Liebend getan

Vielleicht hat der Eine oder die Andere gedacht, dass ich heute ein Gyrosbaguette essen würde. Und lag damit richtig. Allerdings nicht dort, wo sich die Crew, die mich vor zehn Jahren von der Straße gekratzt hat, am Tag meines Unfalls ihr Gyrosbaguette geholt hat. Denn den griechischen Imbiss gibt es nicht mehr. Und auch „meine“ Notärztin, die mich vor zehn Jahren im Heli begleitete und vermutet hatte, dass ich meine Verletzungen nicht überleben werde, gibt es leider nicht mehr. Sie ist, wie ich gestern erfuhr, im September letzten Jahres verstorben.

Warum, wieso, weshalb, weiß ich nicht. So alt, dass man damit rechnen müsste, war sie noch nicht. Sie hat mich in meinen gesundheitlich schwersten Minuten begleitet und korrekt behandelt. Ohne sie wäre ich vermutlich tot. Und trotzdem kannte ich sie nicht wirklich. Ich habe sie, einerseits aus einer Schüchternheit heraus, andererseits aus großem Interesse mal gefragt, warum sie Ärztin geworden ist. Sie hat geantwortet: „Aus Liebe.“ – Sie war eine „Institution“ für mich, keine Bekannte oder Freundin. Die Nachricht schockt mich, auch noch am heutigen „Tag danach“, extrem. Ich habe mit vielem gerechnet, dass sie mal versetzt werden könnte, inzwischen vielleicht gekündigt hat, woanders arbeitet – aber nicht mit ihrem Tod. Das berührt mich gerade sehr, und das nimmt mich emotional auch gerade sehr mit. Ich habe bereits einige Tränen vergossen. Es kam, zugegebenermaßen, höchst unerwartet.

Zehn Jahre ist der Unfall jetzt her. Zehn Jahre Querschnittlähmung. Sie sind vergangen wie im Flug. Ich hatte überwiegend eine schöne Zeit, wenngleich ich gerade in den letzten drei Jahren einige Erfahrungen gemacht habe, von denen ich noch nicht vollständig verstanden habe, wofür sie gut sein werden. Ich merke aber, dass mich diese Erfahrungen sehr viel gelassener, vorausschauender, kritischer und vor allem selbstbewusster gemacht haben. Und dass ich sehr viel über Menschen gelernt habe. Viele Eigenschaften, die mir bis dahin fremd waren, und die ich an mir sofort ändern würde, sind offenbar sehr verbreitet.

Ich bin früher eher still gewesen. Nicht schüchtern, aber ich mochte es nicht, wenn mich Menschen ansprachen. Wenn mich jemand nach dem Weg fragte, konnte ich darauf reagieren, die Uhrzeit bekam ich auch immer zusammen. Aber mit dummen Sprüchen bin ich früher eher selten konfrontiert worden. Das hat sich, seit ich im Rollstuhl fahre, enorm geändert. Eigentlich täglich sprechen mich in der Öffentlichkeit Menschen an. Gerade heute im Supermarkt wollte ebenfalls eine wildfremde Frau von mir wissen, ob ich eine Querschnittlähmung hätte. Zwischen dem Erdbeerregal und der Salatbar. Und sie erzählte mir, ohne dass ich es wissen wollte und während ich mein Gemüse zusammensuchte, dass sie mit einem sehr berühmten Ernährungsprogramm zwanzig Kilo abgenommen hat und dass sie es nicht mag, wenn Menschen mit ihren Handys laut im Supermarkt telefonieren.

Auch bin ich früher kein großes sportliches Licht gewesen. Heute habe ich eine gewisse Trainingsdisziplin, den Ehrgeiz, etwas schaffen zu wollen, und ich habe auch eine vergleichbar gute Kondition. Oft, wenn ich im Schwimmbad meine Bahnen ziehe, und ja, es können auch mal 100 Stück oder sogar noch mehr in einer Trainingszeit sein, sind Menschen davon fasziniert. Und dann denke ich oft: Leute, wenn ihr zehn Jahre das Schwimmen ohne Beine trainiert, würdet ihr das mindestens genauso gut können. Andererseits ist diese Bewunderung, die diese Menschen dann äußern, auch eine gewisse Motivation für mich. Offenbar trauen sie es sich dann doch nicht zu, sich am Schopf zu packen und sich einfach verbessern zu wollen.

Ich hatte früher, und auch dieses Thema wird oft angesprochen, auch von wildfremden Menschen, die dann aber meistens keine Antwort von mir bekommen, keinen Sex. Vor meinem Unfall habe ich mich nicht einmal selbst befriedigt. Klar, Busen hatte ich schon, Regel auch schon lange, aber sexuelle Bedürfnisse? Die waren einfach nie so ausgeprägt, dass ich sie gezielt befriedigen wollte oder sogar musste. Nach meinem Unfall war ich sehr neugierig, was geht und was ich empfinde. Und vielleicht ist das sogar sehr gut gewesen, weil ich so etwas dazubekommen habe, anstatt dass mir etwas weggenommen wurde.

An anderer Stelle wurde mir sehr viel weggenommen. Meine früheren Freunde, meine Eltern. Aber auch hier habe ich etwas dazu gewonnen: Marie mit ihrer Familie, einzelne Menschen, die ich im Blog nicht (mehr) erwähne, und auf die ich mich verlassen kann.

Ich weiß nicht, wie ich den Kreis schließen soll. Ich könnte jetzt noch ganz viel schreiben, um am Ende dieses Beitrags noch einmal zu meiner Heli-Ärztin zu kommen. Ich habe ihre Traueranzeige im Internet gesucht und gefunden. Ihre Urne wurde weit weg von Hamburg begraben, vermutlich an ihrem Geburtsort. Ihre beiden Eltern haben die Anzeige aufgegeben. Sie trägt einen Trauerspruch von Horatius Bonar (schottischer Geistlicher aus dem 19. Jahrhundert): „Nimmer vergeht, was Du liebend getan.“

16 Gedanken zu „Liebend getan

  1. Hi Jule,

    Alles gute zu Deinem 10. zweiten Geburtstag!

    Wie vermutlich viele andere in diesem Blog habe ich das Gefühl Dich und Deine Freunde zu kennen, obwohl ich Euch nie getroffen habe und mit ziemlicher Sicherheit auch nie treffen werden.

    Du hast Scheiße überwunden, mit der viele Menschen komplett überfordert gewesen wären.

    Es war sehr interessant und schön, miterleben zu dürfen, wie Du Dich entwickelt hast und Dein Leben gemeistert hast.

    Vielen Dank, dass Du mich teilhaben lässt.
    Beste Wünsche für Dich und alle Deine Freunde!

  2. Liebe Jule,

    ich möchte dir mein zutiefst empfundenes Mitgefühl und meine aufrichtige Anteilnahme ausdrücken.

    Manchmal passieren Dinge im Leben, bei denen man sich fragt: "Wie kann das sein? Wieso passiert so etwas? Das ist nicht fair!" Und irgendwie ist es so, dass es auf diese Fragen niemals eine Antwort geben wird. Du kannst es drehen und wenden, wie du willst. Du kannst dir den Kopf darüber zermatern und laufend daran denken. Du kannst stundenlang hin und her überlegen, was wohl passiert sein könnte und du kannst total niedergeschlagen und traurig sein. Das ist alles nachvollziehbar und nur allzu verständlich. Aber leider kannst du nicht erwarten, dass plötzlich jemand kommt und es dir erklärt. Man kann es auf unterschiedliche Arten interpretieren, dass so etwas passiert. Manche sagen, die Wege des HERRN sind eben unergründlich. Andere nennen es Schicksal, und wieder Andere sagen, das sei einfach der Lauf der Natur. Aber Julchen – ganz ehrlich: Deine Heldin sitzt dort oben auf ihrer Wolke und ruft dir zu, dass du nicht traurig sein sollst. DU bist jetzt die Ärztin und musst ab sofort viele verschiedene Aufgaben bestehen. Sie sieht dir dabei genau zu und ist mächtig stolz, dass aus der Person, die sie damals schon zu den Sternen hat reisen sehen, mittlerweile eine selbstbewusste, tolle junge Frau geworden ist, die das Herz am rechten Fleck trägt und mit dem *Spezialauftrag: Die Welt ein Stückchen besser machen* durch die Welt rollt. Für traurig sein ist also nicht viel Zeit!

    Ich kann dir aber nachfühlen. Vor einiger Zeit ist mein Schmerztherapeut völlig unerwartet verstorben. Er war auch nicht wirklich alt, ich glaube Mitte 50. Wenige Monate vorher war ich noch zur Behandlung bei ihm gewesen. Er hatte eine Art, die ich nur schwer beschreiben kann. Ruhig, geduldig, aufmerksam, freundlich, hilfsbereit. Er hört zu. Fragt gezielt nach. Und mit seinem weißen Haar, das fast die Schultern berührt, wirkt die ganze Situation, als säße man bei Jesus persönlich auf der Couch und würde sein Herz ausschütten. Die Kollegin, die mir morgens um 10 oder 11 Uhr plötzlich die Todesanzeige hinhält dachte, ich weiß das schon längst. Nein, leider nicht. Ich weine wie ein Schuljunge. Und könnte es immer noch.

    "Als der Regenbogen verblasste, kam der Albatros
    und trug mich mit sanften Schwingen weit über
    die sieben Weltmeere.
    Behutsam setzte er mich an den Rand des Lichts.
    Ich trat hinein und fühlte mich geborgen.

    Ich habe euch nicht verlassen, ich bin euch nur
    ein Stück voraus."

    (Verfasser unbekannt)

  3. Liebe Socke,
    Krokodilstränen hast Du hoffentlich noch nie geweint und wirst Du sicherlich auch nie weinen. Ich war selbst ein wenig geschockt, dass diese Ärztin, die ich mir als "mittelalterlich", zupackend und mitten im Leben stehend vorgestellt habe, verstorben ist. Viel zu früh, ganz offensichtlich. Deine Tränen waren mit Sicherheit echt, ehrlich betroffen, trauernd und Anteil nehmend.
    Ich bin immer wieder enorm beeindruckt, was für ein wunderbarer Mensch und tolle Ärztin aus Dir geworden ist.
    Danke, dass ich daran ein wenig teilhaben darf.
    Rike

  4. Hallo Jule,

    hast du mal überlegt, dich bei den Eltern deiner Ärztin zu melden und denen zu erzählen, was du ihrer Tochter zu verdanken hast? Ich finde die Idee eigentlich schön und ganz bestimmt beeindruckend für die Eltern, auf der anderen Seite ist das auch ganz schön viel für unbekannte Personen.

    War nur so ein Gedanke und ich bin neugierig, ob du auch darüber nachdenkst.

    Viele Grüße

    Jan

  5. Das ist wirklich sehr traurig.
    Ich freue mich für dich, dass ihr noch die Gelegenheit hattet, über deinen Beruf zu sprechen. Wenn ich mich recht entsinne, hat sie das sehr gefreut.
    Sie hat anscheinend aus den richtigen Motiven und mit den richtigen Motiven gelebt. Diese Kraft wünsche ich dir auch.

  6. Danke für den Hinweis mit den "Krokodilstränen", diese Bedeutung war mir nicht bekannt. Ich kannte "Krokodilstränen" als jene Tränen, die mir still über die Wangen kullern, ohne dass ich das großartig steuern oder unterdrücken kann. Ich habe es nun, um dieser Missverständlichkeit vorzubeugen, geändert.

  7. Warum den Kreis schließen?
    Offensichtlich machst du den Job aus ähnlichen Motiven. Und vielleicht wirst du auf deine eigene Art Menschen helfen, wie dir geholfen wurde.
    Braucht es da noch mehr?
    Eigentlich nicht.

    Also lass den Kreis offen damit noch mehr Gutes passieren kann.
    Mach weiter und danke für deinen Blog.

  8. Hi Jule,
    dieses Gefühl kenne ich. In einem etwas anderen Kontext, aber es geht in die gleiche Richtung. Und dann sitzt man auf einmal da und weint um einen Menschen, ohne ihn besonders gut gekannt zu haben. Einfach nur deshalb, weil man weiß, dass die Welt – und somit auch man selbst – durch diesen Todesfall einen großen Verlust erlitten hat. Es klingt pathetisch und sicherlich können manche Leute das nicht nachvollziehen, aber es gibt diese Menschen, die wirklich Spuren hinterlassen.
    Ich lass dir liebe Grüße hier.
    Nele

  9. "Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir weggehen." – Albert Schweitzer.

  10. Hi Jule,

    Wow! Ich bin gerade echt baff, dass bereits 10 Jahre vergangen sind, seit ich die ersten Beiträge einer jammernden, im Krankenhaus liegenden Stinkesocke gelesen habe.

    Seitdem habe ich jeden deiner Beiträge verschlungen und auch in deiner langen Sendepause immer wieder auf deinem Blog vorbeigeschaut – in der Hoffnung, endlich mal wieder ein Lebenszeichen von dir zu entdecken – und mich sehr gefreut, als dieses Lebenszeichen dann endlich kam.
    Dass du es geschafft hast, dich trotz aller Widrigkeiten von einer jammernden Stinkesocke zu einer starken, selbstbewussten, aktiven und (hoffentlich) glücklichen Frau zu entwickeln, ist wirklich eine beeindruckende Leistung, vor der ich nur meinen Hut ziehen kann!

    Ich hoffe, dass du jetzt endlich die größten Klippen erfolgreich umschifft hast, dass dein Idiotenmagnet schwächer wird und vor allem wünsche ich dir alles Gute auf deinem weiteren Weg mit so wundervollen Menschen, wie Marie und ihrer Familie an deiner Seite!

    Liebe Grüße,
    Banane

  11. Hallo,
    erstmal, alles gute für die Zukunft. Vergangenes ist Vergangen. Man wird wohl dazu stehen müssen, (ob man will oder nicht.) Und als fremder, finde ich kannst du auf die letzten 10(?) Jahre stolz sein, was du alles gemacht hast. Dein Blog hat mir doch immer wieder gezeigt, dass auch wenn mal was schief geht, es weiter geht. Man nicht daran verzweifeln muss und einen anderen weg suchen muss.

    Bei mir sind es irgendwas zw. 4-5 Jahre her, als ich strauchelte. Und zum Glück habe ich anscheinend mehr Glück mit meiner Familie (alle irgendwie verstritten aber wenn es hart kommt doch anscheinend zusammenarbeitend). Auch hatte ich glück, dass mir anscheinend ein Notlauf und doch einige harte (ich meine harte im Sinne von Denk nicht daran) Grenzen anerzogen worden sind. Seit dem bin ich beim THW, als gegengewicht, zu der vermeindlich reinen Leistungsgeselschaft. Ich stehe (mitlerweile) zu meinen beinahe Suizid versuch. Aber heute hörte ich wieder von einem der es leider nicht geschaft hat. Weil es immer noch nicht in der Geselschaft vermittelt wird, dass es in Ordnung ist zu sagen ich brauche hilfe. Ich bin gefühlt in einer Sackgasse bzw. habe mich verlaufen. Ich meine nicht kannst immer mit mir reden etc. Nein es muss vergelebt werden.

    Von daher wünsche ich dir noch mal alles gute für die Zukunft und hoffe dich nicht zu viel belasted zu haben.

    Mit freundlichen Gruß
    myasuro

  12. Liebe Jule,

    vor etwa einer Woche habe ich mal wieder auf deinen Blog geklickt und zu meiner großen Überraschung gesehen, dass du ja längst wieder schreibst!

    Jetzt habe ich die neuen Beiträge chronologisch verschlungen und möchte nur noch schnell sagen, wie sehr ich mich freue, dass die "Pause" um ist. Danke, dass du uns wieder teilhaben lässt!

    Ich freue mich schon auf den nächsten Post.
    Viele liebe Grüße,
    Johanna

  13. So hat sie dein Leben gerettet und mit Ihrem Vorbild deinen Berufsweg bestimmt – da hat sie ja eine Menge vollbracht.

    Vielleicht freuen sich die Eltern der Notärztin über eine Karte deinerseits, auf der du das kurz erklärst.

  14. Hallo Jule,
    Ich verfolge mit gewissen Pausen Deinen Blog von "fast Anfang an" und manches erinnert mich an das Schicksal meiner Frau,mit der ich nun seit 22 Jahren zusammen bin.
    Gute Zeiten, schlechte Zeiten…

    Es freut mich, das Du trotz aller Behinderungen (nicht Behinderung) Deinen Lebens immer wieder Deinen Weg beibehalten hast.
    Es mag für Außenstehende wohl grausam klingen, aber ich denke, dieser Unfall hat Dein Leben und die Sicht darauf zum Positiven verbessert und die kritischen und schlimmen Momente haben Dich immer mehr zu einem extrem starken Mensch werden lassen, der einen unvergleichlichen Blick in Hinsicht auf angeblich "benachteiligte" erarbeitet hat.

    Ich bewundere Deinen Lebenslauf, habe in allen Tiefen mitgelitten, mich über alle Höhen gefreut und lange gehofft, das Du eines Tages wieder darüber berichten würdest.

    Dieser erste totale Abschluss des Lebensziels ist der echte Höhepunkt und es ist wohl um so trauriger, das Dein Lebensretter nicht mehr unter uns weilt.
    Aber so ist leider der Lauf des Lebens.
    Sei glücklich darüber, das Du in ihre Fußstapfen treten und an ihrer Stelle anderen Menschen helfen und möglicherweise ihr Leben retten konnntest.

    Ich denke, das "Karma" ist mehr als erfüllt!!

    Ich wünsche auch weiterhin Mut, Stolz und eine immer erhobene Faust gegen alle möglichen Idioten 😉

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