Perspektivwechsel

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Ich bin schon oft gefragt worden, wie ich mich mit meinem Rollstuhl fortbewege. Ich habe da mal ein Video gemacht aus einer wohl eher seltenen Perspektive. Der schwarze Balken und die eher niedrige Auflösung müssen sein, damit sich hier niemand wiedererkennt. Ich hoffe, es gefällt und vermittelt einen Eindruck. Welchen … darf gerne kommentiert werden. Hier.

Blutende Glatzen, kotzende Segler

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Wie ich sehe, kommen die Anekdoten sehr gut an. Ich habe noch ein paar frische aus der chirurgischen Notaufnahme, in der ich derzeit mein zweites Drittel meines Praktischen Jahrs verrichte. Ich bin im Moment gefühlt für alles zuständig, was nicht lebensbedrohlich ist. Nicht als einzige, aber inzwischen wohl erstmal alleine. Vor jeder Diagnose, Therapie und Entlassung muss ich zumindest mit der Akte einmal zu einer approbierten Kollegin oder einem approbierten Kollegen und mir ein Okay holen – sofern ich nicht sowieso Fragen habe oder mir unsicher bin.

Übung macht die Meisterin. Hat mal jemand gesagt. Ich lerne also sehr viel. In erster Linie, dass Notaufnahmen (dieses ist eine rein chirurgische, also überwiegend Unfälle und Verletzungen) ein Sammelbecken für gesellschaftliche Randfiguren sind. Somit passt die behinderte Stinkesocke auch bestens rein!

Das fand auch ein Mensch ohne Kopfhaar, dafür mit Springerstiefeln, der aktuell seine Bomberjacke ausgezogen hatte, damit sie ihm nicht vollblutet. Der Nazi im blutgetränkten Feinripphemd hatte eine vier Zentimeter lange Schnittwunde in der linken Wangen-Gegend und jeweils einen weiteren blutenden Schnitt an der Stirn und am Rücken, war leicht alkoholisiert und nur latent aggressiv. „Ich möchte nicht von einer Behinderten angetatscht werden“, posaunte er hinaus. Da nur er und ich im Raum waren und er vermutlich keine Selbstgespräche führte, war wohl ich gemeint. „Ich kann mich gerade noch beherrschen“, konnte ich mir nicht verkneifen. Professionalität ging eindeutig anders, würde aber hier auch eindeutig nichts nützen.

Ein Pfleger kam dazu, ausgerechnet jemand, der aufgrund seines osteuropäischen Aussehens vermutlich der nächste sein würde, der in diesem Raum mit rechtem Geschwafel dichtgelabert wird. Ich bat ihn, als erste Amtshandlung gleich noch unseren Türsteher dazuzuholen. Falls mein Patient mit jemandem ringen möchte, ist es immer von Vorteil, wenn jemand da ist, der davon auch Ahnung hat. Als ich anfangen wollte, mich um seine Wunden zu kümmern, wiederholte er: „Ich will nicht, dass die Behinderte mich anfasst. Wer weiß, wo die überall ihre Finger hatte.“ – Der Pfleger antwortete: „Sind Sie nicht ganz dicht?“

Ein „siehst du doch“ konnte ich mir gerade noch verkneifen, wobei sein Hirn vermutlich schon früher rausgelaufen war und nicht erst durch die frische Undichtigkeit an der Stirn. Er pöbelte weiter: „Nee, Mann, im Ernst. Weiß ich, ob die sich nicht vorhin gerade frisch ihre verkrustete Möse gekratzt hat?“ – Der Pfleger wollte mir erneut beistehen, ich winkte aber ab: „Lass gut sein, der lebt in seiner eigenen Welt, zu der wir sowieso und auch glücklicherweise gar keinen Zugang haben.“ – Der widerliche Mensch holte Luft, wollte irgendwas sagen, ich fuhr ihm über den Mund: „Du setzt dich jetzt da hin und hältst dein Maul. Sonst ist dort die Tür – und dann ist mir scheißegal, ob du auf halbem Weg nach Hause verreckst.“ – Der Mensch vom Sicherheitsdienst zog sich bereits seine Lederhandschuhe über. Unter der schweißbedeckten Glatze wurde es mit zunehmendem Schwindel auch automatisch ruhiger. „Ich glaub, ich muss kotzen.“ – Hatte ich nicht anders erwartet.

Ich bin ja lieb, somit wird nicht mal eine Bikininaht bleiben.

Viel lustiger waren die beiden geistig behinderten Menschen, vermutlich ein Paar. Beide Mitte 40. „Ich hatte einen Bruch“, sagte er. Sie streichelte ihm beruhigend über die Schulter und nahm ihn in den Arm. Er heulte fast. Ich dachte erstmal, er meint eine Hernie, also einen Leistenbruch oder sowas. „Wo ist denn der Bruch?“ – „Im Klo.“ – „Im Klo?“ – „Siehste, Schatz, ich hab dir doch gleich gesagt, bewahr das auf.“ – „Ja, nun ist zu spät.“ – „Ja, aber vielleicht kann ich ja nochmal brechen, wenn das so wichtig ist.“

Apropos übergeben: Ein 14jähriges Mädel, ebenfalls mit einer leichten geistigen Behinderung, wartete zusammen mit ihrer Mama. Das Mädel hatte einen langen geflochtenen Zopf. Trug blaue Jeans und ein hübsches Top. Sie habe beim Segeln einen schwingenden Mast vor das Knie gekommen, das daraufhin blau geworden ist. Weil ich offenbar die Schiebetür zum Gang nicht komplett geschlossen hatte, sondern sie etwa 10 Zentimeter offen stand, stand das Mädchen auf und ging zur Tür, schloss sie. Ordnung muss sein. Sie humpelte nicht mal. Auf dem Weg zurück zur Untersuchungsbank erbrach sie plötzlich. Im Schwall, während sie ging. Eine minimale Menge, direkt auf den Fußboden. Sie guckte mich an, als wollte sie fragen: „Wer war das?“ – Sie schien das überhaupt nicht zu verarbeiten. Und spuckte gleich noch einmal. Noch einmal eine minimale Menge, vielleicht 50 Milliliter. Sah nach Früchtetee aus. „Sie hat gestern abend auch schon gespuckt. Kann das von dem Unfall mit dem Mast kommen?“ – „Der war doch erst heute, oder?“ – „Ach ja, stimmt. Zeig bitte der Ärztin mal dein Knie“, forderte die Mutter sie auf, während sie aus dem Spender Einmalhandtücher nehmen und die Flüssigkeit auf dem Boden aufwischen wollte. „Lassen Sie mal, das wird gleich steril gereinigt“, sagte ich ihr. Das Mädchen zog sich untenrum aus, und zwar komplett.

Ich sagte ihr: „Die Unterhose kannst du anlassen.“ – Nun war sie aber schon ausgezogen. Das Mädchen presste beide Hände zwischen die Beine. „Musst du auf die Toilette?“, fragte sie die Mutter. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Ich bat sie, sich auf die Untersuchungsbank zu setzen. Sie fing an zu hibbeln, presste sich abwechselnd die Hände zwischen die Beine. „Wir gehen lieber mal auf die Toilette“, sagte die Mutter, wollte das Kind so an die Hand nehmen und mit ihr über den Flur. „Aber nicht nackt“, sagte ich. Bevor ich noch was sagen konnte, flitzte die Mutter mit ihr los. Halbnackt. Zum Glück war das Behinderten-WC für Patienten direkt gegenüber. Kaum waren die beiden draußen, kam die Chefärztin rein: „Was ist denn hier los?“ – „Geistige Behinderung, muss dringend pinkeln.“ – „Die soll hier nicht nackt über den Flur laufen.“ – „Hab ich auch gesagt.“ – „Dann bringen Sie ihr wenigstens den Schlüpfer hinterher. Und was ist das hier für eine Sauerei auf dem Boden?“ – „Kotze.“ – „Dann machen Sie mit der Kleinen in der Acht weiter und hier wird erstmal gereinigt. Was hat sie? Schädel-Hirn-Trauma?“ – „Sie hat schon gestern abend gespuckt. Der Mast hat angeblich nur ihr Knie getroffen.“ – „Dann arbeiten Sie das jetzt mal alleine ab. Ich guck zu. Und auf die Uhr. 10 Minuten. Zackizacki.“ – „Jawohl.“

Endlich kommt mal Schwung in die Sache.

Lena

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Ich habe auch das letzte Wochenende wieder mit Marie und ihrer Familie verbracht. Es war, wie immer, sehr schön. Die Sonne hatte sich angekündigt, entsprechend waren wir alle Vier über die freien Tage an der Ostsee. Maries Eltern leisten sich dort nach wie vor ein Wochenendhaus. Wir haben gegrillt, wir waren im Meer schwimmen, haben sogar eine Zeitlang am Strand gelegen – besser hätte ich mich nicht entspannen können.

Wir haben unter anderem noch einmal sehr ausführlich über meinen Blog und das Drama, das sich vor etwa zwei Jahren daraus entwickelt hat, gesprochen. Ob es nicht einfacher wäre, das Ding einfach zu löschen und nicht mehr, allenfalls privat, zu schreiben. Sicherlich wäre es das – zumindest oberflächlich und auf den ersten Blick. Insbesondere weil sich abzeichnet, dass die Verrückten, die auch schon vor zwei Jahren so viel Energie investiert haben, um mich am Bloggen zu hindern, sofort wieder und weiterhin Spaß daran finden, mich zu mobben. Aktuell wurden in meinem Namen obszöne Nachrichten verschickt.

Aber ich möchte mir meine Entscheidungen und vor allem meine Freiheiten nicht diktieren lassen, schon gar nicht von ein paar durchgeknallten Neurotikern. Auch wenn ihre Aktionen in der Vergangenheit geeignet waren, mich für eine Zeitlang völlig orientierungslos zu machen. Soll heißen, dass ich selbst die Freundschaft zu Marie und ihren Eltern, die mich aufgenommen haben wie eine Schwester beziehungsweise eine Tochter, nicht mehr klar einordnen konnte. Zu viele Menschen aus meinem direkten Umfeld, von denen ich das nie erwartet hätte, haben sich indirekt am Mobbing beteiligt. Zum Beispiel, indem sie einfach blind sensible Informationen durchgesteckt haben oder einzelne Aktionen geduldet haben, statt sich deutlich zu positionieren. Inzwischen weiß ich aber wieder, wem ich vertrauen kann – und wer mich verarscht hat. Manche Erfahrungen sind bitter, aber wohl nötig.

Manche Erfahrungen nützen aber auch. Ich weiß, dass einige Menschen aufgrund ihrer Persönlichkeit öfter Opfer von Mobbing werden. Vielleicht ist es daher kein Zufall, dass es in der Klinik, in der ich im letzten Jahr den letzten Teil meiner Famulatur abgeleistet habe, zu einem weiteren Vorfall gekommen ist. Eine Kommilitonin, die noch nicht so lange studierte, sah ich während einer ihrer praktischen Arbeiten einmal pro Woche auf „meiner“ Station. Sie hat mich regelmäßig um Hilfe beim Lernen gebeten und ich habe mich auch ein paar Mal mit ihr getroffen. Sie wurde dann aber anstrengend, insbesondere hatte ich den Eindruck, sie hätte kaum andere Kontakte. Sie wurde mehr und mehr distanzlos – in jeder Hinsicht. Irgendwann erzählte sie mir von ihren psychischen Problemen, die nach dem Verlust ihrer Mutter aufgetreten seien. Ich habe mehrmals ganz deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie zu sehr an mir klammert. Sie brachte mich irgendwann in die Situation, für jede Entscheidung, weniger bis kaum noch Zeit noch mit ihr zu verbringen, eine Rechtfertigung zu verlangen. Keine Erklärung, die hatte sie ehrlich bekommen. Sondern sie konnte das nicht akzeptieren. Gleichzeitig war sie eifersüchtig auf eine andere Famulantin, die überhaupt nicht an mir klammerte, die es daher aber auch nicht nötig machte, sie auf Distanz zu halten.

Eines Tages zog mich diese andere Famulantin plötzlich zur Seite, sprach mich an, Lena habe sie um Rat gefragt. Müsse sie etwas tun, wenn sie den Verdacht habe, ich würde von der Station Medikamente mitgehen lassen? Alleine diese Fragestellung hatte die andere Famulantin schon dazu veranlasst, sofort Zweifel zu hegen und mich direkt darauf anzusprechen, dass Lena gegenüber ihr und mindestens zwei weiteren Mitarbeiterinnen behauptet hätte, sie hätte gesehen, dass ich mir Zugang zu einem Medikamentensafe verschafft und Diazepam (eine angstlösende Psychopille) und Tilidin (ein starkes Schmerzmittel, das euphorisiert) entwendet hätte.

Beide Substanzen lassen sich in der Partyszene vermutlich gut verticken. Aufgrund der Erfahrungen aus dem Jahr davor war ich zwar perplex, aber fit genug, um sofort zu handeln. Ich habe am nächsten Morgen den Chefarzt um ein Gespräch gebeten und mich selbst bei ihm „angezeigt“. Flucht nach vorn. Ihm gesagt, dass mir die andere Famulantin erzählt hätte, Lena hätte mich dabei gesehen. Ich bestreite das natürlich, aber das machen wohl fast alle Leute, selbst wenn sie was angestellt haben. Er schickte mich bis zum Ende der Woche nach Hause, ich solle in Ruhe aufschreiben, was ich dazu sagen möchte. Und am besten mit niemandem, der beteiligt ist, sprechen.

Zwei Tage später durfte ich schon wieder zurück auf die Station, noch bevor ich mich dazu offiziell geäußert hatte. Der Chefarzt rief mich persönlich an, war kurz angebunden und meinte nur: Die Vorwürfe gegen Sie halten einer Überprüfung nicht stand. Sie dürfen morgen wiederkommen, wir freuen uns auf Sie.

Zwei Monate danach gab es dazu sogar noch einen schriftlichen Bericht. Tilidin war zwar im betroffenen Safe, aber nur als Betäubungsmittel, und das liegt ausschließlich in einem nochmal extra gesicherten Teil des Safes, für den nur die Stationsleiterin (Pflege) den Schlüssel am Körper hat. Das heißt, ich wäre gar nicht dran gekommen. Und Tilidin-Verbindungen, die nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fallen und daher nicht besonders zu sichern sind, waren gar nicht im Safe. Außerdem stimmte das Verzeichnis mit der tatsächlichen Menge überein und die letzte Eintragung über Tilidin war Wochen her. Der Vorwurf war damit ausgeräumt.

Beim Diazepam war das nicht ganz so eindeutig. Daran hätte ich theoretisch sogar kommen können. Aber da glaubte man mir einfach. Vermutlich insbesondere, weil sich der andere Teil des Vorwurfs schon als haltlos herausgestellt hatte. Lena meldete sich über Wochen krank, als sie dann wieder erschien, sagte sie gegenüber dem Chefarzt offenbar, dass sie sich von mir zurückgestoßen gefühlt hatte und mir eins auswischen wollte. Sie hat inzwischen eine zweite Chance auf einer anderen Station bekommen. Ich bin zwei Mal auf sie zugegangen und habe ihr eine Aussprache angeboten. Sie hat das aufgrund ihrer psychischen Verfassung abgelehnt. Ich möchte das als persönlich Betroffene kaum kommentieren. Nur soviel: Ich glaube nicht, dass sie einen Abschluss schaffen wird.

Keine Wahl

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In meinem Geburtsjahr, also vor rund einem Vierteljahrhundert, wurde in Deutschland das so genannte „Betreuungsrecht“ reformiert. Bis dahin konnten Menschen mit Behinderung entmündigt und für sie ein Vormund bestellt werden. Die betroffenen Menschen waren damit geschäftsunfähig (und folglich beispielsweise auch nicht fähig, zu heiraten).

Seit der Reform soll genauer hingeschaut werden. Die Betreuung soll als Hilfe verstanden werden. Sie ist quasi eine von einem Richter in einem Betreuungsverfahren angeordnete „Vollmacht“. Der betroffene Mensch wird in seiner Geschäftsfähigkeit nicht mehr automatisch eingeschränkt. Für die Bereiche, in denen er Hilfe benötigt, ist der rechtliche Betreuer berechtigt, zusätzliche rechtswirksame Erklärungen abzugeben. Er muss dabei die Wünsche des betroffenen Menschen berücksichtigen.

Diese Bereiche müssen vom Betreuungsgericht klar umrissen werden. Am häufigsten wird dabei der Bereich des „Vermögens“ als betreuungswürdig angesehen. Gefolgt von dem Bereich „Gesundheit“, wo der Betreuer beispielsweise dem betroffenen Menschen helfen soll, das Für und Wider einer Operation abzuschätzen und am Ende die richtigen rechtswirksamen Erklärungen abzugeben. Als dritthäufigster Bereich gilt die Bestimmung des Aufenthaltsortes. In einigen Einzelfällen wird dem Betreuer auch vom Gericht gestattet, an den betroffenen Menschen gerichtete Briefe abzugreifen und zu öffnen – ansonsten bleibt es verboten.

Bringt eine betroffene Person sich oder ihr Vermögen in erhebliche Gefahr, kann sie auch nach dem derzeit geltenden Betreuungsrecht faktisch in ihrer Geschäftsfähigkeit eingeschränkt werden. Das Betreuungsgericht bestimmt dann einen so genannten „Einwilligungsvorbehalt“, mit dem die Geschäfte der betreuten Person grundsätzlich (wie bei Jugendlichen) der Zustimmung des Betreuers bedürfen und ansonsten nichtig sind.

Soweit die Theorie. Auf die Probleme, die sich beispielsweise dabei ergeben, wenn ein Betreuer bei der Aufenthaltsbestimmung „helfen“ soll, möchte ich gar nicht eingehen, das würde den Rahmen sprengen. Generell wird auch das heutige Betreuungsrecht, das vor 25 Jahren ein großer Fortschritt war, inzwischen oft kritisiert. Es erscheint nicht mehr zeitgemäß, dass jemand „paternalistisch“ über die Geschäfte eines Menschen entscheiden kann, was hier faktisch möglich ist. Das deutsche Betreuungsrecht wird seitens des UN-Fachausschusses insoweit auch als mit der UN-Behindertenrechts-Konvention unvereinbar angesehen.

Ich würde diese „Unvereinbarkeit“ mal als „Baustelle“ für künftige Regierungen ansehen. Umso wichtiger müsste sein, dass möglichst alle davon betroffenen Menschen ihre künftige Regierung wählen dürfen. Hier liegt aber noch ein Hase im Pfeffer: Menschen, für die eine Betreuung in allen (drei) oben genannten Bereichen (Vermögen, Gesundheit, Aufenthaltsbestimmung) angeordnet ist, dürfen in Deutschland nicht wählen. Sie erhalten keine Wahlbenachrichtigung, keine Stimmkarte – nix.

Das bedeutet im Klartext: Wer eine Betreuung, die laut Gesetz ja „Unterstützung, Hilfe und Schutz“ gewähren soll, in Anspruch nimmt, darf, sofern er in allen drei genannten Bereichen Hilfe braucht, nicht zur Wahl gehen.

Grundsätzlich denkt man dabei vermutlich an Menschen, die ohne äußere Impulse den ganzen Tag lang in ihrem Stuhl sitzen und brummend mit dem Oberkörper hin und her wippen würden. Oder an alte, demente Menschen, die vielleicht gar nicht wissen, wer oder geschweige denn wo sie eigentlich sind. Eine demokratische Wahl ist eine ernste Angelegenheit, die vor allem glaubwürdig sein muss. Daher halte ich es auch für folgerichtig, dass nur diejenigen ein Kreuz machen, die überhaupt begreifen, was sie dort tun. Und die in der Lage sind, sich eine eigene, freie Meinung zu bilden und sich in einem Mindestmaß mit politischen Themen auseinander zu setzen.

Schaue ich mir aber einmal an, wer beispielsweise so eine vollumfängliche Betreuung bekommt, damit er in allen Bereichen Hilfe auch rechtssicher in Anspruch nehmen kann, kommen mir ganz schnell Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Regelung. Ich glaube: Diejenigen, die mit ihrem Ausweis und ihrer Wahlbenachrichtigung am Wahltag in einem Wahllokal auftauchen und klar ein gültiges (!) Kreuz machen können, wissen auch, was sie da gerade tun.

Ob dieser Mensch nun vernünftig oder unvernünftig wählt, ist aus meiner Sicht nicht mit anderem Maßstab zu bewerten als bei Menschen, die keine Betreuung haben. Würde ich ganz rechts, ganz links, Protest oder gar nicht wählen, wäre das legitim. Und welche Motive mich dazu bewegt haben, ebenso. „Schon mein Opa hat die SPD gewählt, ich stamme aus einer Arbeiterfamilie“, muss man genauso gelten lassen wie dass jemand eine Abgeordnete von den Grünen lediglich „niedlich“ findet, während ein anderer was gegen „Kanacken in der Politik“ hat.

Aus meiner Sicht widerspricht es der grundgesetzlich garantierten Gleichheit vor dem Gesetz und dem Benachteiligungsverbot behinderter Menschen, wenn ein Richter durch die Anordnung einer Betreuung automatisch auch über das Wahlrecht entscheidet. Wenn jemand in einer Einrichtung oder durch Nachbarschaftshilfe sehr gut versorgt wird, wird unter Umständen von der Anordnung einer Betreuung, insbesondere für den Bereich der Aufenthaltsbestimmung, abgesehen. Ähnliches gilt für demente Menschen, die zu Zeiten, als es ihnen besser ging, eine Vollmacht eingerichtet haben. Diese Menschen bekommen keine Betreuung in allen Bereichen, und sind nur aufgrund dieses willkürlichen Umstandes wahlberechtigt. Es wird nicht hinterfragt, ob sie fähig sind, sinnvoll ihre Stimme abzugeben.

Andererseits gibt es genügend Menschen mit Behinderung, die sehr wohl genau wissen, was sie wollen und auch politisch interessiert sind, aber gleichzeitig keine Angehörigen haben, die zum Beispiel sehr gut und vertrauensvoll mit ihnen besprechen könnten, ob eine medizinische Behandlung sinnvoll ist, und sie so bei eigener Entscheidungsfindung unterstützen. Stattdessen bekommen diese Menschen dann doch (auch) für diesen Bereich einen Betreuer und können in der Folge mitunter nicht mehr wählen.

Ich halte dieses Vorgehen, einem Menschen aufgrund eines von der UN kritisierten Betreuungsrechts automatisiert das Wahlrecht abzusprechen, für falsch und im Sinne einer weiteren „Baustelle“ für dringend überarbeitungsbedürftig. Ich würde mich mitunter auf einen Kompromiss einlassen wollen, dass im Rahmen der Betreuungsanordnung auch geprüft wird, inwieweit derjenige das Prinzip einer Wahl begreift. Andererseits muss man aber klar sagen, dass behinderte Menschen in Deutschland in der Vergangenheit so extrem und so widerlich diskriminiert worden sind, dass sich daraus sogar eine ganz besondere Verpflichtung zur unbedingten Sensibilität ergeben müsste. Ich persönlich würde lieber ein paar Menschen mit Behinderung im Wahllokal sehen, die nur in halbwegs reflektiertem Rahmen von „ihrer“ Partei überzeugt sind, als eine Horde unreflektierter Protestwähler, die Jahre auf jenen Tag gewartet haben, an dem sie endlich auch mal ihre rechte Meinung sagen dürfen.

Ganz kurios, eher schon fragwürdig, wird es, wenn man sich mal die Argumente reinzieht, mit denen 1989 im Rahmen des neuen Betreuungsrechts auch die Frage des Wahl-Ausschlusses neu geregelt wurde. Das gehört meines Erachtens nach 25 Jahren dringend neu diskutiert.

„Der Ausschluss [behinderter Menschen] vom Wahlrecht ist ein schwerwiegender Eingriff in die Rechte Betroffener. […] Insbesondere dann, wenn Betroffene in […] Einrichtungen wohnen, lässt sich die fehlende Übersendung der Wahlunterlagen und damit die Tatsache der [Betreuung] gegenüber den Mitbewohnern oft nicht verheimlichen.“

Es wurde in Erwägung gezogen, nur diejenigen vom Wahlrecht auszuschließen, die auch nach neuem Recht nur beschränkt geschäftsfähig wären (Einwilligungsvorbehalt). Das wurde verworfen, da „auf einen Einwilligungsvorbehalt gerade in den besonders schweren Fällen einer […] Behinderung verzichtet werden kann, weil der Rechtsverkehr die Willenserklärungen eines solchen Betroffenen ohnehin nicht akzeptiert.“

Klargestellt wurde aber, dass der Ausschluss vom Wahlrecht nicht davon abhängig gemacht werden kann, dass die Betreuung auch „die Einwilligung in eine Sterilisation“ oder „das Anhalten oder das Öffnen der Post“ der betreuten Person umfasst, da „die Übertragung dieser Aufgabenkreise […] nur sehr selten in Betracht kommen“ würde. Mit bösen Worten: Das wären nicht genug…

Und mein persönlicher „Favorit“: „Bei Körperbehinderten kommt ein Ausschluss vom Wahlrecht nur in den äußerst seltenen Fällen in Betracht.“ Als Beispiel wird ein vom Hals abwärts querschnittgelähmter Mensch angeführt, der „seinen Willen trotz vermutlich [!] voller geistiger Orientierung nicht kundtun“ könne. Ein „Ausschluss vom Wahlrecht hätte hier keine praktische Bedeutung, da der Betroffene ohnehin an Wahlen nicht teilnehmen kann.“

Ich darf und ich werde im September wählen. Ich weiß zwar eher, wen ich nicht wähle, als wen ich wählen soll, aber ich bin froh, dass meine Stimme zählt.


(Alle Zitate aus dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Betreuungsgesetz vom 11.05.1989, Seite 188 f.)