Da war noch was

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Wer sehr emotionale Dinge gerade nicht so gut verträgt, sollte diesen Beitrag lieber nicht lesen.

Ich habe eigentlich ganz viele Dinge im Kopf, über die ich gerne etwas schreiben möchte. Über eine wunderbare Freundschaft (nicht: Partnerschaft) an meinem heimlichen Rückzugsort am Meer. Über eine wunderbare Partnerschaft. Über Maries Wunsch, nun doch auch in die Pädiatrie (Kinderheilkunde) gehen zu wollen, nachdem sie zunächst mit Innerer Medizin (wie ihre Mama) liebäugelte. Und vieles mehr. Aber stattdessen schreibe ich erneut über aktuelle Ereignisse aus meinem Praktischen Jahr. Die es im Moment wirklich in sich haben.

Gestern kam eine Kollegin zu mir und sagte: „Frau [Chefärztin, die die chirurgische Klinik leitet] möchte dich sprechen. Jetzt.“ – Jene Kollegin, die mich in der letzten Woche zurechtgewiesen hatte, weil ich die Polizei hinzu gezogen habe, steht daneben und sagt: „Man will dir bestimmt einen Orden verleihen.“ – Bevor ich irgendwas erwidern kann, kommt sie dicht an mich heran, ordnet meinen Hemdkragen (der vorher eigentlich ordentlich war) und sagt dabei leise: „Kannst du denn gar nichts richtig machen?“ – Dann gibt sie mir einen Klaps gegen die Wange. Die Kollegin, die die Nachricht überbracht hat, schüttelt mit dem Kopf: „Nun lass doch mal gut sein.“ – Haifischbecken.

Ich klopfe an, rolle ins Vorzimmer hinein. Die Sekretärin fragt mich: „Sie werden erwartet?“ – Ich nicke. Die Sekretärin macht eine Handbewegung in Richtung der Tür, hinter der ihre Chefin sitzt. Ich klopfe erneut, rolle hinein. „Frau Socke, ich grüße Sie. Bitte schließen Sie die Tür. Ich habe gerade von Ihrem nächtlichen Einsatz im Schockraum erfahren. Sie haben zwar anfangs etwas zögerlich gehandelt, aber trotzdem: Alle Achtung! Frau [Oberärztin] hat vorgeschlagen, das als besondere Leistung zu bewerten und entsprechend in Ihre Beurteilung einfließen zu lassen.“ – „Danke.“ – „Nach dem, was aber geschehen ist, muss ich Ihnen leider sagen, dass ich diesen Vorschlag nicht unterstützen werde.“

Ich schluckte. Ich konnte mir vorstellen, was jetzt kam. Und es kam: „Sie dürfen nicht eigenmächtig entscheiden, die Polizei oder andere Behörden zu rufen. Sie hätten Ihre Kollegin dazuholen müssen.“ – „Ja.“ – „Und warum, um Himmels Willen, haben Sie das nicht getan?“ – „Weil ich mich bedroht fühlte und Angst hatte. Vor diesem Mann, von dem sich mein Herz sicher war, dass er diese Frau verdroschen und gewürgt hatte. Der keine zwei Meter von mir entfernt stand und von mir verlangte, keine Fragen zu stellen, sondern die Frau ‚wieder hübsch‘ zu machen. Ich hatte im Gefühl, dass er diese Frau beherrschte, und ich hatte Angst, ihn mit einer falschen Handlung dazu zu bringen, auch mich in seine Gewalt zu bringen. Die Frau hat aus Angst keinen Pieps gesagt. Er behauptete, sie könne die Sprache nicht, und dachte offenbar, ich hätte noch nie mit Menschen zu tun gehabt, die kein Deutsch können. Er strahlte eine Eiseskälte aus.“

„Und dann haben Sie einfach so irgendwo angerufen?“ – „Nein, ich bin raus, weil ich Material aus dem Nachbarraum holen wollte. In Wirklichkeit habe ich den Sicherheitsdienst gebeten, die Polizei zu rufen, weil der Mann latent aggressiv ist und ich den Verdacht habe, dass er die Frau misshandelt und in ihrer Freiheit einschränkt.“ – „Und dann kam der Sicherheitsmensch mit Ihnen?“ – „Nein, er hat die diensthabende Ärztin ins Zimmer geschickt.“ – „Sie kam vor der Polizei in den Raum?“ – „Ja. Eigentlich gleich, nachdem ich Bescheid gesagt hatte und wieder bei der Patientin war.“

Die Chefärztin seufzte. Und fragte weiter: „Welche Abwägungen haben Sie denn unternommen, bevor Sie sich entschlossen haben, die Polizei rufen zu lassen?“ – „Schweigepflicht gegen ärztliche Garantenpflichten. Ich habe es als Nothilfe gesehen, weil sie dazu nicht in der Lage war. Und ich fühlte mich bedroht.“ – „Ich möchte Ihr couragiertes Handeln nicht tadeln. Und werde daher dieses eine Mal ein Auge zudrücken. Aber nur dieses eine Mal. In allen Kliniken sind die Verantwortungen klar geregelt. Auch, wenn ich ebenfalls die Polizei hätte rufen lassen, das haben Sie nicht zu entscheiden. Ihre Aktion ist bis zum Direktor hochgegangen. Der hat sich Ihre Akte kommen lassen und den frischen Vermerk über Ihren nächtlichen Schockraum-Einsatz gelesen. Das hat Sie gerettet, Frau Socke. Der Direktor hat mich in der Mittagspause angesprochen, mir die Akte in die Hand gedrückt und Disziplinarmaßnahmen mir überlassen. Sie können froh sein, dass diese Angelegenheit für Sie keine schlimmeren Konsequenzen hat.“ – „Danke, Frau [Chefärztin].“ – „Sie können jetzt an Ihren Arbeitsplatz zurück. Guten Tag!“ – „Guten Tag, Frau [Chefärztin].“

Ich rollte zurück. Im Dienstzimmer angekommen, traf ich auf die Kollegin, die mir die Nachricht überbracht hat. Sie guckte mich an und sagte: „Hast du jetzt doch einen Anschiss gekriegt?“ – Ich nickte vorsichtig, seufzte: „Sie macht Action wegen der Sache mit der Prostituierten.“ – „Soweit ich gehört habe, war der Typ völlig zugekokst und wurde auch schon gesucht.“ – „Und das sagt ihr mir erst jetzt?“ – Die Oberärztin kam um die Ecke und sprach mich an: „Na? Kopf ab oder Konfetti?“ – „Eher Kopf ab. Aber danke für den schriftlichen Beistand.“ – „Gerne geschehen“, sagte sie und tätschelte mir über die Schulter. Die andere Ärztin warf schnippisch ihr Haar zurück und ging hämmernden Schrittes nach draußen.

Ich bin ja vielleicht noch etwas grün hinter den Ohren, aber könnte es vielleicht sein, dass die Chefärztin deshalb so genau wissen wollte, wann die diensthabende Kollegin mit im Raum war (also noch vor der Polizei), weil eben genau sie nichts gemacht hat? Sie wusste ja, dass die Kavallerie anrückt und hätte das ja auch noch steuern können. Ich will gar nicht von mir ablenken. Aber mir da so blöde am Kragen rumfummeln, obwohl sie offensichtlich selbst eine aufs Dach bekommen hat – solche Leute liebe ich. Nicht.

Keine zwei Minuten später kommt mit seinem Vater ein Junge, zwölf Jahre alt, durch die Tür. Krümmt sich vor Schmerzen. Hat mehrere blutende Wunden, auch im Gesicht, wird vom Aufnahmeraum gleich in einen Behandlungsraum umgeleitet. Eine Pflegekraft eilt voraus. Die Oberärztin weist ihn mir zu. Ich rolle hinterher.

Jeder Vater wäre wohl aufgeregt und würde nicht abwarten können, dass endlich jemand seinem Sohn hilft. Dieser Vater ist eingeschüchtert bis apathisch, antwortet nur auf Fragen. Ich habe keine dreißig Jahre Berufserfahrung, aber dass hier was nicht stimmt, habe ich im Urin. Ich stelle mich vor, gebe dem Jungen die Hand (was ich aus hygienischen Gründen nur in ganz besonderen Fällen mache), dem Vater erstmal nicht. Vor allem, um den Vater weiter zu verunsichern. Ich frage den Jungen: „Wie ist das passiert?“ – Der Junge guckt zum Vater. Der Vater sagt: „In der Schule hat ihn ein Mitschüler mit einem Fahrradschloss geschlagen.“ – „In der Schule?“ – „Ja, auf dem Schulhof.“ – „Und du weißt, wie der Junge heißt?“ – Der Junge guckt wieder seinen Vater an. Er antwortet: „Leider nicht.“

Leider nicht? Oder leider noch nicht? Wenn das mein Kind wäre, würde ich doch alles daran setzen, das sofort herauszufinden. Und das entsprechend auch kommunizieren. „Bist du hingefallen?“ – Der Junge schüttelte den Kopf. – „Hast du was an den Kopf bekommen?“ – Der Junge schaut den Vater an. Ich grätsche dazwischen: „Du musst doch wissen, ob du was an den Kopf bekommen hast.“ – Natürlich hatte er das, denn er blutete am linken Jochbogen. Ich bat die Pflegekraft, sich um zwei Schürfwunden zu kümmern, während ich zur Oberärztin wollte. Der Mann fragte mich ängstlich: „Wohin wollen Sie denn?“ – Ich lächelte ihn an, ohne ein Wort zu sagen, und verschwand aus der Tür.

Die Oberärztin tippte im Dienstzimmer am Computer. Ich schloss die Tür hinter mir. Sie fragte: „Häusliche Gewalt?“ – „Angeblich Schulhof. Da passt aber vieles nicht.“ – „Oh nein, Socke, nicht schon wieder.“ – „Ja doch, schauen Sie doch selbst.“ – „Ich komme gleich dazu. Einen Moment. Und niemanden anrufen, okay?“ – „Haha.“

Ich eröffne dem Vater gerade, dass wir eine Aufnahme vom Schädel brauchen, um auszuschließen, dass was gebrochen oder verletzt ist, als die Oberärztin reinkommt. Der Junge wird zum Röntgen geschoben, die Oberärztin fragt gleich den Vater: „Schulhof, ja?“ – Der nickt. – „Und die Schule hat Sie angerufen?“ – „Ja. Äh. Nein.“ – „Ja, was jetzt, wie sind Sie denn auf die Sache aufmerksam geworden?“ – „Mein Sohn hat mir eine Nachricht geschrieben.“ – „Und Sie wohnen direkt neben der Schule?“ – „Warum?“ – „Weil das nicht passt, was Sie hier erzählen! Ihr Sohn blutet so stark, dass jede halbwegs verantwortungsvolle Lehrkraft einen Rettungswagen rufen würde. Und bei solcher Gewalt auch die Polizei. Macht sie aber nicht. Sondern lässt ihn blutend liegen und wartet auf den Vater. Finden Sie das logisch?“ – „So war es ja nicht.“ – „Wie war es dann? Erklären Sie es mir!“ – „Ich bin Ihnen gar keine Rechenschaft schuldig.“ – „Doch, das sind Sie. Weil, wenn Sie es nicht plausibel erklären können, und das können Sie nicht, dann muss ich das Jugendamt einschalten. Und das werde ich auch tun.“ – „Wozu? Ich bin der Vater.“ – „Um zu klären, was da vorgefallen ist. Und um die Rechte Ihres Kindes zu sichern. Setzen Sie sich bitte einen Moment in den Wartebereich. Wir rufen Sie wieder auf.“ – „Rufen Sie jetzt das Jugendamt an?“ – „Schaun wir mal.“

Einen Moment später kommt ein Anruf von der Rettungsleitstelle über das rote Telefon. „In etwa 6 Minuten: Polytrauma, weiblich, 28 Jahre alt, von Pkw angefahren, laufende Reanimation.“ – Die Oberärztin sagt zu mir: „Du kommst mit und assistierst mir.“ – „Ja.“ – Flexibilität ist heute wieder hoch im Kurs.

Einen Moment später stehen gefühlte 20 Leute im Schockraum und warten auf die schwerstverletzte Frau. Die Anspannung und das Adrenalin steigen von Minute zu Minute. Obwohl man cool bleiben soll. Meine Hände fangen zu schwitzen an in den Handschuhen. Die Tür geht auf. Mein Puls steigt nochmal. Zwei Feuerwehrleute schieben die Trage. Die Notärztin geht nebenher und hält in einer Hand einen mobilen EKG-Monitor, mit der anderen presst sie eine Infusion in die Frau. Eine Sanitäterin beatmet die Patientin mit einem Beatmungsbeutel. Ein weiterer Sanitäter kniet oben auf der rollenden Trage über der Patientin und führt eine Herzdruckmassage durch. Die Frau hat unter anderem eine lebensbedrohliche Beckenfraktur, die notfallmäßig mit einem Tuch komprimiert ist.

Zehn Sekunden später liegt die Frau vor uns auf dem Tisch. Die Notärztin berichtet, eine Autofahrerin sei von der Straße abgekommen und hätte sie als Radfahrerin auf dem Radweg eingefangen. Wie wir später erfahren, hat eine junge Fahrerin zuvor ein anderes Auto in der Nebenspur touchiert, sich dabei erschreckt und das Lenkrad verrissen, direkt in Richtung der Radfahrerin. Es wird vermutet, dass sie sich vom Smartphone hat ablenken lassen. Es stellt sich heraus, dass die Radfahrerin bei dem Unfall neben einer notfallmäßig mit einem Tuch komprimierten Beckenfraktur auch eine offene Kopf- sowie massive Hirnverletzungen erlitten hat. Schnell steht fest: Ihr ist nicht mehr zu helfen. Der Anblick ist grauenvoll.

Es ist nicht meine erste sterbende Patientin. Aber das, was danach kam, war für mich zum ersten Mal so extrem. Ich habe es schon einmal geschrieben: Nur weiterlesen, wenn man emotional gerade fest mit beiden Pobacken im Sessel sitzt.

Es kommt kurz danach ein Mann in den Wartebereich, der eine große Reisetasche trägt. Aus dem Reißverschluss der Tasche guckt eine große bunte Maus mit langem Schwanz. An der Hand hat er einen kleinen Jungen, vermutlich 5 bis 6 Jahre alt. Der Mann setzt sich erst hin, um 20 Sekunden später wieder aufzustehen. Dann kommt er zu mir an die Tür des Dienstzimmers, klopft. Stellt sich vor, er sei benachrichtigt worden, dass seine Frau mit dem Fahrrad gestürzt und hierher gebracht worden sei. Ob ich ihm sagen könnte, wo sie gerade sei. Falls sie über Nacht bleiben müsse, habe er ein paar Sachen zusammengepackt. Fast scherzhaft sagt er: „Damit sie nicht in euren karierten Nachthemden schlafen muss. Die hat sie schon bei seiner Geburt gehasst. Kaiserschnitt, wissen Sie?“

Jetzt bloß nichts anmerken lassen. „Meine Kollegin kümmert sich gleich um Sie. Nehmen Sie doch bitte noch einen Moment dort Platz.“ – „Ja. Wissen Sie denn, wie es meiner Frau geht?“ – „Das ist die Patientin meiner Kollegin. Es tut mir leid, ich kann Ihnen dazu keine Auskunft geben. Sie müssen sich einen kleinen Moment gedulden, ich schicke die Kollegin sofort zu Ihnen.“ – „Ja, sicher.“

Ich fasse es kurz: Dem Mann musste erklärt werden, dass seine Frau und damit auch die Mutter des Kindes gerade verstorben ist. Es musste geklärt werden, ob die Organe für eine Organspende entnommen werden dürfen. Eine Krisenfrau wurde gleich dazu geholt. Der Junge, so erzählte mir die Oberärztin später Rotz und Wasser heulend im Dienstzimmer, habe gefragt, wo Mama ist. Der Papa hat ihm gesagt, dass Mama jetzt beim lieben Gott ist. Und der Junge hat geantwortet: „Okay, dauert das lange? Wann kommt sie denn wieder?“

Da sind mir dann auch die Tränen übers Gesicht gekullert. Das Leben kann so ungerecht sein. Kurz danach klopft es an der Tür. Die Frau vom Kindernotdienst. Guckt erschrocken in unsere Gesichter. Da war ja noch was.

Risiko Rollstuhl

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Das ewige Problem mit der Sicherheit ist noch immer nicht behoben. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass die seit Ewigkeiten allseits akzeptierte Ausrede, mit der Menschen mit Behinderung leider noch immer systematisch diskriminiert werden, endlich mal kritischer betrachtet wird. Seit Jahren macht mich diese Argumentation, Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer (und andere Menschen mit Behinderung) stellten insbesondere bei Veranstaltungen ein Sicherheitsrisiko dar, regelmäßig aggressiv.

Es ist noch kein Monat her, da brach über einen Privatsender ein Shitstorm herein, als eine Frau in den Sozialen Medien behauptete, eine Platzanweiserin in einem Fernsehstudio habe zwei Menschen mit Down-Syndrom auf Plätze umgesetzt, die nicht im Erfassungswinkel der Kameras waren. Sie soll gesagt haben, dass man „sowas“ nicht im Fernsehen sehen wolle.

Ich war nicht dabei. Ich weiß nicht, was vorgefallen ist. Ich bin noch nie umgesetzt worden, war aber auch noch nie in so einem Fernsehstudio. Der Privatsender gab später an, dass Sicherheitsgründe („Unfallverhütung und Brandschutz“) diese Umsetzung nötig gemacht hätten. Die beiden Menschen mit Behinderung seien nach dem Umsetzen näher am Notausgang gewesen, die ursprünglichen Plätze seien nur über eine steile Treppe erreichbar gewesen. Soll also heißen: Es purzeln alle die steile Treppe runter, weil zwei Frauen mit Down-Syndrom im Weg sind? Soll somit auch heißen: Das Sicherheitskonzept sieht vor, dass alle Gäste jung und dynamisch das Haus drei Stufen auf einmal nehmend verlassen, sobald irgendwo Rauch aufsteigt?

Ich kenne genügend Leute, die so verpeilt sind, dass sie sich nach außen öffnende Türen beim Reingehen vor den Kopf schlagen und mit Platzwunden in die Notaufnahme kommen. Und ich kenne einige Menschen mit Down-Syndrom, die sehr sportlich sind. Genauso wie es unterschiedlich fitte Menschen im Rollstuhl gibt. Aber im Evakuierungsfall könnten sie im Weg stehen.

Ja, tatsächlich, das könnten sie. Wenn die Veranstaltungsstätte so gebaut ist, dass es im Evakuierungsfall zum Gedränge kommt. Und mittendrin ein Rollstuhlfahrer ist, der sich nicht bewegt. Alle fallen über ihn drüber, werfen ihn mitsamt seines Stuhls um, was auch immer. Das wäre tatsächlich dramatisch. Genauso dramatisch wäre es, wenn Menschen totgequetscht oder totgetrampelt werden, ohne dass ein Rollstuhl im Raum war. Immer dann stellt sich die Frage: Waren die Rettungswege korrekt dimensioniert?

Wohl nicht. Und genau das ist auch der Grund, warum Menschen im Rollstuhl noch heute regelmäßig von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen werden. Vielleicht nicht überall, aber dennoch immer wieder. Und an Orten, an denen diese unverschämte Haltung bereits in der Vergangenheit öffentlich und vielleicht sogar politisch thematisiert worden ist, macht man es halt subtil mit Verweis auf den Brandschutz oder die allgemeine Sicherheit.

Ich kann nicht verstehen, dass man in den letzten Jahren ein Theater baut, in dem Menschen mit Behinderung im Evakuierungsfall ein Hindernis darstellen. Sorry, aber wer hat denn bei der Planung nicht damit gerechnet, dass Menschen im Rollstuhl oder beispielsweise mit Down-Syndrom auch Veranstaltungen besuchen wollen? Und warum nicht? Konnte da jemand vor lauter Dollarzeichen in den Augen nicht mehr geradeaus gucken?

Ich picke als weiteres Beispiel einen Musical-Besuch heraus. Nun bin ich kein Mensch, der gerne Musicals besucht, insbesondere nicht jene, die nur noch konsum- und kostenorientiert produziert werden. Ganz besonders krass finde ich jene, bei denen die Musik aus der Dose kommt (und nicht mehr von einem anwesenden Orchester). Früher, als ich noch zur Schule ging (und noch nicht rollte), haben mich zwei Musical-Aufführungen mal wirklich so fasziniert, dass ich mir davon auch eine CD gekauft habe. Danach bin ich noch zwei Mal eingeladen worden, und diese beiden Male war es grauenvoll. Also wer mich ärgern will, schenkt mit teure Musical-Karten.

Einmal war der einzige Rollstuhlplatz am Rand in der ersten Reihe (bei immerhin rund 2.000 Besucherplätzen, also 0,5 Promille). Der Blickwinkel auf die Bühne war so eingeschränkt, dass man nur etwa ein Drittel der ganzen Geschichte sehen konnte. Man saß ganz rechts und musste links an den Kulissen vorbei schauen. Umsetzen auf einen festen Platz war nicht buchbar.

Ein zweites Mal gab es vier Rollstuhlplätze bei rund 1.350 Besucherplätzen (rund 3 Promille), jedoch waren die ebenfalls ganz außen in der ersten Reihe angeordnet, so dass man fast nichts sah. Ich weiß, dass sich viele Menschen beschwert haben, auch bei Behörden, und ich habe in meinem damaligen jugendlichen Optimismus einen Brief an den Theaterbetreiber geschrieben und die Antwort bekommen, dass es ein Sicherheitsproblem gebe, das nicht zu ändern sei, weil das Haus zu alt wäre und auch unter Denkmalschutz stehe.

Nun, aktuell, wünscht sich eine Freundin schon viele Jahre einen Besuch in einem bestimmten Musical. Und der findet in einem Theater statt, das in den letzten fünf Jahren neu gebaut oder unter enormen Kostenaufwand komplett saniert und umgebaut worden ist.

Es gibt genau zwei Rollstuhlplätze (1 Promille), davon einer ganz links und einer ganz rechts im Saal, im ersten Block, in der teuersten Kategorie. Buchbar nur telefonisch gegen weiteres Entgelt. An diesen beiden Stellen ist ein Sitz herausnehmbar – so dass man sich am Rand im Rollstuhl sitzend hinstellen kann. Umsetzen auf einen bequemen, weichen Sitz in angenehmer Höhe ist weiterhin nicht möglich. Und wir dürfen auch nicht nebeneinander sitzen. Weil, wie gesagt, ein Platz rechts im Saal ist und einer links. Und diese Plätze sind auch im regulären Verkauf. Das heißt: Wenn jemand diesen Platz (mit Stuhl) buchen möchte, dann ist der Rollstuhlplatz (also die Option, dass man den Stuhl herausnimmt) natürlich belegt. Durch einen Fußgänger.

Warum das so ist? Das liege am Sicherheitskonzept. Immerhin könnten im Evakuierungsfall ja Menschen über die Rollstühle fallen. Falls meine Freundin und ich uns auf herkömmliche Plätze umsetzen wollen und die Rollstühle dann irgendwo am Rand stehen. Oder wenn wir woanders stehen – und nicht direkt am Eingang.

Bitte nicht falsch verstehen: Ich rede nicht davon, inmitten eines Blocks sitzen zu wollen. Aber warum kann man nicht beispielsweise in der letzten Reihe eines Blocks sechs bis acht mittige Sitze dreh- und herausnehmbar machen, so dass man sich von hinten einfach umsetzen kann? Der Rollstuhl bleibt dahinter stehen. Oder, wenn sich jemand nicht umsetzen kann, stellt er sich halt dorthin, wo man vorher einen Stuhl herausnimmt. Bei 2.000 Plätzen sollte das doch möglich sein, eigentlich sogar an mehreren Stellen in unterschiedlichen Preiskategorien. Und die einzigen, die im Evakuierungsfall hinter der letzten Sitzreihe entlang rollen, sind dann wohl die Rollstuhlfahrer.

Und es soll mir niemand sagen, dass die Nachfrage nicht da ist. Das Haus, von dem ich rede, ist regelmäßig mindestens einen Monat im Voraus komplett ausverkauft. Wenn nicht mehr Rollstuhlfahrer kommen, fühlen sich diese wohl verarscht. Oder rausgeekelt.

Naja, dann gehe ich mit meiner Freundin eben lecker essen. Und singe ihr vielleicht ein Liedchen vor. Vielleicht.

Ständer und Heizung

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Bekanntlich ist mit einem Nachtdienst ja nicht aller Nächte Morgen. Oder so ähnlich. Es ist gerade halb zwei Uhr nachts, ich darf alleine mit drei Pflegekräften und einem Sicherheitsmenschen die chirurgische Notaufnahme über Wasser halten, während alles, was nicht mehr studiert, entweder im OP steht oder schläft. Während ich mich schon um ein schreiendes Kind mit einem unreifen Eiterpickel, zwei betrunkene Frauen mit Schürfwunden, einen jungen Mann mit einem gebrochenen Unterarm, einen älteren Mann mit einem Splitter im Handteller und eine alte Dame mit einer verstauchten Hand gekümmert habe, kommt als nächstes ein Mann mit einem angeblichen Abszess im Genitalbereich.

Eine männliche Pflegekraft, die vor einiger Zeit aus Russland nach Deutschland kam, kommt ins Dienstzimmer, als ich mich gerade darum kümmere, dass der junge Mann mit dem gebrochenen Unterarm zum Röntgen kommt. „Kannst du bitte gucken in die Vier? Ein Mann sagt, er hat Abszess am Penis. In Wirklichkeit ich glaube, er hat aber nur Erektion. Ich glaube, er ist ein Strolch.“ – „Ein Strolch? Mit Ständer? Also ein Ständerstrolch?“ – „Ja, sowas.“ – „Wie alt?“ – „Einundzwanzig.“

Einen Moment später rolle ich in die „Vier“, schließe die Schiebetür hinter mir, stelle mich vor und frage ihn: „Was führt Sie hierher?“ – „Ich habe einen Abszess am Penis.“ – „Mitten in der Nacht? Waren Sie damit schon bei Ihrem Hausarzt?“ – „Nein. Denn bisher tat er nicht weh.“ – „Sie haben also Schmerzen.“ – „Ja. Ich habe eine Dauer-Erektion wegen dem Abszess. Es ist mir ein bißchen peinlich. Aber ich habe eben extra noch einmal für Sie geduscht.“ – „Darf ich mal sehen?“

Er macht seine Jeans auf, drunter trägt er einen schwarzen Baumwoll-Slip, aus dem oben was heraus guckt. „Setzen Sie sich dorthin bitte, und dann zeigen Sie mir mal den Abszess.“ – „Hier“, sagt er. – „Ziehen Sie die Unterhose bitte mal runter und dann zeigen Sie mir das mal bitte so, dass ich das sehen kann.“

Er nimmt grinsend seine Hoden in die Hand. „Hier. Alles voller Eiter. Können Sie das bitte absaugen?“ – „Sind Sie schonmal damit aufgefallen?“, frage ich, ohne eine Miene zu verziehen. Er guckt mich mit einem Rehblick an und sagt: „Bitte. Ich hab solchen Druck. Sie können doch bestimmt gut blasen.“ – „Eben sollte ich noch saugen. Sie werden sich jetzt wieder anziehen und schleunigst die Kurve kratzen. Oder muss ich erst die Bullen rufen?“ – „Och menno, wir zwei hätten wirklich viel Spaß haben können. Sie sind echt etwas verklemmt. Aber irgendwie auch ne Süße.“ – „Tschüss.“

Meine Chefin meint später, ich hätte die Polizei rufen müssen. Ich habe ihn für einen Spinner gehalten, der mal irgendeinen Kick brauchte. Zu viele Hormone. Die Daten von ihm haben wir ja, aber nachträglich will meine Chefin dann die Polizei doch nicht informieren.

Eine Stunde später kommt eine Frau, spärlich bekleidet, hinein und drückt sich ein Handtuch gegen die Stirn. Mit ihr kommt ein eher hagerer Mann mit dicker, auffälliger Halskette. Sie blutet links frontal an der Stirn aus einer Platzwunde. Sie sagt kein Wort, sondern der Mann redet für sie: „Mach sie wieder hübsch, okay?“

Als ich sie frage, wie das passiert ist, antwortet er: „Du sollst keine dummen Fragen stellen.“ – Ich frage nach: „Ich muss das aber später aufschreiben. Also?“ – Er sagt: „Schreib auf, sie ist gegen einen Heizkörper gestolpert. Und jetzt mach endlich, bevor sie gleich kein Blut mehr im Körper hat.“

„Ich habe doch sie gefragt, oder?“ – „Ich will nur helfen. Sie versteht kein Deutsch.“

Die Frau hat frische Würgespuren am Hals und diverse blaue Flecke an den Unterarmen. „Das muss ich nähen, sonst hört die Blutung nicht auf. Das sind aber die falschen Fäden.“ – Ich öffne drei Schubladen und schließe sie wieder. „Weißt du, ob wir drüben noch Fäden für das Gesicht haben? Die müssen ganz fein sein, diese hier sind zu grob. Da bleibt dann eine Narbe, und das wollen wir ja nicht.“ – Der Pfleger, der die Sachen schon richtig herausgesucht hatte, guckt mich natürlich völlig verdattert an. „Ich gucke selbst eben nach“, füge ich hinzu, bevor er was sagen kann. Dann schließt er seinen Mund und schluckt.

Ich rolle nach draußen, schnurstraks zu dem Sicherheitsmenschen. „Können Sie bitte sofort die Polizei rufen? Ich habe eine Patientin, die offensichtlich körperlicher Gewalt ausgesetzt war und in Begleitung eines Typens ist, der sich sehr aggressiv benimmt.“

Ich komme mit einigen Utensilien aus dem Nachbarraum wieder. Die Begleitperson wird hoffentlich nicht merken, dass es im Prinzip die gleichen sind, wie ich sie eben schon in der Hand hatte. Und die Pflegekraft wird hoffentlich auch nichts sagen.

Sie sagt nichts, sondern hat alles bereits hübsch mit Tüchern abgedeckt. Kurz darauf kommt meine Chefin rein. Frisch vom Sofa. „Na, Frau Kollegin, kommen Sie klar?“, fragt sie mich. Ich nicke. Sie kommt näher und sagt: „Ich schau mal mit drauf.“ – „Gerne.“

Der Mann sagt: „Bleibt da jetzt ein Faden drin?“ – „Ja.“ – „Kann man das nicht kleben? So fürchten sich ihre Kinder ja, wenn sie nach Hause kommt.“ – „Das werden die Kinder schon verstehen.“

Dann klopft jemand und öffnet im selben Moment die Tür. Zwei Polizisten, eine Polizistin, alle in Uniform. Der Begleiter sagt: „Das glaub ich jetzt wohl nicht.“ – „Sie kommen bitte erstmal mit auf den Flur“, sagt der eine Polizist. Der Mann spricht etwas in einer fremden Sprache zu der Frau. Unser russischer Krankenpfleger übersetzt kurz darauf: „Du weißt, was sie hören wollen.“

Später kommen noch diverse weitere Menschen in zivil, reden mit ihm, reden mit ihr, lassen sich die Unterarme zeigen, kontrollieren alle möglichen Papiere. Ich sehe das immer nur mal zwischen zwei Patienten. Dann muss sie mit der Streifenwagenbesatzung mit, er bekommt Handschellen angelegt und muss mit den nicht-uniformierten Menschen mit. Was genau los ist, erfahre ich nicht.

Und dann sagt meine Chefin, nicht die nette Oberärztin, sondern eine andere Kollegin, dass ich hier besser nicht die Polizei geholt hätte. Ich würde so riskieren, dass die Patientin nicht mehr wiederkommt. Sie will nämlich keinen Kontakt zur Polizei. Und entsprechend verliert sie einen als sicher geglaubten Ort, an dem ihre Verletzungen versorgt werden.

Ich weiß, dass es besser wäre, zu nicken, aber ich höre mich reden: „Das ist doch nicht Ihr Ernst?! Ich lasse mich doch hier von solchen Leuten nicht in deren kriminellen Sumpf ziehen! Die Frau war doch nicht freiwillig hier, das heißt, sie ist immer drauf angewiesen, dass ihr Zuhälter sie irgendwo hinbringt, nachdem er sie gegen die Heizung geschleudert hat. Somit kommt sie auch nicht freiwillig hierher. Oder wenn, dann weiß sie jetzt, dass sie hier Hilfe bekommt. Die Streifenpolizei wird doch zum selben Ergebnis gekommen sein wie ich, sonst hätten sie doch die Kripo nicht nachgeordert und ihn am Ende auch nicht mitgenommen.“

„Sie wissen nicht mal, ob das ihr Zuhälter ist und ob er sie gegen die Heizung geworfen hat. Und sollte es so sein: Was machen Sie, wenn ihn nachher sein Rechtsanwalt wieder raus holt, er hierher kommt und seine Knarre auspackt?“ – „Beten. Aber ich lasse mich trotzdem nicht einschüchtern von solchen Typen. Wenn unser Staat die Frauen nicht beschützen kann und solche Leute frei herumlaufen lässt, dann ist das schlimm. Aber ich möchte für die Frau alles getan haben, was in meiner Macht steht und ich halte es für meine Pflicht, die zuständigen Stellen zu informieren. Und ich glaube daran, dass die auch Wege finden, um der Frau zu helfen.“ – „Das ist auch Ihre Pflicht. Aber dennoch bringt es nichts, außer dass Sie sich in Gefahr begeben. Sich und andere Leute, für die Sie Verantwortung haben.“

Es hat keinen Zweck. Vielleicht brauche ich erstmal dreißig Dienstjahre, um so gleichgültig oder so erfahren und weise zu werden. Oder ich muss erst einmal erschossen werden. Wer schreibt dann meinen Blog weiter?

Fahrdienst und andere Katastrophen

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Weiblich, 21 Jahre alt, wartet laut Computer seit zwei Stunden und 38 Minuten mit akuten Rückenschmerzen. Es ist kurz nach zwölf Uhr nachts. Verpflichtend ist der Nachtdienst im Praktischen Jahr zwar bei uns nicht, aber wehren kann man sich trotzdem kaum dagegen. Es gibt da so Erwartungen.

Ich bin alleine in der chirurgischen Aufnahme. Natürlich sind Pflegekräfte da, und ein Sicherheitsmensch döst in einem Sozialraum vor einem flimmernden Fernseher. Approbierte Mediziner? Gerade Fehlanzeige. Alles, was Dienst hat, steht im OP. Versucht sich an einer älteren Dame, die kopfüber aus dem Fenster gestürzt ist und am Ende doch noch verstirbt. Und an einem Patienten, dem vor einigen Stunden ein Teil der Leber entfernt worden war, und bei dem es jetzt zu Blutungskomplikationen kommt. Für mich gibt es hin und wieder mal Nachschub, meistens völlig betrunken, meistens mit kleineren Schnitt- oder Platzwunden. Die wirklich ernsten Dinge werden in der Regel vorher über die Leitstelle des Rettungsdienstes angemeldet.

Notfalls müsste ich die Oberärztin wecken lassen. Die hat aber schon eine lange Schicht hinter sich und entsprechend nur noch Notfallbereitschaft. Von mir wird erwartet, dass ich alles, was nicht wirklich lebensbedrohlich ist, geräuschlos und zügig abarbeite. Und vor allem korrekt. Unter Anleitung zu arbeiten bedeutet im letzten Semester eben nicht mehr, dass mir ständig jemand auf die Finger schaut. Mit den meisten Dingen bin ich mir schon irgendwie sicher. Es gab Zeiten, da hätte ich das nicht für möglich gehalten. Weil gefühlt nichts richtig war von dem, was ich tat.

Die Dame, die mit akuten Rückenschmerzen nachts in eine Notaufnahme kommt, sitzt im Rollstuhl. Eine angeborene Querschnittlähmung. Die Patientin ist stark übergewichtig, ein BMI von über 50. Die Mutter, die dabei ist, setzt sich auf den derzeit nicht genutzten Drehstuhl im Untersuchungsraum und fängt sofort zu reden an: „Das ist ja klasse, dass wir hier auf eine Rollstuhlfahrerin treffen. Sie haben bestimmt mehr Verständnis für die Probleme, die man als behinderter Mensch so hat. Mehr Verständnis als mancher nicht behinderter Mensch.“

Ich stelle mich vor und frage die Patientin: „Was führt Sie hierher?“ – „Meine Mutter. Hahaha.“

Okay. Ich lächel einmal müde und versuche es noch einmal: „Okay. Und warum sind Sie hierher gekommen?“ – Wenn sie jetzt sagt, weil ich sie aufgerufen habe, schreibe ich ihr eine Überweisung für den Krankenhauskindergarten.

Die Mutter sagt: „Meine Mischell soll ja studieren. Politikwissenschaften, wissen Sie? Und der Fahrdienst, der sie von zu Hause zur Uni bringen soll, den müsste der Landkreis bezahlen. Tut er aber nicht. Und da …“

„Entschuldigung, aber warum sind Sie heute in die Notaufnahme gekommen? Welches akute Problem haben Sie?“

„Das Studium sollte diese Woche losgehen. Aber Mischell kann nicht teilnehmen, weil der Landkreis den Fahrdienst nicht bezahlt. Wir brauchen jetzt dringend ein Attest, dass sie einen Fahrdienst braucht.“ – „Um halb eins in der Nacht? Aus einer Notaufnahme?“ – „Ja, der Hausarzt hat schon was geschrieben und beim Orthopäden kriegen wir so schnell keinen Termin.“ – „Ich frage noch einmal: Haben Sie akut irgendwelche Beschwerden?“ – „Das ist sehr wichtig mit der Bescheinigung, Mischell verpasst ja Inhalte …“ – „Ich rede mit Mischell. Einzig und allein mit Mischell.“

Mischell sagt: „Es stimmt, was meine Mutter sagt.“ – Und die fährt fort: „Und später ist sie völlig außen vor, weil alle anderen sich schon angefreundet haben und sie hat es sowieso immer so schwer wegen ihrer Behinderung. Wir haben es schon immer schwer.“

„Ich verstehe, dass Sie da Probleme haben. Aber die können wir hier nicht mitten in der Nacht in einer Notaufnahme lösen. Wir sind für medizinische Notfälle hier. Sie müssten mit ihrem Hausarzt nochmal sprechen und vielleicht eine Beratungsstelle aufsuchen oder einen Rechtsanwalt einschalten. Zu Tages- und Geschäftszeiten.“ – „Unser Rechtsanwalt hat zuletzt vor 14 Tagen was geschrieben und tut jetzt wieder gar nichts.“ – „Ich kann Ihnen dabei nicht helfen.“ – „Und ich dachte, Sie verstehen das Problem als Rollstuhlfahrerin. Ich bin enttäuscht. Ich möchte Ihren Chef sprechen.“ – „Mein Chef kann Ihnen da auch nicht helfen. Sie gehen jetzt nach Hause.“ – „Ich will Ihren Chef sprechen. Wir gehen hier nicht eher raus, als bis ich den Chef gesprochen habe.“ – „Jetzt ist Schluss. Gute Nacht!“

Ich rolle ins Dienstzimmer, um den Unsinn zu dokumentieren. Muss ich ja machen. Normalerweise würde ich das gleich in dem Untersuchungsraum machen, aber dann würden die Damen daneben stehen und mich weiter zutexten. Kurz darauf höre ich ein Klirren. Die Mutter hat im Flur ein Bild von der Wand gerissen und auf die Erde fallen lassen. Absichtlich. Der Mensch vom Sicherheitsdienst steht schon in seiner Zimmertür. Eine männliche Pflegekraft steht auf und sagt: „Hausverbot, raus. Ihre Daten haben wir, Rechnung kommt.“

Im selben Moment klingelt das Telefon. Mit einem Rettungswagen wird aus einer Reha-Klinik eine 38 Jahre alte Frau mit chronischer Dickdarm-Entzündung verlegt, akuter Verdacht auf eine Darm-Perforation. Also irgendwas ist undicht und Darm-Inhalt läuft in den Bauchraum. Das ist ein echter Notfall, der sofort operiert werden muss. Der Pflegekollege holt bereits die Oberärztin aus dem Schlaf. Kurz darauf geht schon die Tür auf und ein aufgeregtes Sanitäterteam brüllt mehrfach „Schockraum!“ durch den Gang, während es die Patientin, ja, jene mit Darm-Perforation, hineinschiebt.

Die Patientin sei beim Ausladen aus dem Rettungswagen plötzlich ohnmächtig geworden. Ich kommentiere das bewusst nicht. Die Oberärztin trabt mit mir auf derselben Höhe über den Gang. Während ich eben beim Tippen des Mischell-Irrsinns fünf Mal gähnen musste, bin ich jetzt schlagartig wieder hellwach. Ich rechne damit, dass ich einen zweiten Venenzugang legen soll. Jedoch hat die Frau noch überhaupt keinen Zugang. Aber wenigstens ein EKG ist dran. Puls 135. Nicht gut.

„Dein Job“, sagt die Oberärztin zu mir. Zwei Sekunden später höre ich mein Adrenalin in den Ohren rauschen und fühle, wie meine Wangen zu glühen beginnen. Ich brauche drei lange Sekunden, bis ich einen klaren Gedanken fassen kann. Meine Hände werden schweißnass. Bis eben war ich immer auf alles vorbereitet, was ich tun sollte. Bis jetzt war immer alles nach Plan, alles besprochen und ausdiskutiert. Jetzt wollte man von mir sofort die richtigen Entscheidungen. Im Praktischen Jahr. Hallelujah.

Sauerstoffsättigung bei 85%. Keine Zeit für die Fragen, wieso die Sanitäter keinen Notarzt nach-alarmiert haben und wo der Anästhesist bleibt. Ich habe sie jetzt an der Backe. Sie braucht dringend mehr Sauerstoff im Blut, ihr Atemweg muss gesichert werden und es besteht ein hohes Risiko, dass ihr Magen nicht leer ist (und sei es durch zurück gelaufenen Inhalt des an der Perforationsstelle geschwollenen Darms) und damit die Soße in Kürze durch die Speiseröhre nach oben und so auch gleich in die Lunge fließt. Meine Oberärztin legt bereits einen Venenzugang.

Ohne dass ich nachdenken muss, ist mir der Weg schlagartig klar. Ich soll laut sagen, was wir machen und klare Anweisungen an das Team geben. Meine Oberärztin würde mich schon korrigieren, wenn es falsch läuft. Sie korrigiert mich nicht. Ich werde von Minute zu Minute ruhiger. Die Magensonde durch den Mund liegt im ersten Anlauf richtig und fördert fast einen halben Liter dunkelbraunen Brei nach oben. Das Gewicht der Patientin schätze richtig mit 55 Kilogramm und dosiere die Narkosemedikamente auf Anhieb richtig. Mir fällt auch sofort der saure pH-Wert des Blutes auf. Ich entscheide mich auch korrekt für eine schnelle Intubation und lege und blocke den Tubus, also den Luftröhrenschlauch, beim ersten Versuch richtig. Mit dem Beatmungsgerät gibt es dann zwar technische Probleme, so dass ich für etwa eine halbe Minute mit einem Beutel beatmen muss, bevor die Pflegekraft den Fehler findet, den ich aber nicht zu vertreten hatte.

Am Ende kann ich die Patientin stabil in den OP übergeben. Als sie rausgeschoben wird, merke ich zum ersten Mal, dass mein Hemd völlig durchnässt ist. Schweiß rinnt mir über das Gesicht und über die Brust. Ein älterer Krankenpfleger, kurz vor der Rente, mit Glatze und unverwechselbarem Geruch nach dem Deo einer großen Hamburger Körperpflegemarke, klopft mir auf die Schulter und sagt: „Das war gut. Wirklich.“ – Ein anderer daneben steigt auch noch ein und sagt: „Ja, im Ernst. Ich bin auch beeindruckt.“

Ich bedanke mich artig, rolle zum Klo und fange erstmal das Heulen an. Was für ein emotionaler Stress. Warum? Wofür? Irgendwelche Schläuche irgendwo reinzustecken ist eigentlich keine Kunst und man kann es Dutzende Male an Puppen üben, dann unter Anleitung und Aufsicht im OP. Wenn es gut läuft. Die Schwierigkeit besteht darin, die (zum Teil hochpotenten) Medikamente dazu so zu dosieren, dass der Patient am Leben bleibt und es ihm möglichst gut geht. Und was hier von mir erwartet wird, passt gefühlt eher in die Facharzt-Ausbildung eines Narkosearztes als in ein Praktisches Jahr.

Ursache für die ganze Aufregung war eine Komplikation mit einem zuvor angelegten künstlichen Darmausgang. Das konnte korrigiert werden, und so wie es aussieht, wird die Patientin das alles gut überstehen. Sie liegt derzeit noch auf der Intensivstation.

Um kurz vor Sechs komme ich von einer betrunkenen Person, die sich den Kopf angeschlagen hat, zurück ins Dienstzimmer und höre auf dem Flur die Oberärztin, wie sie gerade mit einer Kollegin über mich spricht. Ich bekomme nur Teile mit, aber die sind eindeutig: „Am Anfang hat sie gezittert und ist etwas zu zaghaft eingestiegen, aber dann völlig souverän und eiskalt abgearbeitet. Die war bei Uschi in der Anästhesie, das merkst du sofort.“ – „Toll. Nee echt, find ich klasse. Vor allem im Sitzen, das mach ihr mal nach.“ – „Naja sie hat das nie anders gemacht. Aber im Alltag kannst du das vergessen, da kriegt das ganze Team Rücken, weil sich alle ständig bücken müssen. Aber das ist ja vielleicht auch gar nicht ihr Ziel.“ – „Nö, ich glaub, sie will Pädiatrie weitermachen. Hast du sie schonmal mit Kindern gesehen? Ich hatte neulich so einen kleinen Knirps hier, der fuhr gleich voll auf sie ab. Ich dachte erst wegen des Rollstuhls, aber nee.“ – „Sie ist aber auch eine andere Generation, das darfst du nicht vergessen. Wenn ich einen Knirps mit High-Five begrüße, zeigt er mir doch einen Vogel.“ – „Ja, aber wir hatten auch schon PJ-ler hier, die Kinder grundsätzlich zum Heulen gebracht haben.“

Okay. Bevor ich eitel werde, zeige ich mich und rolle um die Ecke. „Guten Morgen!“, grüße ich die neu hinzugekommene Kollegin. Die ich sehr nett finde. Die bisher immer sehr freundlich zu mir war und – anders als viele andere – auch immer gerne mal Kleinigkeiten über sich und ihre Tochter erzählt, mit der sie alleine zusammen lebt. „Guten Morgen, wir lästern gerade über dich.“ – „Das hab ich mir schon gedacht.“