zu können darfst du – auch später im Beruf – nicht haben.

    Dennoch schön mal wieder was zu lesen,
    K.

  2. Erstmal: Tut mir leid, dass Du diese Erfahrung machen musstest, die für jeden anderen wohl nicht weniger Horror ist – fühl Dich gedrückt!

    So, wie sich das liest, gibt es für Dich keinen Grund, an den anderen zu zweifeln: Bei der, die es hinter sich hatte, hattest Du keine Chance. Und ja, Du hast ALLES richtig gemacht!

    Wenn Du nicht irgendwie Alarm geschlagen hättest, wär' die andere vielleicht auch noch hops gegangen (was sie Dir kaum danken wird, jedenfalls jetzt noch nicht), entweder durch die Medikamente (ich schätze, dass sie welche geschluckt und wieder erbrochen hat) oder auch durch Ersticken am Erbrochenen. Du kannst nur begrenzt alleine für zwei sorgen, das kann auch ein Gehender nicht. Also war die Alarmierung, nachdem Du die erste in die stabile Seitenlage gebracht hast, vollkommen richtig. Und selbst wenn Du die zweite ohne Alarmierung noch zu schwachen Lebenszeichen hättest bringen können, wäre sie Dir ohne Hilfe sowieso wieder weggekippt. Und die erste hätte inzwischen auch keine Hilfe gehabt.

    Du hast die schwierigste Situation, die man erleben kann, wirklich gemeistert, Dein Allermöglichstes getan und das erreicht, was zu erreichen war. Also hak' das ab! Und wenn Dich das nicht loslässt, wende Dich bitte an einen Spezialisten!

  3. Ach du Scheiße! Mir läuft es gerade Eiskalt den Rücken runter! Glaub mir, du wirst dich bei jedem Toten fragen, ob du alles richtig gemacht hast. In diesem Fall hast du es aber definitiv! Also versuch die Sache zu verarbeiten, dir nicht zu viele Gedanken dazu zu machen. Denn ansonsten wirst du in deinem späteren Beruf als Ärztin an Selbstzweifeln, Schuldgefühlen und Ängsten leiden und über kurz oder lang den Job nicht mehr schaffen. Bei der Feuerwehr wird nach schweren Unfällen mit einem Kriseninterventionsteam und einem Pfarrer gesprochen, ob es dies im Krankenhaus auch gibt, ist mir nicht bekannt. Aber sprecht gemeinsam über das erlebte, verarbeite die Sache und "fresse" es nicht in dich hinein. Das wird bald öfter zu deinem Leben gehören als dir lieb ist! Ich habe auch mal einen Fall erlebt, der mich bis heute prägt, aber ich habe gelernt damit umzugehen. Mir hat sich eine psychisch kranke Frau anvertraut, sie hat mir Vorwürfe gemacht, warum ich ihr das antue, dabei habe ich ihr dienstlich geholfen. Sie hat mit Selbstmord gedroht, 2 Stunden später, beim Hausbesuch, wurde sie erhängt gefunden. Ich hab mich schuldig gefühlt, aber ich musste mir klar machen, das ich dienstlich alles richtig gemacht habe und ihr geholfen habe, auch wenn sie das nicht so gesehen hat. Sie war krank, genau wie "deine" Mädels. Man kann nicht jedem helfen, leider….!

  4. Hallo erstmal 🙂
    Wenn man dein Blog so liest muss man echt denken das du "die Scheisse anziehst wie ein Magnet" – bei der Feuerwehr nennt man so jemanden ne schwarze Wolke 😉
    Aber um mal ernsthaft zu bleiben: Wie die anderen denke ich auch das du alles richtig gemacht hast, und das du mehr gemacht hast als viele andere in der Situation gemacht hätten.Aber auch wenn dir das 1000 Leute sagen werden – die Frage stellt man sich immer wieder… Später kommt dann noch die Frage "Was wäre wenn ich 5min eher aufs Klo gemusst hätte?" Aber wie heisst es so schön? Für ein hätte,wäre,wenn kann man sich nix kaufen…
    Also realistisch bleiben. Die eine ist tot weil sie es so wollte, und der anderen hast du das Leben gerettet. Ohne dich wäre sie spätestens am nächsten morgen vermutlich auch tot aufgefunden worden.
    Und für dich: heul, sprich darüber bis es keiner mehr hören kann ;), lass es raus! Und auch wenn es hart ist, ich würde sogar überlegen zu der Beerdigung zu fahren.

    Auch von mir ein Fühl dich gedrückt und alles Gute

    P.S. Wie gehts dem anderen Mädel? Hat sie es (ohne Folgeschäden) überlebt?

  5. Anschließend an unser persönliches Gespräch kann ich dir auch hier nur noch einmal raten, nach etwas Abstand die Sache aus einer sachlichen Perspektive zu bewerten: Ja, wir alle sind verpflichtet, Erste Hilfe zu leisten. Ja, unsere Gesellschaft hält Menschen, die sich umbringen wollen, für krank und spricht ihnen ab, eine gesunde Entscheidung getroffen zu haben; insbesondere Kindern und Jugendlichen. Daher macht sich jeder "normale Mensch" (ich sag es bewusst so mit Blick auf den Beginn des Satzes) Vorwürfe, der nicht im Einklang mit diesen gesellschaftlich gesetzten Regeln handelt.

    Du solltest aber drei Dinge genau differenzieren: Das Sterben ist ein Prozess, der nicht in deiner Hand liegt. Du kannst jemandem beim Leben helfen, und das mit allen Kräften – aber eben mehr nicht. Wenn das Leben (ob man nun einen Gott dazu bemüht oder nicht) zu Ende ist, ist es zu Ende. Trotz aller medizinischer Fortschritte: Die Menschen entscheiden nicht in letzter Instanz über den Tod. Auch du nicht. Auch nicht, wenn du irgendwann dein Examen in der Tasche hast.

    Zweitens haben diese Mädchen so sehr auf ihr Leben Einfluss genommen – das kannst du nicht einfach so ausgleichen oder wegwischen! Du kannst auch keine Zeit zurückdrehen! Du hast eine Situation, du bekommst eine Aufgabe und du löst sie so gut wie es geht. Wenn das nicht reicht, bist du trotzdem nicht dafür verantwortlich, dass jemand stirbt. Sondern es ist ganz alleine der verantwortlich, der vorher in suizidaler Absicht nach dem Tod gerufen hat.

    Und drittens: Inwieweit sind die Zweifel an deinem korrekten Handeln ein Ventil, um mit der schwierigen Situation umzugehen? Inwieweit verdrängst du, dass das überraschte Auffinden, diese plötzliche Panik, diese Ausnahmesituation, diese plötzliche Konfrontation mit der Sache nicht selbst schon Anlass zum nachträglichen und wohl dosierten Verarbeiten geben?

  6. das ist ja wahnsinn, was du alles mitmachst… und… sehr sehr viel respekt vor deinem handeln, deinem mut & deinem darüberreden. ich hoffe, du kommst bald mit der erfahrung klar und die gedanken "was wäre wenn" hören auf. alles liebe.

  7. Das ist schon wirklich sehr krass. Ich arbeite auch im Bereich Psychiatrie und mir sind solche Fälle bekannt. Nicht mit zwei Toten, das ist wohl schon wirklich außergewöhnlich, aber über Selbstmord, Mord und natürlichen Toden dwar schon alles mit dabei. Umso heftiger das gleich im Praktikum zu erleben. Gerade wenn man mit pyschisch erkrankten Menschen zusammen arbeitet wird zumindestens einmal der Punkt kommen an dem man eine solche Erfahrung macht. Da habe ich auch vor kurzem noch mit einem Kollegen drüber gesprochen, als solch ein Fall geschehen war. Das kann dir in der ersten Woche oder erst nach zehn Jahren passieren und selbst wenn es dir nach zehn, zwanwig Jahren passiert wird es dich immer umhauen. Für mich persönlich das wichtigste: Kollegen, die zu einen halten, mit denen man reden kann. Vielleicht auch Freunde. Aber ich denke das hast du und das tust du. So wie ich dich kenne bin ich mir sicher, dass du das gut verarbeiten wirst. Deine Kollegen haben alle Recht, du hast genau richtig gehandelt. Es tut mir leid, dass du überhaupt in die Situation gekommen bist…. Fühl dich gedrückt und viel Kraft!

  8. Danke für die netten Kommentare!

    @Nibble: Das zweite Mädel hat zumindest körperlich keine bleibenden Schäden davongetragen. Ob es wieder einen Sinn in ihrem Leben finden wird, kann ich nicht sagen. Ich möchte auch keinen weiteren Kontakt mehr. Ich habe inzwischen erfahren, dass sie in eine andere psychiatrische Klinik verlegt worden ist.

    @Anonym 5: Von zwei Toten war nie die Rede! Aber krass war es trotzdem und ich brauche so etwas auch nicht noch einmal.

  9. ein richtiges Schockerlebnis.
    Du wirst es nicht von heute auf morgen vergessen können.

    Denoch bin ich (als Mensch und medizinisch ausgebildete Fachkraft) der Meinung, dass du alles notwendige getan hast und zudem auch richtig. Und das alles von jetzt auf sofort. Ohne, dass du dich irgendwie auf die Situation einstellen konntest.

    Du hast die erste Person in die stabilie Seitenlage gelegt. Somit die Atmung gesichert. Wolltest dann Hilfe holen und fandest die Zweite.

    Auch hier hast du richtig gehandelt.

    Was du getan hast ist das einzig Richtige: Handeln !
    Das ist mehr und bereits das maximum als viele andere tun. Viele andere machen schlichtweg… garnichts. Traurig aber wahr.

    Hättest du garnichts getan und nur Hilfe geholt wären die Chancen drastisch gesunken.
    Doch durch dein beherztes (!) eingreifen hast du das Beste aus der Situation machen können. Das die zweite Person nicht überlebt hat liegt nicht an dir.

    Ohne dich wären beide gutmöglich verstorben. Denn ohne dich wäre dort nicht so schnell jemand auf Toilette gegangen.

    herzliche Grüße

  10. Wuah, heftigst, schön das sich zumindest so halb am Ende auch wer um Dich kümmerte.
    Es ist beim lesen des Blogs unfaßbar, was Du an Quantität und Qualität in Deinen noch so jungen Jahren erlebst. Es mag auch gleichalte geben, die könnten mit der Ereignismenge Lebensjahrzehnte bestreiten.
    Das mit dem nicht mehr retten können ist manchmal einfach so, selbst bei besten Bedingungen und Fachleuten. Ein Bekannter hat im Medizinstudium seinen Lieblingsprof verloren. Herzchirurg, ist nach einer OP plötzlich zusammengebrochen, auf dem Weg mit dem Patienten vom OP zur Intensivstation, diverse Kollegen unmittelbar bei ihm.
    Man sollte meinen, das geht gut aus. Tat es aber leider nicht, sie konnten ihn nicht mehr zurückholen.

  11. Irgendwie mußte ich, auch wenn dieser Eintrag schon älter ist, nochmal wiederkommen um ihn zu lesen. Zum ersten Mal hab ich den in der psychosomatischen Klinik gelesen – ich war da nicht als Fachpersonal sondern als Patient. Aber egal auf welcher "Seite" man steht – es wird einem schon ganz flau im Magen. Ich habe es auch schon mal in der Klinik erlebt, daß nach dem Wochenende ein Platz am Frühstückstisch leergeblieben ist..und da grübelt man ja schon drüber.

    Zum Einen weil man sich über sich selber Gedanken macht. Aber auch weil man sich Gedanken über die Auffindenden macht. Das ist einfach eine bescheidene Situation. Sie hinterläßt dann auch noch psychische Verletzungen bei anderen (in diesem Fall leider bei Dir). Ob die beiden vorher darüber nachgedacht haben ist zumindest zweifelhaft…

    Ich denke das Du absolut richtig gehandelt hast. Das haben ja schon viele hier geschrieben. Psychisch Kranke sind häufig chronisch kranke Menschen. Da existiert dann oft schon ein hoher Leidensdruck. Wenn dann sojemand "gehen" möchte halte ich das legitim. Denn leider kann auch die moderne Medizin nicht jedem nachhaltig helfen…aber es ist natürlich auch das Gegenteil möglich. Also, daß das erste Mädel inzwischen vieles überwunden hat.

    In dieser Gleichung gibt es so viele Variablen – Ich halte es wichtig, daß auch medizinisches Personal das alles mal durchdenkt. Aber es darf nicht ausarten, wenn man für sich zu keinem Ergebnis gelangt. Sonst wird man selber krank.

    LG Björn

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