Neugierige Katze

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Ich habe ja immer mal individuelle Fragen beantwortet, meistens bei Fragerunden. Manchmal auch in Fragespielen mit anderen Bloggern. Damit niemand mehr darauf warten muss und auch niemand mehr seine individuellen Fragen unter den letzten Post als Kommentar schreiben muss (das passt nämlich meistens nicht zum Post), findet man mich jetzt auch bei der neugierigen Katze. Allerdings möchte ich gleich erwähnen, dass ich Fragen, die ich nicht beantworten möchte, auch konsequent aussortieren werde. Öffentliche Fragen nach meiner Adresse, meinem Arbeitsplatz oder meiner Handynummer gehören beispielsweise dazu. Medizinische Fachberatung gibt es auch nicht. Aus Gründen.

Noch Fragen? Dann los: Neugierige Katze.

Buttermilch und Zigarette

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Ich weiß inzwischen, was ich nicht machen darf: Nichtsahnend in den Tag hinein rollen. Nein, nichtsahnend ist nie gut. Ich muss immer auf der Hut sein, immer vorbereitet sein. Das weiß ich inzwischen. „Willst du dich besaufen?“, fragt mich der Mensch, der hinter mir an der Supermarktkasse wartet und die drei Flaschen Mineralwasser kommentieren möchte, die ich auf das Laufband gelegt hab. Ohne mich umzudrehen, antworte ich: „Es wird ein Exzess.“

Der Mensch vor mir, der sich umgedreht hat, schmunzelt und dreht sich wieder zurück. Der Mensch hinter mir hat einen Becher Buttermilch auf das Laufband gestellt und trippelt mit seinem Gipsfuß auf den Fliesen herum. „Danach kann ich immer besonders gut kacken!“, lässt er mich wissen, als er auf seine Buttermilch deutet. „Ich weiß nicht, ob ich das unbedingt wissen möchte“, antworte ich, wieder ohne mich umzudrehen. Der Mensch wiederholt: „Nee, nach der Buttermilch meine ich. Da geht das besonders gut.“ – „Ich möchte das nicht wissen!“, wiederhole ich ebenfalls.

Es sei doch ein menschliches Thema, brabbelt er weiter. Ich ignoriere ihn komplett. Er schimpft ein wenig mit sich und mit mir, dann bin ich dran, bezahle meine drei Flaschen Wasser und rolle hinaus, ohne mich noch einmal zu dem Verstopften umzudrehen.

In der Klinik angekommen rolle ich in mein Zimmer. Man möchte, dass ich eine weiße Jeans und ein weißes Polo- oder Sweatshirt trage. Gestellt wird das nicht, dafür gibt es aber eine Bekleidungspauschale und eine Firma, die das einheitlich liefert. Waschen muss ich das selbst. Für Untersuchungen gibt es noch einen weißen Kittel, den das Haus stellt und der zentral gereinigt wird, der passt mir im Rollstuhl aber nicht. Bislang hatte ich immer Hosen und Hemden über die Klinik bekommen. Es gab immer einen Schrank oder ein Regal, wo man sich was in seiner Größe wegnehmen und abends oder bei Bedarf in den Wäschewagen werfen konnte. Das war natürlich deutlich hygienischer. Andererseits ist Jeans wesentlich modischer als gemangelte dunkelblaue oder dunkelgrüne Baumwollhosen.

Achso, und wir sollen bitte keine dunklen Strings tragen, Tätowierungen verdecken und Piercings entfernen. Wie gut, dass ich in meiner Langweiligkeit weder Strings noch Tatoos noch Piercings trage. Ich war gerade umgezogen, als meine Chefin gegen die Tür wummerte und zu mir hinein wollte. Sie war sichtlich sauer. Und jetzt trage ich dafür ja die volle Verantwortung. Sie drehte gleich auf und begann mit dem Satz: „Wir müssen über etwas sprechen, was mit Sicherheit einen Verweis nach sich zieht, sollte sich für Ihr Verhalten kein guter Grund finden. Was das in der Probezeit bedeutet, können Sie sich ja ausmalen. Ich komme gleich zur Sache: Gestern abend ist eine Mutter mit einem bewusstlosen Kind in unsere Klinik gekommen. Die Mutter spricht kaum Deutsch und hat uns hier für ein Akutkrankenhaus mit Notaufnahme gehalten. Sie war völlig aufgebracht und schon auf dem Parkplatz völlig verzweifelt. Sie standen an der Grundstücksgrenze mit einer Zigarette in der Hand und haben sich mit einem Mann unterhalten, und Sie haben diese Mutter gesehen, ihr sogar noch hinterher geguckt, ohne etwas zu unternehmen. Dafür habe ich einen Zeugen. Sie haben seelenruhig zugesehen, während vor Ihnen diese Mutter nach Hilfe bettelt. Was haben Sie dazu zu sagen?“

„Nichts.“ – „Das ist Ihr gutes Recht, aber …“ – Ich unterbrach sie: „Nichts, weil Sie mich verwechseln.“ – „Man hat Sie eindeutig gesehen. Es gibt einen Zeugen.“ – „Dann irrt sich dieser Zeuge. Ich bin seit 26 Jahren Nichtraucherin und ich habe niemals mit einer Zigarette in der Hand an irgendeiner Grundstücksgrenze gestanden. Niemals. Und ich kenne auch diese Geschichte mit dem bewusstlosen Kind nicht, sondern höre sie zum ersten Mal.“ – „Sie wurden eindeutig gesehen.“ – „Dann holen Sie doch bitte den Zeugen her oder wir gehen da jetzt gemeinsam hin. Ich bin gespannt, wie er da wieder rauskommen will. Das ist nämlich eine Sauerei, so etwas einfach in die Welt zu setzen. Ich wäre die Erste, die sich um so eine Sache kümmern würde, wenn da eine Mutter mit einem bewusstlosen Kind angelaufen kommt.“

„Ehrlich gesagt konnte ich es mir gleich nicht vorstellen.“ – „Ich hätte mir gewünscht, dass Sie mich erstmal fragen.“ – „Das ist durchaus berechtigt. Sie müssen mich aber auch verstehen. Der Vorwurf ist ungeheuerlich.“ – Der Zeuge war ein pflegender Mitarbeiter einer anderen Station, der sich, als er mich sah, doch nicht mehr sicher war, ob ich es war. „Haben Sie auch einen pinkfarbenen Rollstuhl?“

Na klar. Mit Glitzerstaub. Und heute ist schwarz dran. Morgen weiß. Und so habe ich für jeden Tag der Woche einen anderen Stuhl in unterschiedlichen Farben. Alle von der Krankenkasse. Und feiertags aus Gold. Aus ästhetischen Gründen. Mit passender Brille und passendem BH. Ich habe kein Wort mehr gesagt, sondern bin nur noch raus und in mein Zimmer. Zehn Minuten später kam meine Chefin angedackelt, um sich zu entschuldigen. Wenigstens das.

Sieben Jahre

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Fast sieben Jahre ist es her, als ich das Foto aufgenommen habe, das im Hintergrund meines Blogs zu sehen ist. Es ist spontan entstanden bei einer Fahrt mit dem Handbike an der Elbe in Hamburg, fast am östlichsten Zipfel der Stadt. Damals fand ich es einfach nur schön.

Am letzten Wochenende bin ich zusammen mit Marie wieder zu dieser Stelle gefahren. Der kleine Anbau, an dem vor sieben Jahren noch eine Lampe hing, ist inzwischen verputzt und weiß gestrichen. Die Bäume sind etwas größer geworden, ansonsten ist wohl alles beim Alten.

Bevor sich da nun eine Pilgerstätte entwickelt, sei noch einmal deutlich gesagt: Ich kenne den Eigentümer nicht. Ich bin mit offenen Augen durch die Welt geradelt und habe spontan meine Handykamera gezückt.

So auch am letzten Freitag beim Training mit dem Bike an der Ostsee. Hübsch, oder?

Erster Job

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Ich erwähnte ja bereits, dass sich gerade in den letzten Wochen vieles verändert hat. Studium ist fertig, gleichwohl habe ich noch keine Lern-Unterlagen verbrannt. Gerade habe ich auch nicht die Absicht, das zu tun. Obwohl ich mal aufräumen und zumindest überflüssigen Mist aussortieren müsste. Dinge, die man sich nicht mehr anschaut. Kritzeleien. Aber vielleicht sind die in ein paar Jahren doch nochmal interessant. Ich entwickle mich gerade ein wenig in Richtung Messie. Aber richtigen Müll sammle ich noch nicht. Zumindest nicht mehr, als in meine Mülleimer passt.

Mülleimer habe ich inzwischen zwei. Einen zu Hause, unweit der Ostseeküste, wo, seit ich dort wohne, nur noch schönes Wetter ist, und einen in einer Mietwohnung, die ich seit Anfang des Monats mehr oder weniger zugeteilt bekommen habe. Wir hatten im Bewerbungsgespräch auf meinen neuen Job einmal angesprochen, dass ich wohl nicht täglich pendeln kann, und umso erstaunter war ich, dass man mir ohne weiteren Dialog eine stufenlos zugängliche Einzimmerwohnung unweit der Klinik, in der ich meine Facharzt-Ausbildung beginne, besorgt hat. Überhaupt hatte ich den Eindruck, sie wollen dringend (neues) Personal.

Eine junge Frau aus der Personalabteilung, mindestens fünf Jahre jünger als ich, hatte das alles arrangiert und war überhaupt nicht zu bändigen. Ich hatte das Gefühl, ich hätte eine persönliche Assistentin an meiner Seite. Nicht aufdringlich. Ich musste mich um nichts kümmern. Ich konnte die Wohnung gleich am ersten Tag besichtigen und hab sie auch sofort genommen, zum Schlafen ist sie optimal. Preislich kann man auch nicht meckern. Kurz nach dem Krieg gebaut, aber gerade renoviert und technisch auf dem neuesten Stand. Und ich teile mir den Hauseingang lediglich mit einer alten Dame, ich nenne sie mal Frau Schmidt, die sich vorgestellt hat, bevor ich es tun konnte: „Ich bin Oma Schmidt, und wenn Sie mal nichts im Haus haben, dann schellen Sie hier, die Zutaten für einen Pfannkuchen kann ich Ihnen immer ausborgen.“ – Das ist doch mal ein Wort.

Die Klinik hat, was selten vorkommt, auch für das Personal barrierefreie Sanitäreinrichtungen. Es gibt Kliniken, da wird erwartet, dass Personal im Rollstuhl die Patienten-Toiletten benutzt. Manchmal ist zumindest eine Besucher-Toilette für Rollstuhlfahrer geeignet. Wie ich inzwischen weiß, gibt es an der Klinik noch eine Erzieherin im Rollstuhl, die ich aber noch nicht kennengelernt habe. Insgesamt, so sagte man mir, erfülle man die gesetzlich vorgegebene Quote schwerbehinderter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

„Das ist Ihr Zimmer“, führte mich die eifrige Personalreferentin am ersten Tag in einen recht kahlen Raum mit einem komfortablen Schreibtisch einschließlich PC. Eigenes Zimmer? Hatte ich nicht erwartet. Und ist auch keineswegs üblich, wie ich von meinen ehemaligen Kommilitonen weiß. „Brauchen Sie einen höhenverstellbaren Tisch?“ – Ich schüttelte den Kopf. – „Brauchen Sie einen Schreibtischstuhl?“ – „Umsetzen von Zeit zu Zeit wäre nicht schlecht.“ – „Lass ich Ihnen bringen. Falls Sie Bilder an die Wand hängen wollen, darum kümmert sich ausschließlich die Haustechnik. Sagen Sie mir Bescheid.“

Ein eintüriger Kleiderschrank mit Spiegel, ein Tisch, halbrund, an einer Wand stehend und mit Platz für zwei Personen, zwei Stühle, ein Holzregal und ein Kleiderständer stehen außerdem drin. „Das ist Ihr Schlüssel. Den müssen Sie immer am Körper tragen. Wenn Sie ihn verlieren, wird das richtig teuer, denn dann muss die komplette Schließanlage getauscht werden.“ – Oha. Jede Menge Papierkram. Als sehr kompliziert stellte sich die im Arbeitsvertrag vereinbarte „aufschiebende Wirkung“ der Tatsache heraus, dass ich zwar meine Abschlussprüfung bestanden hatte, die zuständige Behörde aber noch keine Approbation erteilt hatte. Ich durfte zunächst nicht anders arbeiten als zuvor im Praktischen Jahr. Sollte das aber eigentlich.

Und als das dann endlich geklärt war, ergab sich die nächste Verwaltungshürde: Die Approbation wird in dem Bundesland erteilt, in dem man sein drittes Staatsexamen gemacht hat. Anschließend wurde die Akte erstmal in das Bundesland geschickt, in dem ich meinen ersten Wohnsitz habe. Und von dort ging es dann zu der zuständigen Stelle in dem Bundesland, in dem die Klinik ihren Verwaltungssitz hat. Und die stellen dann einen Ausweis aus, eine Chipkarte, die benötigt wird, um sich in der Klinik eine weitere Chipkarte zu besorgen, die wiederum benötigt wird, um sich am Computer oder an anderen technischen Geräten anzumelden. Hoch lebe der Vorgang!

Problem dabei: Der Ausweis braucht mindestens vier Wochen, bis er produziert und zugeschickt ist. Also habe ich zwar inzwischen eine Approbation, aber keinen Ausweis. Somit auch keine persönliche Chipkarte in der Klinik, sondern eine, die ich jeden Morgen freischalten lassen und jeden Abend wieder abgeben muss. Trotzdem hat meine Karte nicht die Berechtigungen, die ich bräuchte, so dass ich immer eine (ebenfalls) approbierte Kollegin dazurufen muss, um zu arbeiten.

Ganz simples Beispiel: Ein Junge auf „meiner“ Station hat Heuschnupfen und reagiert allergisch auf Frühblüher. Er bekommt ein Medikament, morgens eine Tablette, die das ganze Augentränen, Hatschi und Co. relativ gut abgemildert hatte. Ein wenig Hatschi bleibt aber dennoch. Inzwischen ist die Frühblüher-Saison eindeutig zu Ende und auch sein weniges Hatschi ist, wie er selbst sagt, vorbei. Also Tablette absetzen. Kann ich nicht alleine, weil ich keine passende Chipkarte habe. Ich kann das alles vor-erfassen, aber für den finalen Klick muss eine approbierte Kollegin dazu kommen.

Ansonsten ist aber alles prima. Meine direkte Vorgesetzte ist sehr nett, den Chefarzt habe ich bisher nur kurz gesehen, aber alle finden ihn klasse, und das Pflege- und Erzieherpersonal ist sehr unkompliziert, überwiegend jung und lustig drauf. Die Patienten auf „meiner“ Station sind zwölf, halb Jungs, halb Mädels, sind sehr unterschiedlich und haben teilweise wirklich erschütternde Probleme, die sie mit sich herumtragen. Ganz viele mit Missbrauchs-Erlebnissen, einige mit schwerer Depression, ADHS ist ein großes Thema, Angsterkrankungen, Krisensituationen. Was ich in den ersten Wochen mitbekommen habe, kämpfen ganz viele einfach nur um ihren Platz in der Gesellschaft, fühlen sich alleine gelassen, nicht ernst genommen. Viele von ihnen sind sehr reflektiert und wissen sehr genau, was mit ihnen los ist, brauchen aber Hilfe, Dinge zu ändern. Ich bin bei mehreren Elterngesprächen im Hintergrund dabei gewesen und habe mehrere Male gedacht: Wo bin ich hier gelandet? Was für Menschen gibt es auf diesem Planeten?

Die derzeit krasseste Geschichte, und bitte, wer heftige Dinge nicht gut erträgt, scrollt einen Absatz weiter, ist für mich die einer Elfjährigen, die vom Vater regelmäßig sexuell missbraucht wurde. Die Mutter wusste davon, wollte aber das äußere Bild einer heilen Familie nicht zerstören. „Was hätte ich denn machen sollen?“, fragt sie in Einzelgesprächen immer wieder und findet es „übertrieben“, dass ihr Göttergatte derzeit in Untersuchungshaft sitzt. Es sieht so aus, als hätte er nicht nur seine eigene Tochter missbraucht. Und als sei er nicht der Einzige, der sich über seine Tochter … mir wird schon wieder übel. Kohle ist dabei wohl auch noch geflossen. Die Ergotherapeutin erzählt in einer Teamsitzung, sie habe ihre erste Stunde mit dem Mädchen mit der Frage begonnen, was sie bei ihr mal ausprobieren möchte und was sie sich wünscht. Daraufhin hat das Mädchen zehn Minuten lang die Wand angeschaut, immer wieder geschluckt, immer wieder Luft geholt und schließlich leise gesagt: „Ich wünsche mir, dass mich mal jemand in den Arm nimmt, weil er mich okay findet.“

Ansonsten lerne ich fleißig dazu, werde wohl von allen sehr gut akzeptiert, ich habe noch keinen einzigen dummen Spruch über meine Behinderung gehört, und die Stadt, in der die Klinik ist, ist sehr hübsch. Wenn auch mit sehr viel rollstuhl-untauglichem Kopfsteinpflaster. Auch wenn meine Liebe zu Hamburg und meiner Ostsee unteilbar ist, muss ein kleines Kompliment dennoch sein.