Aufräumen, Anfall

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Am Freitag muss ich unters Messer. Na gut, Messer ist übertrieben. Aber geschnibbelt wird schon. Oder vielleicht auch nur gestanzt. Unter meinem Fuß habe ich einen Pigmentnävus, also einen Leberfleck, den meine Hautärztin gerne entfernen möchte. Genauer genommen sind es zwei in einem, von denen einer asymmetrisch und in seiner Begrenzung unscharf ist. Für mich ist das unter dem Fuß weniger ein kosmetisches Problem, sondern ein gravierendes, was die Heilung der Wunde angeht. Da meine Füße weniger durchblutet sind und kaum bewegt werden, wird der Heilungsprozess wohl keine 10 bis 14 Tage, sondern eher zwei Monate dauern. Aber was sein muss, muss sein. Ich will ja nicht, dass daraus irgendwann mal ein Melanom wird.

Für die Wohnung meines Vaters haben wir eine Werkstatt für behinderte Menschen mit der Entrümpelung der Wohnung beauftragt. Emma und ich haben uns am Freitag dort erneut getroffen, um das zu begleiten. Pünktlich um acht Uhr morgens rangierte ein Lkw mit Hebebühne rückwärts auf den Parkplatz, zwei Personen saßen drin. Für einen Moment dachte ich, das wäre falsch kalkuliert worden, obwohl ich Fotos von der Wohnung per Mail geschickt hatte.

Doch dann kam noch ein vollbesetzter Kleinbus. Sieben Männer und Frauen, alle mit Sicherheitsschuhen, sandfarbener Latzhose, dunkelblauem Firmen-Hoody und Arbeitshandschuhen ausgestattet, stellten sich brav auf. Der Mensch, der den Lkw gelenkt hatte, kam auf mich zu und gab Emma und mir die Hand. Ich rollte dann einmal durch die Runde, um auch den anderen acht Leuten die Hand zu drücken.

Einer von ihnen fragte gleich: „Oh, du sitzt im Rollstuhl. Hast du auch Arbeit?“ – „Ja, hab ich.“ – „Das ist super!“, antwortete er und klopfte mir auf die Schulter. „Im Büro?“, fragte er weiter. Ich antwortete: „Nein, in einem Krankenhaus.“ – „Oh, da möchte ich nicht arbeiten. Da sind ja lauter kranke Leute!“ – „Mir macht das Spaß.“ – „Ich arbeite beim Möbel tragen. Das ist anstrengend. Aber besser als Gärtnerei. Da war ich vorher. Da hatte ich immer Husten und Schnupfen, weil wir immer draußen waren. Möbel tragen ist besser.“ – Sein Kumpel gab ihm einen Stoß in die Rippen: „Wir sollen nicht so viel sabbeln, wir sind zum Arbeiten hier.“ – Er rieb sich grinsend seine Hände und konnte es kaum erwarten, dass es los ging. Dann sagte er zu sich: „Und immer dran denken: Wir können keinen Schaden gebrauchen. Nicht gegen die Wände ballern und die Türrahmen ganz lassen.“ – Ein anderer, sehr kräftiger Typ, sagte: „Wie kannst du am Morgen schon so viel labern, ey!“

Nachdem das geklärt war, wurde sondiert. Die Gegenstände, die noch brauchbar waren, bekamen eine Kennzeichnung und sollten zum Schluss heruntergetragen werden. Alles andere nahm seinen Lauf. Irgendein Nachbar stand plötzlich in der Wohnung und kam auf mich zu: „Was ist denn hier los?“ – „Wohnungsauflösung.“ – „Ist er im Heim? Oder … verstorben ist er nicht, oder?“ – „Mein Vater ist verstorben, ja.“ – „Oh, das tut mir leid. Ich habe mich immer schon gefragt, ob er keine Kinder hat, die sich um ihn kümmern, aber Sie sind ja auch behindert. Sind das alles Schwachsinnige, die hier heute helfen?“ – „Nein.“ – „Aber normal sind die doch nicht, oder?“ – „Doch, völlig normal.“ – „Ich dachte, das wären Schwachsinnige, ich habe den Lkw mit der Aufschrift draußen gesehen.“ – Ich wandte mich ab. Hätte er nochmal ‚Schwachsinnige‘ gesagt, wäre mir der Kragen geplatzt. Zum Glück waren alle so beschäftigt, dass sie das nicht mitbekamen. Emma übernahm das Wort: „Am besten gehen Sie jetzt mal wieder aus der Wohnung, wir haben hier zu tun. Guten Tag!“

Die Aufgaben waren klar verteilt. Ein Anleiter schraubte zusammen mit einem Mitarbeiter die großen Möbel auseinander, alle anderen trugen den ganzen Kram die Treppen runter. Der andere Anleiter stand unten und belud den Lkw. Nach drei Stunden war der gesamte Sperrmüll im Auto. Einschließlich des ganzen Gerümpels aus dem Keller. „Wir fahren das jetzt weg und machen Pause, anschließend räumen wir dann die Sachen aus, die bei uns aufbereitet und weiterverwendet werden.“

Um 14 Uhr war die Wohnung besenrein. Während die ganzen Leute unten an den Fahrzeugen warteten, füllte jemand mit mir die Papiere aus. Ich fragte: „Dürfen Ihre Mitarbeiter Trinkgeld bekommen?“ – „Nachdem alles erledigt ist, ja.“ – „Was wird da so gegeben?“ – „Das ist unterschiedlich. Bei so einem Auftrag zwischen zwei und zwanzig Euro. Einige geben aber auch gar nichts.“ – Mit Blick darauf, dass diese Menschen durchschnittlich etwa 160 bis 180 Euro im Monat verdienen, über die sie frei verfügen dürfen, stellt sich mir die Frage nach einem Trinkgeld nicht. Es ist alles zügig abgearbeitet worden, es ist nichts beschädigt worden – das hätte eine andere Firma auch nicht besser gemacht. Ich war entsprechend vorbereitet und gab sieben Leuten jeweils 20 Euro. Alle bedankten sich, mein redseliger Freund, der nicht im Krankenhaus arbeiten wollte, klatschte in die Hände und sagte: „Das hat sich ja mal wieder gelohnt! Und das nimmt mir keiner weg! Trinkgeld ist Trinkgeld! Das kommt zu Hause gleich in meine Spardose.“ – „Worauf sparst du denn? Darf ich das wissen?“ – „Auf ein Tablet. Filme gucken bei Youtube. Aber keine Pornos, dann wird Nina richtig sauer. Die kann richtig ausrasten.“ – „Nina ist deine Freundin?“ – „Wir sind Silvester acht Jahre zusammen. Guck!“, sagte er und zeigte mir nicht etwa ein Foto von ihr, sondern acht Finger.

Da der Mietvertrag eine unwirksame Renovierungsklausel hat, werden wir die Wohnung nur besenrein übergeben. Der Vermieter hat sich bereits darauf eingelassen. Er wollte lediglich eine Sterbeurkunde sehen und hat die Kündigung, die eigentlich erst zum 28. Februar möglich wäre, zum 15. Dezember akzeptiert. Vermutlich will er keinen Leerstand und ab Januar neu vermieten. Oder ist froh, wenn das Kapitel ein Ende hat. Oder dass er nicht selbst aufräumen musste. Keine Ahnung.

Worüber ich sehr sauer bin: Die Stelle, die seine Pension zahlt (er war Beamter), hat seine Bank über seinen Tod informiert. Mit der Folge, dass die das Konto gesperrt hat und alle Abbuchungen zurückgerufen hat. Mit entsprechenden Gebühren. Miete, Telefon, Strom, Zeitungs-Abo. In Zeiten, in denen Datenschutz groß geschrieben wird, ist das höchst interessant. Die Bank möchte einen Erbschein, vorher reden sie nicht mit mir. Sagenhaft!

Auf dem Rückweg, keine zehn Kilometer vor meinem Zuhause, die Ostsee ist schon in Sichtweite, steht auf einer Bundesstraße im Tempo-50-Bereich, am Ende einer Ortschaft, ein Kleinwagen am gegenüberliegenden Straßenrand. Daneben, auf dem Gehweg, liegt eine Frau. Ein Mann, vermutlich der Fahrer, schüttelt und rüttelt sie. Hatte er sie angefahren? Mein Herz beginnt zu rasen. Da die Straße frei ist, fahre ich nach links auf die andere Straßenseite, schalte das Warnblinklicht ein und kann so auf der Gehwegseite aussteigen. Der Mann ist völlig hektisch. Rollstuhl zusammenbauen, Handy mitnehmen. „Was ist passiert?“

„Meine Freundin hat im Auto einen Anfall bekommen und um sich geschlagen. Sie ist Epileptikerin. Sie blutet aus dem Mund.“ – Die Frau lag ruhig auf dem Gehweg und atmete tief. „Drehen Sie sie mal bitte auf die Seite. Nicht, dass das Blut in die Lunge läuft. Und haben Sie eine Decke im Auto? Holen Sie die mal bitte.“ – „Sie hat hier so ein Medikament, das soll ich ihr geben, hat sie mir mal gesagt. Das kommt in den Po.“ – Er war völlig überfordert und drückte mir ein Valium-Klistier in die Hand, rannte aufgeregt auf und ab. „Holen Sie mal bitte die Decke“, sagte ich. Ich setzte mich aus dem Rollstuhl auf die Erde, mit angewinkelten Knien auf meine Fersen, und drehte sie in die stabile Seitenlage. Blut lief ihr aus dem Mund. Sie hatte sich offenbar auf die Zunge gebissen. Ich kniff ihr mit aller Kraft in den Oberarm. Sie verzog das Gesicht. „Ihre Freundin schläft nur. Atmung und Puls sind völlig normal.“ – „Sie braucht dieses Medikament.“ – „Das braucht sie nur, wenn der Anfall nicht aufhört. Wie lange hat sie gekrampft?“ – „Vielleicht eine Minute. Sie war vorher schon so merkwürdig still und angenervt. Sind Sie sicher, dass sie das Medikament nicht braucht?“ – Ich sagte ihm, was ich beruflich mache und im selben Moment entspannte sich sein Gesicht, seine ganze Haltung, und er fing zu weinen an. – „Tschuldigung“, sagte er und drehte sich weg. „Ich kann sie nicht leiden sehen.“

Hauptsache, er kippt mir nicht auch noch um. Weitere Autos hielten nach und nach an. Merke: Sobald einer Erste Hilfe leistet, kommen weitere dazu. Leistet keiner Erste Hilfe, möchte kaum einer der Erste sein, und alle fahren vorbei. Zum Glück fing niemand an, mit dem Handy zu filmen. Womit man ja heute immer rechnen muss. Ich schickte die Leute weg. Ein Rettungswagen sei unterwegs. Das erschien mir angesichts des überforderten Freundes die beste Lösung zu sein. Gefühlte zehn Minuten später kam der Rettungswagen. Als die Sanitäter sie auf die Trage hoben, machte sie die Augen auf und guckte mich an, seufzte tief. Sprach wenige Worte. Wollte ins Krankenhaus. Am Ende saß ich völlig durchgefroren wieder im Auto. Vielleicht sollte ich mir, wie Maries Mutter, doch mal einen Notfallrucksack ins Auto stellen. Problem dabei ist nur: Die Anschaffungskosten trage ich. Die Kosten für den ständigen Ersatz der Medikamente, die mal Frost und mal Hitze abbekommen, auch. Das Risiko, dass einer das Auto knackt, um an die Tasche zu kommen, wäre sehr hoch. Und für einen vernünftig sortierten Rucksack legt man gut und gerne 500 Euro oder mehr hin. Hingegen soll der Rettungsdienst, der den ganzen Kram an Bord hat, nach acht bis zehn Minuten vor Ort sein. Das kann zu spät sein, und dann werde ich mir Vorwürfe machen. Andererseits … ach, ich weiß nicht.

Nass und rot

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Für den kommenden Donnerstagmorgen lädt uns das Jugendamt zu einem Gespräch ein. Wir werden gebeten, Helena dafür aus der Schule zu nehmen. Ich gehe davon aus, dass man uns spätestens dann sagen wird, ob Helena bei uns bleiben darf. Ich muss gestehen, dass ich schon jetzt extrem nervös bin. Ich hoffe, dass alles gut wird. Bitte drückt uns die Daumen!

Wir kommen inzwischen wirklich sehr gut miteinander zurecht. Wenn ich zurückdenke an ihre ersten Tage bei uns, hat sie sich wirklich sehr positiv verändert. Sollte sie nicht bei uns bleiben können, dürfte sie uns vermutlich immer wieder besuchen. Aber es würde uns allen Dreien das Herz bluten. Auch wenn wir alle wissen, dass ein Zusammenleben kein Spaziergang ist und auch nie sein wird, ziehen wir alle sehr viel positive Energie und Kraft daraus.

Auch wenn es immer wieder Situationen gibt, in denen ihre Vergangenheit sie einholt. Zuletzt hatten wir eine Situation, die einerseits so banal, andererseits so emotional war, dass ich für einen Moment zweifelte, ob wir überhaupt etwas richtig machen. „Alles“ macht sowieso niemand richtig, aber … mehrheitlich … irgendwie. Hoffentlich. Helena kommt aus der Schule, redet kaum, gibt kurze knappe Antworten, stochert in ihrem Essen, weicht meinen Blicken aus, guckt nach unten, ist aufgeregt, fast schon fahrig, kämpft offensichtlich mit ihrem Gewissen. Ich spüre, dass sie reden möchte, aber sich nicht den entscheidenden Ruck geben kann. Hat sie eine Klassenarbeit in den Sand gesetzt? Sich mit jemandem gestritten? Irgendwas verloren, beschädigt? Was ausgefressen? Mädchen, rede mit mir. Geteilte Sorgen sind halbe Sorgen und ich fress dich nicht auf. Ich darf nicht anfangen zu glauben, dass ich die Ursache für dieses Verhalten gesetzt habe.

Irgendwann war ich mit meinem Essen fertig. Sie stocherte in den Nudeln, schob sich von Zeit zu Zeit mal eine in den Mund, stocherte weiter. Ich rollte ein Stück vom Tisch weg. „Komm bitte auf meinen Schoß und lass dich trösten.“ – Sie schüttelte den Kopf. Ich sagte: „Du brauchst mir nicht zu sagen, was dich bedrückt, aber ich möchte, dass dich jetzt mal jemand in den Arm nimmt und dich lieb hat.“ – Wie auf Kommando kam sie auf meinen Schoß, klammerte sich an mich und fing bitterlich an zu weinen. Ich drückte ihren Kopf an meine Schulter. Sie würde gleich reden. Geduld ist gefragt.

„Ich bin so extrem wütend auf mich. Ich hab die totale Scheiße gebaut und möchte mich am liebsten selbst dafür verprügeln. Ich hasse mich“, schluchzte sie. Ich streichelte ihren Kopf. Irgendwann guckte sie mich an: „Jule, ich kann dir nicht sagen, was ich gemacht habe. Ich habe solche Angst, dass …“ – Sie sprach es nicht aus. Ich sagte: „Niemand verlangt von dir, dass du nie einen Fehler machst.“ – „Ich sag das jetzt einfach. Es bleibt dabei, du schlägst mich nicht, oder?“ – „Nein, Helena. Großes Ehrenwort. Egal, was du gemacht hast, ich schlage dich nicht.“ – „Du kriegst Post von der Polizei. Und ich habe dich angelogen. Dabei wollte ich das nie wieder tun und es hat so gut funktioniert, wenn ich die Wahrheit sage. Ich hasse mich.“

Seufz. Post? Hatte sie geklaut? Wohl nicht, dann hätte man sie wohl vorbei gebracht. Oder ich hätte sie abholen dürfen. Fangen wir mal mit der Lüge an. „Helena, alle Menschen lügen. Jeden Tag. Es ist nicht möglich, das ganz abzuschaffen. Mir ist aber wichtig, dass wir uns nicht belügen, weil wir über alles reden können. Und mir ist wichtig, dass du nicht alle Fragen beantworten musst. Du kannst immer sagen, dass du nicht antworten möchtest. Das ist besser als zu lügen.“ – „Aber dann kennst du die Antwort doch auch, wenn ich nichts sagen will.“ – „Nicht unbedingt.“ – „Doch.“

Okay. Irgendwann beruhigte sie sich und sagte: „Du hast mich neulich gefragt, warum das eine T-Shirt auf dem Wäscheständer so nass ist.“ – War das jetzt etwa das Problem? Ich wollte die Wäsche abnehmen, alle Sachen waren trocken, nur ein T-Shirt war fast tropfnass. Auf meine erstaunte Nachfrage hatte Helena gesagt, sie habe sich beim Zähneputzen mit Wasser bekleckert, sie habe es anschließend ausgespült und auf den Wäscheständer gehängt. Ich hatte ihr gesagt, sie könne das auch einfach zur Schmutzwäsche tun. Damit war das für mich erledigt. Hätte sie auf meine Frage: „Wieso ist das denn noch so nass?“ einfach mit „Keine Ahnung“ geantwortet, wäre es auch erledigt gewesen. Es war meinerseits ein erstaunter Kommentar.

Nun sagte sie: „Ich habe dich angelogen. Ich war damit in der Badewanne.“ – „In der Badewanne? Hast du schon mal für den Rettungsschwimmschein geübt?“ – „Ich hab was ausprobiert.“ – „Das musst du mir nicht erzählen. Ich finde es nur schade, dass du mich angelogen hast. Habe ich dich zu sehr unter Druck gesetzt mit meiner Frage?“ – Sie guckte mich erstaunt an: „Ich selbst. Ich wollte, dass es keiner merkt und als dann die Frage danach kam, habe ich mich tierisch erschrocken und falsch reagiert.“ – „Das darf dein Geheimnis bleiben. Ich wollte dich mit der Frage nicht in die Enge drängen. Ich hatte mich nur gewundert. Wir sind übrigens früher nach dem Training oft mit den Sportklamotten in den Badesee gesprungen. War ein lustiges Gefühl, wenn das so auf der Haut klebt.“ – „Kannst du mir verzeihen?“ – „Ja. Ist vergessen. Und was ist das mit der Polizei?“

„Ich bin aufgeschrieben worden. Ich habe gesagt, dass ich hier wohne. Der Polizist hat gesagt, es gibt demnächst Post und es kostet fünf Euro. Ich muss das selbst bezahlen vom Taschengeld und ich soll meine Eltern schonmal darauf vorbereiten.“ – „Oha, fünf Euro? Was hast du denn angestellt?“ – „Ich bin bei Rot über die Ampel gegangen.“ – „Du weißt schon, dass du mit 12 Jahren ein Vorbild für die jüngeren Schüler an eurer Schule bist? Wenn die das nachmachen, ohne zu überblicken, ob die Straße frei ist, ist das sehr gefährlich.“ – „Da waren keine jüngeren Schüler.“ – „Das weiß man nicht, den Polizisten hast du ja auch nicht gesehen. Oder?“ – „Wir waren nach Schulschluss in einer Vierergruppe, die anderen sind weggerannt und ich kam nicht so schnell hinterher und hätte mich fast noch auf die Fresse gelegt.“ – „Na super. Helena, bei Rot darf man nicht über die Ampel.“ – „Soll ich jetzt sagen, dass es nicht wieder vorkommt? Ich will das nicht versprechen. Und dann bleibe ich als Einzige an der leeren Straße stehen, während meine Leute schonmal vorgehen?“ – „Im Prinzip ja.“ – „Du bist noch nie bei Rot über die Straße?!“ – „Doch. Wenn man das aber zum Beispiel mit dem Auto macht, kann das richtig teuer werden. Mit Fahrverbot und so.“ – „Ich zahl die fünf Euro vom Taschengeld. Und dann ist gut. Okay?“ – „Ja. Geht es dir jetzt besser?“ – „Ich bin immernoch wütend auf mich selbst.“

Ich weiß, dass Kinder in dem Alter viele Dinge noch falsch einschätzen. Ich merke aber auch, dass sie früher unheimlich unter Druck gesetzt worden sein muss. Dass sie noch immer Angst hat, bestraft zu werden. Und diese Angst generell da ist und nicht personenbezogen. Ob die bisherigen Pflegeeltern eine Ahnung davon haben, was sie angerichtet haben?