Auberginen

Ich glaube: Eins der größten Probleme unserer Gesellschaft ist der sorglose Umgang mit Macht. Sorglos ist bereits, wer sich durch Vorurteile lenken lässt. Ja, ich weiß, davon ist niemand ganz frei. Und nein, ich weiß auch, dass statistisch gesehen mehr Jungs Fußball spielen und mehr Mädchen reiten. Vermutlich werden auch die meisten Frauen, die heute Kinder bekommen, ihre Töchter auch Fußball spielen und ihre Söhne auch reiten lassen.

Ich habe vor ziemlich genau acht Jahren von einem Freund anlässlich eines Workshops eine Botschaft gehört, die ich nach wie vor elementar wichtig finde: „Wir müssen aufpassen, dass nicht wir es sind, die den ersten Stein legen für eine Mauer, die später mal jemanden tatsächlich behindern wird.“

Ich bin erschrocken darüber, welche Kommentare ich zu meinem letzten Beitrag lesen musste. Einige waren so schlimm, dass ich sie nicht veröffentlichen will. Einige habe ich gelöscht.

Insbesondere wurde mehrmals indirekt gefragt, ob man über Gewalt, die mir oder einem Dritten angetan wird, sprechen soll. Meine Haltung dazu: Unbedingt! Ein Täter, der regelmäßig seine Überlegenheit durch die Anwendung von Gewalt demonstriert, kann (in unserer Gesellschaft) nur im Verborgenen agieren. Er ist nur deshalb verborgen, weil Geschädigte sich nicht trauen zu sprechen. Selbstverständlich muss man klug handeln und sicherstellen, dass ein Täter, der aus dem Verborgenen geholt wird, keinen Zugriff mehr auf die geschädigte Person hat. Aber so etwas gehört nicht verschwiegen und nicht verheimlicht. Damit unterstütze ich den Täter.

Es wurde mehrmals geschrieben, dass ich mich mit Helena überfordern würde und bloß die Finger von einem Kind lassen soll, das schon eine solche Vergangenheit hat. Ja, tatsächlich, es kann sein und es ist aus Statistikersicht bestimmt hochwahrscheinlich, dass Helena bereits einen Knacks hat. Aber: Es war nicht die Rede davon, dass ich sie adoptieren möchte. Wenn sie sich die Chance verbaut, vielleicht weil sie Dinge tut, die ich nicht tolerieren möchte, dann verbaut sie selbst sich ihre Chance. Aber ich werde weder aus Vorurteilen noch aus Angst eine ausgestreckte Hand wieder einziehen. Ich breche mir keinen Zacken aus der Krone, wenn hier zwei Nächte jemand pennt, der zu Hause geschlagen und mit Messern beworfen wird. Ich weiß um die Polemik des letzten Satzes.

Die zahlreichen Warnungen, das Kind gegen den Willen der Pflegefamilie bis Montag bei mir zu behalten, habe ich ebenfalls zur Kenntnis genommen. Soweit sie fürsorglich und freundlich gemeint waren, bedanke ich mich. Ansonsten muss ich aber sagen: Kein Gesetz kann von mir verlangen, ein Kind in einen Haushalt zu geben, in dem gewohnheitsmäßig körperliche und psychische Gewalt angewendet wird. Auch wenn sie vielleicht in den nächsten sieben Tagen nicht geschlagen wird, wer garantiert mir, dass die Pflegemutter nicht am Wochenende die freie Zeit für ein Pläuschchen genutzt hat, bei dem sie Dinge erfahren hat, die sie wieder Messer werfen lässt?

Ganz sicher werde ich Helena nicht verstecken. Sondern ich habe die Pflegeeltern inzwischen angerufen und ihnen gesagt, dass ich Helena erst am Montagvormittag vorbei bringe, weil ich in der Stadt, in der Helena wohnt, sowieso noch etwas zu erledigen habe. Die Pflegemutter war damit einverstanden. Sie wird also nicht plötzlich die Herausgabe des Kindes verlangen, sondern sei froh, dass sie noch eine weitere Nacht Ruhe hat. Und alle anderen Instanzen sind erst am Montag wieder ansprechbar. Sie in die Hände eines Notdienstes zu geben, kommt nicht in Frage, da keine akute, sondern nur eine latente (dafür aber erhebliche) Gefahr besteht. Das emotionale Verhältnis zu den Pflegeeltern, die die gesamte familiäre Beziehungssituation und die Kommunikationsebene zwischen Pflegeeltern und Helena sind so schwer gestört und laufen der Entwicklung des Kindes in so erheblichem Maße zuwider, dass ich mein Handeln für notwendig und angemessen halte. Zu dieser Einschätzung komme ich nicht nur anhand der Geschichten, die Helena erzählt, und deren Wahrheitsgehalt nicht überprüfbar ist. Hinzu kommt, dass sie in irgendeiner Notunterkunft vermutlich gar nicht korrekt medizinisch versorgt werden könnte und damit vermutlich in eine Klinik verlegt werden würde. Das alles ist unverhältnismäßig gegen einen um mehrere Stunden verlängerten, genehmigten Besuch in den Schulferien.

Ich werde auch weiterhin das Angebot machen (nicht Helena, sondern dem Jugendamt bzw. dem Vormund), dass Helena zunächst hier bleiben kann, bis eine geeignete Lösung gefunden ist. Ich rechne mit ein bis zwei Wochen und ich weiß zwar noch nicht, wie ich das mit meinem Job arrangieren kann, aber es wird schon einen Weg geben. Vielleicht findet sich aber auch etwas, was Helena hilft, ohne dass ich daran beteiligt bin. Selbstverständlich kommt sie morgen mit, wenn ich zum Jugendamt fahre.

Helena und Marie sind gerade in der Küche. Zum Mittagessen kochen beide ein Lieblingsgericht von Helena: Gedünstete Auberginen- und Möhrenscheibchen, selbst gemachte Kartoffel-Ecken, in Olivenöl gebratenes gewürztes Hühnerfleisch und dazu Tzaziki. Ich bin sehr gespannt. Heute morgen waren wir zu dritt an der Ostsee (wobei man eigentlich zu viert sagen muss, weil Maries Hund auch dabei war) und haben bei etwas kühlerem Wind in den warmen Wellen gebadet. Wir hatten ein aufblasbares Stand-Up-Board dabei, Helena bekam eine Schwimmweste an. Es hat alles sehr gut funktioniert. Die Hündin, die von Natur aus sehr kritisch gegenüber allen neuen Menschen ist, hat sich von Helena eine Viertelstunde lang den Bauch kraulen lassen und sich dazu komplett auf den Rücken gelegt. Sie scheint ihr zu vertrauen. Marie und ich tun das auch.

13 Gedanken zu „Auberginen

  1. Liebe Jule,
    Aus der Resilienzforschung ist schon lange bekannt, dass Kinder/Jugendliche in schwierigen Verhältnissen bereits dann profitieren, wenn sie immer wieder – und das meint nicht täglich – Kontakt haben zu einer liebevollen Vertrauensperson. Gleichzeitig ist es für Helfer wichtig, sich gut um sich selber zu kümmern, sonst geht jedem Helfer schnell die Puste aus. Du ahnst sicher schon, was ich dir an dein grosses Herz legen will: Nimm dich und v.a. deinen neuen Job genauso wichtig wie Helena. Auch schon in der kommenden Woche! Sorge genauso gut für dich und dein Wohlergehen wie für Helena. Die Inobhutnahme-Stellen des Jugendamtes sind oft tolle Familien oder Wohngruppen (ich kenne mehrere beruflich bedingt) – warum davor solche Angst?
    Die andere Seite: Was würde das bedeuten, wenn das Jugendamt eine schutzbefohlene Jugendliche mehrere Tage bei "Wildfremden" wohnen lässt, die keine Ausbildung als Pflegeeltern haben und nicht intensiv vom Jugendamt überprüft wurden?
    Ganz abgesehen davon darf tatsächlich über den Wohnort – auch für enige Tage – NUR die Person bestimmen, die das Aufenthaltsbestimmungsrecht für Helena hat. Bei Pflegeeltern liegt das fast immer beim Jugendamt – manchmal auch noch bei den leiblichen Eltern. Du darfst also wirklich nicht selber entscheiden, wo Helena ab Montag leben wird. Sei auf lange Sicht am Wochenende für da Mädchen da – das hilft ihr am meisten.
    Ich wünsche dir und auch Helena wirklich von Herzen das Beste.

  2. Ich habe da eine Frage/ein Gedankenspiel: Maries Eltern wissen doch bereits von Helena und ihrer Situation, da ihr am Anfang die beiden um Rat gebeten habt. Ich habe keine Ahnung wie die beiden im Leben stehen aber wäre es nicht eine Möglichkeit für alle, dass Maries Eltern Helena als Pflegekind aufnehmen? Ich meine, sie scheinen sehr offen und liebevoll zu sein und haben dich ja quasi auch schon als zweite Tochter. Ist das nicht eine Überlegung wert? Ich hoffe so sehr für sie und für euch, dass Helena in diese Familie nicht zurück muss. Und auch die Bedenken gegenüber Einrichtungen kann ich gut nachvollziehen, kenne die Erfahrungen durch meine beste Freundin.

  3. Liebe Jule,
    Ich drücke dir die Daumen für das, was du heute erledigst und dass alles in einer Bahn läuft, die sowohl für Helena gut als auch für dich machbar ist. Mit 12 kann sie noch in die Schulbetreuung gehen (sie hat vermutlich keine Ferien mehr?) oder in eine Ferienbetreuung die oft seitens der Städte/Gemeinden angeboten wird. Das ist zwar kurzfristig immer doof aber in der Regel sitzen da auch Menschen mit Verständnis für so spontane Probleme. Meine Daumen hast du.

  4. Ich hoffe einfach, dass Helena auch zukünftig Kontakt zu dir erlaubt wird. Ich sehe schon Potential für große Probleme. Das ist bei mir winfach berufsbedingt. Ich habe zu viele Menschen an ihren Ansprüchen an sich selbst scheitern sehen. Besonders wenn es um komplizierte Beziehungskonstrukte geht. Ich wünsche euch ehrlich und uneingeschränkt alles Gute!

  5. Ich finde es gut, wie Du handelst. Ich wünsche für dich, dass Du nicht enttäuscht wirst. Solche Kinder können ihre Wut, Hilflosigkeit und Agression auf Personen richten, die Ihnen helfen. Für das Mädchen wird das alles sehr schwer. Das weißst Du, darum lässt Du sie einige Tage bei Dir. Hut ab.

    Unter den Tisch kehren ist nicht gut.

    Weiter alles Gute

  6. Liebe Jule, ich wünsche euch, dass das so klappt, wie ihr es euch vorstellt. Für mich (völlig unerfahren in solchen Dingen) lesen sich deine Gedanken sehr nachvollziehbar. Jedes Kind hat das Recht, zumindest die Chance für eine glückliche Kindheit zu haben. Alles Liebe und Gute für euch!

  7. Viel Kraft wünsche ich euch. Kann nachvollziehen, wieso du so handelst und bin dankbar drum, dass es Menschen gibt, die hinsehen und handeln wenn scheiße passiert.

  8. Liebe Yule, nur kurz: du machst vieles gerade sehr gut und sehr richtig. Ich kenne einige Kinder , die durch das aufmerksam, verantwortungsbewusste und liebevolle eingreifen von menschen, die sich eingemischt haben, auf einen guten Weg gefunden haben. Pflegekinder man nicht nur übers Jugendamt. Meistens laufen sie einem in diesem Leben einfach irgendwie zu.

  9. Völlig richtig und okay.
    Zweifel an Ablauf und den Misshandlungen (Straftaten!) sind wohl fehl am Platze, Warheitsindikatoren gibt es tatsächlich, wobei du damit in deiner beruflichen Karriere noch in Kontakt kommen wirst (vielleicht sogar bereits hast, wahrscheiblich sogar musst, behaupte ich mal). Und wenn Helena eine Anzeige erstatten wird, wird ihre Aussage auch noch aufgenommen und auf Glaubhaftigkeit untersucht. Deshalb ist es auch wichtig, sie dahingehend nicht durch Suggestivbefragungen zu manipulieren.

  10. Liebe Jule,
    Genau dann, wenn Helena Dinge tut, die du nicht tolerieren willst, wenn sie sich eine Chance verbaut ( wie du schreibst) dann musst du zu dem Mädchen stehen! Sie mit all ihren Fehlern annehmen, wie sie ist. DAS ist die Aufgabe der Menschen oder Wohngruppe, in der Helena leben wird. Aufgrund ihrer Vergangenheit hat sie eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass ihr genau solche Fehler passieren werden. Frag dich und Marie ganz genau, ob ihr auch eine solche Helena aushalten könnt? Wenn ihr eine Beziehung aufbaut, dürft ihr sie nicht mehr im Stich lassen, ein weiterer Beziehungsabbruch wäre wirklich fatal für Helena. Also ist es JETZT wichtig, dass du und Marie diese Dinge ehrlich besprecht und dann festlegt, wieviel Distanz notwendig ist, dass ihr Helena auch bei Fehlverhalten begleiten könnt. Wenn du Helena nur alle 14 Tage triffst kann das in deiner jetzigen beruflichen und privaten Situation auf lange Sicht für euch beide (!) besser sein und Helena genauso gut tun, wie wenn jetzt eine grosse, enge Nähe besteht, die nicht auf Dauer zu leisten ist. Ich arbeite übrigens seit vielen Jahren mit Kindern/ Jugendlichen aus Pfegefamilien.

  11. Ich kann den Kommentar von 7.8.18/ 10:09 nur unterstützen.
    Ich habe ordentlich geschluckt als ich gelesen habe dass sie dann selbst schuld wäre wenn sie die Chance nicht nutzt.

  12. @07.08., 10.09 Uhr und 07.08., 19.08 Uhr:

    Ich habe nicht ausdrücken wollen (und meiner Meinung nach auch nicht ausgedrückt), dass Helena "selbst schuld wäre, wenn sie die Chance nicht nutzt".

    Meine Aussage war: "Wenn sie sich die Chance verbaut, […] dann verbaut sie selbst sich ihre Chance." Aber nicht jemand (ein Dritter), der Angst oder Vorurteile schürt. Was in den Kommentaren, auf die sich das bezieht, hinreichend getan wurde.

    Ich wurde mehrfach vor Helena gewarnt. Von Menschen, die sie überhaupt nicht kennen, die sich hier aber als Experten bezeichnet haben. Es wurde darüber geschrieben, wie Kinder, die schon einen Beziehungsabbruch in ihrer Lebenshistorie haben, sind.

    Ich bin nicht bereit, und das ist die Aussage dahinter, anlässlich solcher pauschaler Aussagen Helena die Chance zu verbauen. Sondern wenn das jemand macht, dann macht sie das ganz alleine und ist dann auch alleine dafür verantwortlich. Ich habe kein Wort darüber verloren, womit sie sich die Chance verbauen könnte.

    Ich bin mir der Tragweite meines Handelns (oder Nichthandelns) durchaus bewusst.

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