Sie haben nur noch genervt

Lange ist sie schon nicht mehr zum Training gekommen. Von einem Tag auf den anderen fehlte sie. Niemand wusste, warum. Eine über diese oberflächliche sportkameradschaftliche Bindung hinaus gehende Beziehung hatte ich zu ihr nie. Ob es nun altruistische oder in meiner Neugierde begründete Beweggründe waren, die mich dazu veranlasst haben, ihr einen unangekündigten Hausbesuch aufs Auge zu drücken, finde ich nachträglich nicht mehr heraus. Fakt ist, dass jede Kontaktaufnahme ohnehin scheiterte: Meine zahlreichen SMS beantwortet sie nicht, ans Handy geht sie nicht, auf der Festnetz-Leitung kommt nur noch „kein Anschluss unter dieser Nummer“. Ich hatte es schon lange im Gefühl, dass da etwas vorgefallen sein muss. Sie war nicht der Typ, der plötzlich untertaucht.

Ich sehe mich gerade im Hausflur eines dreizehn Stockwerke hohen Gebäudes um, als plötzlich besagte Trainingskollegin hinter mir wie aus dem Nichts auftaucht. Sie betritt den Aufzug, sagt mir, dass es ihr gut ginge und sie irgendwann auch mal wieder zum Training komme, aber ich fasse nach. Weil die Aufzugstür ständig zugehen will, blockiere ich die Lichtschranke. Irgendwas stimmt mit ihr nicht. Und ich habe das Gefühl, sie will mir unbedingt was sagen, traut sich aber nicht.

„Soll ich mit hochkommen?“, frage ich sie. Sie öffnet ihre Umhängetasche, händigt mir wortlos eine silberne Pistole aus. Ich bin völlig perplex. Ist die echt? Ist sie. Unerwartet schwer ist sie. Ich spüre mein Herz rasen. Sie hat irgendwas damit angestellt, das spüre ich. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren. Auf der Fahrt mit dem Aufzug in die Wohnung erzählt sie mir, dass sie ihre Eltern im Bett erschossen hat. Beide. Vor etwa vier Wochen. Wir kommen im sechsten Stock an, sie schließt die Wohnungstür auf. Wie ein Automat bewege ich mich in die Wohnung, bin auf das Schlimmste gefasst. Zwei Leichen, die irgendwo vier Wochen herumliegen … auch wenn ich schon ahne, dass der Anblick mich tagelang nicht schlafen lassen wird, schaue ich hin. Und meine schlimmsten Befürchtungen bestätigen sich. Ich kannte die Eltern vom Sehen. Das Schlafzimmer war abgedunkelt, beide waren säuberlich zugedeckt. Blut war nicht zu sehen.

Ich hatte die Waffe. Gab es noch eine? Würde sie mich bedrohen, wenn ich jetzt die Polizei rufe? Würde sie sich was antun, wenn ich sie jetzt alleine lassen und mich erstmal in Sicherheit bringen würde, aus dem Auto den Notruf wähle? Ich fragte sie: „Warum?“ – Sie antwortete: „Sie haben einfach nur noch genervt.“ – „Genervt?!“

Irgendwas stimmte hier nicht. Normalerweise riechen Leichen doch unerträglich. Vor allem, wenn sie hier schon wochenlang liegen. Irgendwie roch es hier gar nicht. Höchstens nach frischen Brötchen. Schlagartig wurde ich wach. Es war zehn Minuten nach fünf. Stockfinstere Nacht. Ich machte das Licht an. Keine Leichen, keine Brötchen. Aber, wie nach jedem Albtraum, Schweiß auf der Stirn und ein pitschnass gepisstes Bett. Jetzt bloß wach bleiben, bevor das weiter geht.

Nein, wir vermissen niemanden beim Training. Und soweit ich weiß, gibt es auch niemanden unter meinen Trainingspartnern, der im 6. Stock eines Hochhauses wohnt. Geschweige denn jemand, dem ich zutrauen würde, dass sie oder er seine Eltern erschießt. So eine gequirlte Kacke. Nicht zuletzt halte ich es für völlig respektlos, unangekündigt bei jemandem auf der Matte zu stehen, um irgendwas zu erzwingen. Wenn sie nicht zum Training kommt und auf SMS nicht antwortet, habe ich das zu respektieren und sie nicht zu Hause zu überfallen. So ein Verhalten käme mir nie in den Sinn. Ich habe keine Ahnung, wie der Film in meinem Kopf gekommen ist.

15 Gedanken zu „Sie haben nur noch genervt

  1. Super, Jule, mal wieder hast du mich dazu gebracht, fassungslos mein Handy anzustarren, die Oma, die mir gegenüber im Bus sitzt, guckt schon ganz besorgt… :p

  2. Ich glaube, "sie" bist Du selbst. Ich tippe mal, da ist unterschwellig immer noch was Unverarbeitetes mit Deinen Eltern, die Du letztlich ja auch "gewaltsam" (emotional gesehen) aus Deinem Leben streichen musstest, und der Tod steht symbolisch dafür. Und für den eigentlich inneliegenden Wunsch, dass es anders wäre (wenn es denn ginge). Das wäre gerade in der Weihnachtszeit gar nicht so ungewöhnlich.

    Dass die Pistole nun silbern ist, ist nicht so verwunderlich – kennt man aus Filmen, da müssen Waffen auch als solche glänzend ersichtlich sein. In Schwarz fallen die ja kaum auf.

    Dass Du die Lichtschranke des Fahrstuhls blockierst, ist auch nicht verwunderlich – das ist doch ein wiederkehrendes Element Deines Alltags oder? Dass ein für Dich notwendiger Fahrstuhl nicht fahren kann und die Tür blockiert ist…

    Und das Hochhaus würde ich als Symbol für gleichsam Anonymität und eine große, trübe und manchmal erdrückende Welt interpretieren, in der Du Dich bewegst und die sehr stark polarisiert ist – der kalte Beton einerseits als Deine Umwelt, die Dir Knüppel zwischen die Speichen wirft, und der einen Wohneinheit als vertrauter Umgebung mit Brötchenduft.

    Ich weiß nicht, ob das stimmt – da kannst Du ja selbst in Dich hineinhorchen. Vielleicht kommst Du ja dem Albtraum auf die Spur, und wenn meine Zeilen dabei helfen, auch wenn sie sich als kompletter Bullshit herausstellen – gern geschehen! 😉

    Davon abgesehen: Du brauchst mal wieder 'ne Portion Endorphine und Serotonin. Wird Zeit, dass Du mal ordentlich durchgevögelt wirst… ;-P

  3. Sag der Oma, es ist alles nur ein Alptraum. Wie gut, dass meine Fassungslosigkeit heute nacht niemand mitbekommen hat.

  4. @BigDigger: Ich konnte eigentlich heute morgen halbwegs ausschlafen, bin daher nicht gerade um 22 Uhr ins Bett und war um 5 Uhr morgens nach so einem bösen Erwachen weder in der Lage, Träume zu deuten, noch überhaupt in mich hinein zu horchen.

    Ich kann dir nicht sagen, was davon wahr oder unwahr ist. Vielleicht in ein paar Tagen, vielleicht bespreche ich den Alptraum auch nochmal mit meiner Psychologin – im Moment war es einfach nur erschreckend, beängstigend und verstörend. Und nervig, weil wer bezieht schon gerne mitten in der Nacht sein Bett neu.

    Mit den Piepmätzen … ich werde in 2014 mal besser die Augen aufhalten!

  5. Puh, dass war aber ein gruseliger Beitrag.

    Manchmal bin ich froh, dass meine Alpträume dagegen meistens vergleichsweise harmlos sind.
    Ich hatte vor vielen Jahren mal einen Traum, in dem ich geträumt hatte, ich hätte selber jemanden getötet. Es hat nach dem Aufwachen ziemlich lange gebraucht, um zu realisieren, dass ich nur geträumt habe. Die Erinnerung daran, lässt mich heute noch erschaudern.

    Ich wünsche Dir im neuen Jahr schönere Träume, so mit Urlaub und knackigen Kerlen und so. 😉

  6. Ach ich träum auch immer so seltsame Dinge… Ich glaub nicht dass das eine tiefere Bedeutung hat. Angeblich kann man ja durch führen eines traumtagebuchs üben was man träumt…

  7. Mensch Jule,

    Was hattest Du da für einen seltsamen, verrückten Traum.
    Fühl Dich einfach mal gedrückt.
    Ich hoffe, dass Gespräch mit Deiner Psychologin ergibt nicht, dass der Traum mit Deinen Eltern zusammen hängt.

    Lg
    Dennis

  8. Schon mal überlegt einen Nebenverdienst als Fernsehschreiber anzustreben?

    Was Ich hier lese ist allemal besser als der Käse der unter der Woche Nachmittags auf RTL gesendet wird.

    Ich mag deinen Schreibstil!

    Grüße aus Kaiserslautern,

    Philipp

  9. Ich dachte erst Du wolltest ein Vorwort für den Krimi schreiben der an Dein Leben angelehnt ist (oder so ähnlich). Albträume braucht niemand. Danach noch in einem nassen Bett aufzuwachen auch nicht. Aber es ist nun mal so und auch kein Weltuntergang – du kannst es schließlich nicht beeinflussen.

    Ist Deine Psychologin eigentlich Verhaltenstherapeutisch ausgebildet? Fall sie tiefenpsychologisch arbeitet wäre es wirklich mal interessant sie auf das Geträumte anzusetzen. Ich finde die sind da immer noch ein bißchen besser darin sich in solche Situationen hineinzudenken.

    LG Björn

  10. Du bist sicher, dass du nicht einen Film gesehen hast oder ein Buch oder eine Kurzgeschichte gelesen hast mit so einer Thematik? Ich verarbeite sowas auch immer in meinen Träumen, da kommen die komischsten Sachen bei raus.

  11. „Nicht zuletzt halte ich es für völlig respektlos, unangekündigt bei jemandem auf der Matte zu stehen, um irgendwas zu erzwingen. Wenn sie nicht zum Training kommt und auf SMS nicht antwortet, habe ich das zu respektieren und sie nicht zu Hause zu überfallen.“

    Dazu fällt mir auch eine Geschichte aus meinem Studium ein. Es war kurz vor Ende des Grundstudiums ein, ein Komiltone/Freund aus unserer Clique (war mit uns zusammen auch in Praktika) kam tagelang nicht mehr zur Uni und reagierte nicht auf Emails und SMS. Er hatte alleine ein Kellerzimmer in einem Haus in einem Dorf unweit der Uni, die Eltern (Lehkräfte?) wohnten mehr als 100 km weg, soziale Kontakte hatte er auch eher wenige. Wir machten uns sorgen, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte und fuhren spontan eines Nachmittags nach der Uni zu dritt oder zu viert bei ihm vorbei. Ich weiß nicht mehr wie es genau war, da es lange her ist, aber nach mehrmaligem Klingeln oder war es Kontakt zu seiner Vermieterin die zufällig zugegen war, kam er etwas verschlafen heraus, auf unsere Nachfrage sagte er, dass alles OK sei. Er hatte mal an der Uni erwähnt, dass er auf das Release vom neuen Diablo 2 Computerspiel wartet, aber mit so etwas hatten wir nicht gerechnet.
    Wir sind gegangen, da mit ihm nach eigener Aussage alles ok war. Wir haben ihn seither leider nie mehr gesehen sein Studium hat er auch nicht beendet.

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