Dickes Brett

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Ich erinnere mich noch gut an meine eigene Schulzeit. Als ich so alt war wie Helena und die 8. Klasse besuchte, war ich, genauso wie sie mit ihren 13 Jahren, ganz oft im Reitstall. Ich habe mich damals, genauso wie Helena heute, mit noch zwei anderen Mädchen um ein wunderschönes Pferd gekümmert, dass einer Reiterin gehörte, die nur am Wochenende Zeit hatte. Sie hatte noch ein zweites Pferd, das wir regelmäßig reiten durften. Ich erinnere mich gut, dass ich meistens um 15 Uhr, selten erst um 15.30 Uhr dorthin gefahren bin. Ich hatte meine Hausaufgaben fertig. Vielleicht musste ich abends vor dem Einschlafen hin und wieder nochmal ein paar Vokabeln wiederholen. Aber das war es.

Helenas Schule hat ein Ganztagsprogramm, das täglich Mittagstisch sowie bis 16.00 Uhr Unterricht und Hausaufgabenbetreuung anbietet. An inzwischen vier Wochentagen gibt es darüber hinaus noch ein offenes Programm bis 20.00 Uhr, am Freitag sogar bis 21.00 Uhr. So etwas gab es bei mir früher nicht. Die Teilnahme bis 16.00 Uhr ist verpflichtend, wobei für die letzte Doppelstunde eine sogenannte „vereinfachte Freistellung“ beantragt werden kann. Mit Unterschrift der Eltern kann das Kind einmalig um 14.15 Uhr die Schule verlassen, ohne dass Gründe angegeben oder eine Genehmigung abgewartet werden müssen. Es reicht die Bitte, freizustellen. Allerdings ist so eine Freistellung immer nur einen Tag lang gültig. Helena, die an einem Tag früh zur Physiotherapie soll, muss jede Woche so einen Zettel vorlegen. Aber es ist okay.

Helena fährt meistens um 16.00 Uhr direkt weiter zum Reitstall, ist dann mit ihren Hausaufgaben bereits fertig. Wenn sie abends nach Hause kommt, essen wir noch was zusammen und dann fällt sie ins Bett. Nun schreibt Helena in den Wochen bis Weihnachten noch insgesamt sechs Klassenarbeiten, für die sie lernen muss. Während es mir in dem Alter für Klassenarbeiten oft gereicht hat, den Stoff am Vorabend noch einmal durchzulesen, möchte Helena gerne abgefragt werden und intensiv üben. Das geht während der Hausaufgabenzeit nicht, das müssen wir zu Hause machen. Nach dem Abendessen ist sie nicht mehr aufnahmefähig, also fällt das Reiten aus. Wohlgemerkt: Das ist keine Auflage von Marie und mir, sondern ihre freiwillige Entscheidung. Bei neun Klassenarbeiten oder Tests alleine im Dezember ist klar, dass sie theoretisch einen ganzen Monat lang nicht mehr in den Reitstall kann.

Und als würde das noch nicht ausreichen, haben zwei Lehrkräfte ihr noch eine Vorbereitungsarbeit für die Weihnachtsferien aufgedrückt. Am zweiten Schultag nach den Ferien wird eine Deutscharbeit geschrieben, dafür soll sie sich „Kassandra“ von Christa Wolf reinziehen und interpretieren. Ich kenne das Werk nicht, aber Susi hat mir erzählt, dass sie das im Leistungskurs Deutsch in der 12. Klasse hatte. Sie sagte, dass sie damals selbst mit Grundkenntnissen der griechischen Mythologie nur deshalb durchgestiegen ist, weil sie parallel einen Zeitstrahl und ein Beziehungsgeflecht gemalt hatte. Die Klassensprecherin in Helenas Klasse habe bereits protestiert, darauf vom Deutschlehrer aber nur gehört: „Natürlich ist das über die Ferien freiwillig. Wer es nicht liest, ist dann zur Klassenarbeit eben schlecht vorbereitet.“

Die Englischlehrerin kam noch mit dem Wunsch daher, ein Buch anzuschaffen. 118 Seiten in A6, nur Englisch. Bitte eine schriftliche Zusammenfassung verfassen, acht Fragen beantworten (zum Beispiel Frage 1, auf Englisch wohlgemerkt: „Wie beurteilst du das Verhältnis von … und … zueinander, an welches berühmte Werk erinnert dich dieses Verhältnis und welche Gefahr birgt sich in ihm?“)

Helena macht das alles ohne Murren und Knurren. Aber ich finde das nicht gut. Ein knapp 14 Jahre altes Kind muss auch Freizeit haben. Es kann nicht sein, dass sich alles nur noch um Schule, Physiotherapie, Ergotherapie, Psychotherapie und Schlafen dreht, der Sport (eigentlich schwimmt sie noch neben dem Freizeitreiten) gar nicht mehr stattfinden kann, sie abends um acht von sich aus ins Bett geht, an den Wochenenden nicht vor 12 Uhr mittags aus dem Bett kommt und so weiter. Ich sehe langsam das Burnout auf uns zukommen. Zumal Helena ja ohnehin sehr viel langsamer schreibt.

Womit ich beim nächsten Thema bin: Sie hat, wegen ihrer Behinderung, eine Zeitverlängerung bei Klassenarbeiten und Tests. Aktuell liegt sie bei 30 Prozent und mindestens fünf Minuten. Schreibt die Klasse also eine Klassenarbeit über zwei Schulstunden, also 90 Minuten, darf Helena 117 Minuten lang Zeit beanspruchen. Darüber gibt es einen schriftlichen Bescheid, den alle Lehrkräfte kennen.

Wenn eine Doppelstunde lang geschrieben wird, dann ist nach den 90 Minuten in der Regel die große Pause. Helena darf also die große Pause (15 Minuten) sowie 12 Minuten der nächsten Stunde noch für ihre Klassenarbeit nutzen, während alle anderen spätestens zu Beginn der großen Pause abgeben mussten.

Ich möchte unbedingt vorweg schicken, dass die große Mehrzahl der Lehrkräfte an der Schule Helena vollkommen korrekt, verständnisvoll und gerecht behandelt und benotet. Viele machen sich einen Kopf, überlegen sich, wie sie Helena gut teilhaben lassen. Viele erkennen an, dass Helena fleißig ist und genauso viel versteht wie die anderen Kinder auch – oft sogar mehr. Dass das Mitschreiben oder das Aufschreiben aber etwas länger dauert, dass sie in Bewegung und Koordination eingeschränkt ist. Sie fordern sie, sie geben ihr keine Sonderrolle. Sie achten darauf, dass es ein gutes Miteinander in der Klasse gibt, dass die Schülerinnen und Schüler füreinander Verständnis haben und sich gegenseitig wertschätzen. Sie haben ein offenes Ohr, gehen auf die Kinder ein, reißen sich oft den Allerwertesten auf, kümmern sich, identifizieren sich. Machen einen guten Job.

Ich will zudem allen Lehrkräften zugute halten, dass es viel zu wenig Personal gibt, dass viele kaum bis gar nicht auf inklusiven Unterricht vorbereitet wurden und heute überfordert sind. Ich möchte denen, wo es nicht läuft, gar keinen bösen Willen unterstellen, das wäre sicherlich nicht korrekt. Aber bei einzelnen der hiesigen Pädagogen gibt es mit Sicherheit eine Gedankenlosigkeit und ein viel zu dickes Fell.

Übel 1: Die Lehrkraft möchte auch ihre Pause haben und sammelt mit dem Beginn der großen Pause alle Hefte ein, schickt die Schüler aus der Klasse und verschwindet. Die Lehrkraft lässt Helena also alleine weiterschreiben. Zum Ende der großen Pause kommen die anderen Schüler wieder rein und sind natürlich alles andere als leise. Die Lehrkraft der Folgestunde beginnt ihren Unterricht und labert rum, malt Tafelbilder, beginnt Dialoge, während Helena immernoch schreibt und sich auf ganz andere Dinge konzentrieren muss. Irgendwann sammelt die Lehrkraft der Folgestunde Helenas Heft im Auftrag ein und reicht es nach der Stunde an die andere Lehrkraft weiter.

Es würde zu weit führen, das hier wissenschaftlich abzuhandeln, aber es lässt sich medizinisch erklären, warum Menschen mit Cerebralparese leichter ablenkbar sind als Menschen ohne Hirnverletzung. Menschen mit Cerebralparese fällt es im Allgemeinen sehr viel schwerer, sich zu fokussieren. In der Folge gelingt es auch unverhältnismäßig schwer, sich zu konzentrieren. Wenn nun im Klassenraum während einer Leistungsüberprüfung Papierflieger geworfen werden, Mitschüler grölend zwischen Tafel und Helenas Tisch oszillieren, allgemein rücksichtslos gequatscht und gelacht wird, dann noch Unterricht, vielleicht in fremder Sprache, stattfindet, fällt es einem nicht eingeschränkten Menschen schon schwer, für sich dieselben Bedingungen auszumachen, die in der Stunde zuvor herrschten. Im Ergebnis hat Helena also nicht dieselben Bedingungen für ihre Klassenarbeit wie die anderen Schüler, sondern ist benachteiligt. Trotz ihres Nachteilsausgleichs.

Übel 2: Die Klassenarbeit wird offiziell auf 70 Minuten angesetzt. Die Klassenarbeit soll also in 70 Minuten schaffbar sein. Mit ihrer Zeitverlängerung kommt Helena nun auf ziemlich genau 90 Minuten. So muss die Lehrkraft niemanden durch die Pause hindurch betreuen. Die Klassenarbeit wird aber nicht nach 70 Minuten eingesammelt, sondern die anderen Schülerinnen und Schüler dürfen „überziehen“ – bekommen also einen Bonus bis zu dem Zeitpunkt, an dem Helena fertig sein muss. Im Ergebnis sind also alle gleichzeitig fertig und Helena hat keine Zeitverlängerung bekommen. Die Klassenarbeit ist auch nicht in 70 Minuten zu schaffen und dieselbe Arbeit war im Schuljahr vorher noch für 90 Minuten angesetzt. Wenn die Lehrkraft allen nun 20 Minuten Bonus gibt, Helena aber nicht, ist Helena benachteiligt. Trotz ihres Nachteilsausgleichs. Helena hat das der Lehrkraft gegenüber als „Taschenspielertrick“ bezeichnet. Der Ausdruck gehört sich natürlich nicht und sie hat sich für diese Wortwahl auch bereits schriftlich entschuldigen müssen. Gleichwohl halte ich an der von ihr beabsichtigten Aussage, einer Benachteiligung durch Schönrechnen, fest. Damit konfrontiert, dass die Lehrkraft Klassenarbeiten zu 90 Minuten schreiben müsse (laut Lehrplan), antwortete sie: „Die Schülerinnen und Schüler durften ja 90 Minuten schreiben.“ – Also mit anderen (meinen) Worten sagt die Lehrkraft damit aus: Nachteilsausgleiche interessieren mich nicht. Oder ich nehme sie zumindest nicht ernst.

Übel 3: Die Klassenarbeit wird in einem Fachraum geschrieben, der per Rollstuhl nur über einen Aufzug erreicht werden kann. Helena ist pünktlich in der Schule, hat auch einen Transponder, um den Aufzug rufen zu können, allerdings kommt der nicht. Der Aufzug sei laut Display fahrbereit, stehe aber im dritten Stock. Alles Klopfen und Rufen hilft nichts in den lauten Gängen, die Mitschülerinnen und Mitschüler wollen schnell an ihren Platz und können leider nicht nach dem Aufzug schauen. Der Schulhausmeister ist unterwegs, die Sekretärin hat erst in 20 Minuten kurz Zeit. Inzwischen hat die Stunde begonnen. Helena lässt also ihren Rollstuhl im Erdgeschoss stehen und klettert mit Rucksack (da ist ja ein wertvoller Laptop drin) auf dem Rücken Stufe für Stufe bis ins dritte Stockwerk hoch, um dort einen verlassenen Putzwagen aus der Lichtschranke zu ziehen, mit dem Aufzug runterzufahren, ihren Rollstuhl zu holen, in den Fachraum zu fahren und dann … am Ende keine Zeitverlängerung mehr zu bekommen. „Wer zu spät kommt, kann nicht noch Vergünstigungen in Anspruch nehmen.“ – Sie traut sich dann nicht zu widersprechen, ist emotional so angespannt, dass sie sich nicht mehr gut konzentrieren kann. Ich habe ihr empfohlen, künftig dann als letzte Zeile zu schreiben: „ZV verweigert, 11:20 Uhr unfertig abgeben müssen.“ – Ich dachte, dass so etwas die Lehrkraft vielleicht zu einem schriftlichen Kommentar verleitet. Nö: Sie malt einen Smiley dahinter.

Übel 4: Es wird ein Vokabeltest geschrieben. Die Lehrkraft diktiert die Vokabeln, die Schülerinnen und Schüler sollen sie auf einen leeren Zettel notieren, Übersetzung dahinter. Anschließend wird eingesammelt. 15 Vokabeln in zehn Minuten. Helena dürfte nun noch fünf Minuten länger schreiben (Mindestverlängerung). Aber die Lehrkraft sammelt alle Zettel ein, Helenas sogar zuerst, weil sie vorne sitzt. Begründung: Bei zwei Stunden mache eine Zeitverlängerung Sinn, drei Minuten hingegen seien ja auf einer analogen Uhr kaum zu erkennen. Während die anderen Schülerinnen und Schüler schon beim Diktieren schnell die Übersetzung dazugeschrieben haben, hat Helena sich darauf konzentriert, alle diktierten Wörter mitzubekommen und möglichst keins auszulassen. Es ist unheimlich schwierig in dem Alter, bewusst eine Lücke zu lassen, um wieder in den Takt zu kommen und nicht ganz zu versanden. Oder sich aktiv zu entscheiden, erst alles mitzuschreiben, vielleicht auch nur ein paar Buchstaben, und dann die Zeitverlängerung zu nutzen, um zu Ende zu ergänzen und zu übersetzen. Tja … die Übersetzungen wurden bewertet, das richtige Mitschreiben nicht. Sie hatte 2 von 15 Punkten. Obwohl sie am Vorabend alle Vokabeln konnte. Und dann stand drunter: „Vokabeln lernen ist eine Fleißarbeit!!“

Ich könnte jetzt noch mehr Beispiele aufzählen. Aber es geht ja nicht darum, anzuklagen. Sondern deutlich zu machen, dass dringendst sensibilisiert werden muss. Und zwar überall.

Ich will noch einmal erwähnen, dass diese Beispiele nicht der Maßstab sind und eine untergeordnete Rolle spielen; trotzdem schafft es aber eine Minderheit, das Positive derer, die sich engagieren, in den Schatten zu stellen. Helena hat nunmal eine Cerebralparese und damit etwas, was derzeit nur einmal an dieser Schule vorkommt. Unser Bildungssystem hat darauf keine adäquate Antwort, sondern behilft sich mit individuellen Sonderregeln. Ich will nicht behaupten, dass ich bessere Antworten kenne. Aber wenn die Zeitverlängerung die Antwort ist, weil erkannt wurde, dass unser Bildungssystem sonst Menschen wie Helena ausgrenzt, dann muss diese Antwort auch verbindlich sein. Sie ist keine Vergünstigung, kein Entgegenkommen, keine Diskussionsgrundlage. Es kann nicht sein, dass eine Dreizehnjährige um ihren gleichberechtigten Zugang zu Bildung kämpfen muss – neben dem ausufernden Lernstoff.

Also ist die Socke mal wieder eskaliert. Hat sich mit Marie, Susi und Otto ausgetauscht und zum persönlichen Gespräch angemeldet. Dieses Mal nicht bei den betroffenen Lehrkräften, sondern die Mail ging an den Jahrgangskoordinator und an den Direktor. Ich bekam sofort einen Termin und das Ergebnis lässt hoffen: Der Schulleiter war sichtlich mitgenommen, hat mehrfach geschluckt. Hat sich bei mir entschuldigt, will sich bei Helena, die bei dem Gespräch aus guten Gründen nicht dabei war, persönlich entschuldigen. Und möchte nun selbst mit den betroffenen Lehrkräften sprechen, wie künftig besser sichergestellt sein kann, dass Helena gleichberechtigt am Unterricht teilnimmt. „Darüber brauchen wir gar nicht weiter reden. Das geht so überhaupt nicht. Ich werde mir jeden Test und jede Klassenarbeit aus dem letzten Halbjahr vorlegen lassen und persönlich anschauen. Ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass dieser Vokabeltest nicht in die Wertung einfließt. Entweder wird der nachgeschrieben oder rausgenommen. Und wir werden intern abstimmen, ob Helena entweder nur jedes zweite Wort mitschreibt und dann am Ende noch drei weitere Worte bekommt; oder ob sie einen Zettel bekommt, auf dem bereits jedes zweite Wort schon steht, oder ähnliches. Das kann ich so nicht aus dem Ärmel schütteln. Aber so geht es nicht weiter.“

Wenigstens ist er jemand, mit dem man wohl reden kann. Er hat mir seine Karte gegeben, er möchte von mir sofort direkt informiert werden, wenn wieder irgendwas passiert. Und die Raumpflege werde ebenfalls sensibilisiert, dass es auch unter den Schülerinnen und Schülern Menschen gibt, die den Aufzug benutzen. „Vermutlich haben die das nicht überlegt.“

Ich habe Hoffnung, dieses dicke Brett heute etwas weiter durchbohrt zu haben. Ich weiß allerdings, dass es nicht mein letzter Besuch in der Schule sein wird.

WC oder nicht WC?

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Ich weiß, dass es ein Thema ist, dass erfahrungsgemäß viele Fetischisten anzieht. Genau aus dem Grund habe ich es, wie die älteren Häsinnen und Hasen unter meinen Leserinnen und Lesern sicherlich mitbekommen haben, zuletzt bewusst vermieden. Es ist nervig, wenn ich merke, dass meine Herausforderungen zur Luststeigerung anderer beitragen; die sich dann noch nicht einmal klar dazu bekennen können, sondern dann noch unter abenteuerlichen Geschichten einschlägige Fragen stellen. Insofern seht es mir bitte nach, dass ich die Kommentare unter diesem Beitrag noch strenger moderieren lasse, als ich es ohnehin schon mit Bezug auf das Thema mache.

Darüber schreiben muss ich aber. Für mich. Und auch für alle die, die sich nicht trauen, dieses Tabuthema anzusprechen. Den Anlass lieferten zwei aktuelle Social-Media-Beiträge von anderen Menschen, die im Rollstuhl sitzen. Und ich muss sagen: Ich erlebe ja viel, aber ich habe echt mal wieder mit dem Kopf schütteln müssen.

Bei einem ging es um ein defektes Klo im Zug, über das sich offiziell beschwert wurde, und wo dann der offizielle Ratschlag ausgeteilt wurde, man hätte ja vorher pullern gehen können. Was genauso diskriminierend ist wie die regelmäßige Weigerung eines Zugverkehrsunternehmens, Menschen mit Behinderung mitzunehmen, wenn das oftmals einzige barrierefreie WC im Zug defekt ist.

Dazu möchte ich mal meine Sichtweise anmerken: Wann jemand pullern geht, ob zu Hause, im dreckigen Bahnhof oder im dreckigen Zug, ist seine Entscheidung. Lenkt also nicht davon ab, dass ihr es nicht schafft, Zugmaterial einzusetzen, das den allgemeinen Anforderungen an die Barrierefreiheit genügt. Und wenn ihr das schon macht, dann hängt gefälligst ein Schild an den oft einzigen barrierefreien Eingang, dass das Klo defekt ist. Dann kann ich nämlich für mich entscheiden, ob ich mitfahren möchte oder nicht. Die Entscheidung kann ich aber alleine treffen. Das muss mir das Zugverkehrsunternehmen nicht abnehmen – schon gar nicht in Hörweite anderer Leute.

Das Argument, ihr könntet ja verklagt werden, wenn ihr mich mitnehmt, obwohl das WC defekt ist, das sei auch schon so geschehen, lasse ich nicht gelten. Die Lösung, die der Richter im Kopf hatte, war sicherlich nicht diejenige, dass künftig Menschen mit Behinderung nicht mehr Zug fahren können. Sondern die, dass das zu funktionieren hat. Und wenn nicht, müsst ihr das rechtzeitig mitteilen und im Bedarfsfall denjenigen rauslassen. Wisst ihr aber eigentlich auch. Und wenn ihr dann doch verklagt werdet und unterliegt, dann ist das wohl nicht anders, als wenn ich mit einem Auto ohne Scheinwerfer am öffentlichen Straßenverkehr teilnehme, frei nach eurem Motto: Solange die Sonne scheint, besteht nur ein geringes Risiko.

In einem anderen Social-Media-Beitrag ging es um einen abgelehnten Rollstuhl. Oder einen zumindest teilweise abgelehnten Rollstuhl. Die junge Dame mit fortgeschrittener Muskeldystrophie ist motorisch sehr stark eingeschränkt, fährt im Elektrorollstuhl und profitiert von einer (zugegebenermaßen nicht ganz günstigen) Funktion, die sie aus der Sitz- in die Stehposition bringt. Künftig zu teuer für die Krankenkasse, zumindest solange, wie sich die junge Dame nicht lautstark zu Wort meldet. Als die junge Frau der Krankenkasse erklärte, dass ihr dadurch auch das Übersetzen auf eine Toilette unterwegs erleichtert werde, soll die Mitarbeiterin der Krankenkasse geantwortet haben, sie könne sich ja Windeln anziehen.

Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wer da was geraucht hatte, aber es dürfte doch eigentlich keine zwei Meinungen darüber geben, dass es meine höchstpersönliche Entscheidung ist, ob und wann ich mit eine Windel anziehe, oder? Was für eine Grenzüberschreitung ist dieser Ratschlag bitte? Und, was noch hinzu kommt, soll die Versicherte etwa ihre Windeln selbst einkaufen, weil die Krankenkasse keine entsprechende Funktion des Rollstuhls bezahlen möchte? Ja, ich weiß, Windeln können auch „zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“ verordnungsfähig sein. Aber bezahlt die Krankenkasse sie dann auch? Nein. Zumindest keine, mit denen man wirklich an der Gesellschaft teilnehmen könnte.

Fast alle Krankenkassen haben seit Jahren Verträge mit einem (oder mehreren) Anbietern. Diese verpflichten sich (vereinfacht ausgedrückt), an die Patienten der Kasse zu einem bestimmten Preis zu liefern. Und damit da der bestmögliche Gewinn abfällt, macht man einfach Folgendes: Man schränkt die Produktauswahl auf ein, zwei, wenige (günstige und den Mindeststandards genügenden) Noname-Produkte ein, begrenzt die Anzahl der monatlich ausgegebenen Artikel auf ein bis drei pro Tag und macht eine Mischkalkulation, bei der auch diejenigen Versicherten berücksichtigt werden, die nur eine kleine Vorlage brauchen, weil höchstens mal ein paar Tröpfchen abgehen, wenn sie niesen. Also die, die für 4 Euro im Monat optimal versorgt werden können (weil sie zudem meistens noch schnell in der Drogerie ein Päckchen für 7 Euro dazu kaufen).

Nachdem es davon ein paar Millionen Menschen deutschlandweit gibt, fallen natürlich diejenigen auf, die saugendes Inkontinenzmaterial für 100 Euro pro Monat gebrauchen könnten. Wenn man ein sinnvolles Produkt in ausreichender Menge bereitstellt. Die Krankenkassen zucken die Schultern und verweisen auf die Verträge, die Vertragspartner sagen: Ihre Kasse zahlt nur 10 Euro pro Monat. Die anderen 90 Euro müssen Sie selbst zahlen. Was falsch ist, denn der Händler hat sich bei der Erstellung der Mischkalkulation verpflichtet, auch die teuren Fälle einzubeziehen und diese dann auch optimal zu beliefern. Was natürlich nur in der Gesamtschau ein Gewinn sein kann und nicht auf den Einzelfall bezogen.

Aber unabhängig davon, dass adäquate aufsaugende Inkontinenzmittel über die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland kaum zu bekommen sind, ist es doch wohl auch hier ein absolut übergriffiges Verhalten, Menschen offiziell anzuraten, sich doch eine Windel anzuziehen, weil so Gelder für eine bessere Ausstattung eines Rollstuhls gespart werden können. Wenn überhaupt kein Sparzwang besteht und an anderer Stelle viel Geld für wesentlich fragwürdigere Dinge ausgegeben wird.

Ja, Windeln sind ein Thema bei vielen Menschen mit Behinderung. Auch für jene Menschen darunter, die eigentlich aufs Klo kämen. Es aber nicht können, weil entweder kein Klo da ist oder weil vorhandene öffentliche Toiletten defekt, verdreckt oder nicht barrierefrei erreichbar sind. Als bekennende Teilzeit-Pamperspisserin bin ich einerseits froh, dass es wirklich gute Produkte gibt, die diesen Umstand aus der öffentlichen Wahrnehmung heraushalten. Und die inzwischen so gut sind, dass zumindest ich damit locker umgehen kann und mich nicht erniedrigt fühle. Es ist aber trotzdem eigentlich ein absolutes Unding, dass unsere Gesellschaft es in der heutigen Zeit nicht schafft, adäquat Barrieren abzubauen.

Ich habe gerade mal mein Adressbuch durchgeblättert. Ich bin aktuell mit 32 Rollstuhlfahrerinnen befreundet. Bei 18 von ihnen weiß ich, dass sie regelmäßig prophylaktisch auf aufsaugendes Inkontinenzmaterial zurückgreifen, weil sie es sonst nicht zuverlässig bis zum Klo schaffen. In fast allen Fällen ist das zu Hause, wenn ein Klo in unmittelbarer Nähe ist, nicht nötig. Sicherlich kann man nicht alle körperlichen Einschränkungen adäquat ausgleichen und sicherlich bleiben in der Öffentlichkeit gewisse Wege bis zur nächsten Toilette. Aber regelmäßig defekte Zugtoiletten (ja, ich weiß worüber ich schreibe) und der Verweis auf Windeln zur Einsparung bei techischen Hilfsmitteln sind inakzeptabel.

Bleibt nur noch zu erwähnen, dass die junge Frau inzwischen ihren Rollstuhl vollständig bewilligt bekommen hat. Ob das am öffentlichen Druck lag oder an der verspäteten Einsicht, lasse ich mal dahingestellt.

Herz und Spucke

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Seit Montag habe ich eine neue Stelle. Ja, mein zweites Jahr in Weiterbildung beginnt. Nach einem Jahr Pädiatrie will ich nun ein Jahr lang in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Danach, also in einem Jahr, muss ich mich entscheiden, ob ich Kinderärztin oder Kinderpsychiaterin werden möchte. Vereinfacht ausgedrückt.

Die ganze Klinik ist sehr wohnlich eingerichtet. Ich bin in einem vollstationären Bereich, das heißt, dass die Menschen, die dort behandelt werden, auch dort schlafen. Akute Suchtproblematiken und akute Psychosen sind ein Ausschluss-Kriterium für die Station, auf der ich zunächst eingesetzt werden soll. Der Kreis der Kolleginnen und Kollegen ist deutlich kleiner als in dem Haus davor, allerdings ist die Chefärztin sehr bekannt und sehr gefragt. Sie hat sich auch bereits sehr loyal mir gegenüber verhalten.

Mein Job war es, bei einer jungen Patientin, die regelmäßig extreme Wutausbrüche bekommt und dabei dann auch sich selbst verletzt, zum Beispiel, indem sie ihren Kopf gegen die Wand schleudert, eine körperliche Untersuchung zur Aufnahme durchzuführen. Der Vater, selbst Arzt, war nicht dabei. Ich hatte echt Schiss, dass das Mädchen ausrastet, während ich mit ihr alleine bin, aber komischerweise war die Patientin total lieb und kooperativ. Ganz ruhig, ließ alles mit sich machen, fragte mich sogar, warum ich im Rollstuhl sitze und ob ich noch lerne oder schon ausgelernt hätte. Als ich ihr Herz abhörte, bat ich sie, einen Moment lang ruhig zu sein und sogar auch, einen Moment lang mal die Luft anzuhalten. Es gab überhaupt keine Probleme. Anders als der Vater das vorher berichtet oder zumindest befürchtet hatte.

Ich weiß nicht, warum, aber es ist Fakt, dass ich offenbar ein sehr feines Gehör habe. Und oft Dinge höre, die Kolleginnen und Kollegen nicht hören. Jene Kolleginnen und Kollegen, die dafür zum Autofahren keine Brille brauchen. So war es auch bei diesem Mädchen: Immer, wenn ihr Herz sich anspannt und beginnt, das Blut in die Aorta zu pumpen, also in diesem Sekundenbruchteil, hörte ich an der Pulmonalklappe ein ganz kurzes, schrilles Fiepen. Die Pulmonalklappe ist diejenige Herzklappe, die verhindert, dass Blut aus der Lungenarterie zurück in die rechte Herzkammer fließt. Die Pulmonalklappe besteht aus drei halbmondförmigen Taschen, und wenn die nicht richtig schließen, führt das leicht zu einer dauerhaften Überlastung des Herzmuskels.

Ganz zu Anfang war ich mir nicht sicher, was ich da höre. Es war so, dass ich dachte, irgendwo außerhalb des Raums fiept ein Hundewelpe. Immer einmal kurz. Gerade so eben zu hören. Und auch nicht bei jedem Herzschlag. Und auch nicht von der Atmung abhängig. Ich nahm einen Ohrbügel meines Stethoskops aus meinem Ohr, um genau zu wissen, woher das Geräusch kam. Nein, kein Zweifel, das war kein fiepender Welpe, das war ein Herzgeräusch. Ich hörte auch noch auf die Lunge, dann fragte ich das Mädchen, ob alles in Ordnung war. Sie nickte. Ich sagte: „Ich bin ja noch ganz neu hier, hast du was dagegen, wenn meine Kollegin auch einmal dazukommt und guckt, ob ich alles richtig gemacht habe?“ – Nö, alles war entspannt. Die Stationsärztin hörte nichts. Auch ein Ultraschall, leider nur ein ganz einfaches, war unauffällig. Das EKG zeigte auch keine Besonderheiten.

Zusammen mit meiner Kollegin suchten wir nach der Untersuchung den Vater auf. Er meinte gleich, dass mir die Erfahrung fehlen würde und seine Tochter gesund sei. Er wolle sie selbst auch nochmal abhören. Und während ich vorher meine Kollegin dazu holte, weil ich unerfahren war, schnaubte er gleich los: „Was soll hier sein?“ – Und kaum drehte er so auf, flippte die Tochter wieder aus. Eine Stunde lang war sie ruhig. Spricht Bände, finde ich. Die Chefärztin kam auch dazu und der Vater sagte schon im Reinkommen: „Die noch unerfahrene Kollegin in Fortbildung will bei meiner Tochter ein Diastolikum auskultiert haben.“

Sehr freundlich. Als würde ich es mir ausdenken, um Aufmerksamkeit zu bekommen. „In Fortbildung“ ist von einem Kollegen fast schon eine Beleidigung, da es eigentlich „in Weiterbildung“ heißt. Aber egal. Wie gesagt, meine Chefin ist sehr loyal mir gegenüber und faltete erstmal den blubbernden Kollegen zurecht: „Erstmal heißt es ‚Guten Tag'“, sagte sie. Er zog erstmal den Kopf ein. Das hat richtig gesessen und dafür hab ich sie echt gefeiert in dem Moment. Sie hat zwar auch nichts gehört, aber ein Kinderkardiologe hat später festgestellt, dass ich recht hatte. Allerdings kann es gut sein, dass das nur ein vorübergehendes, wachstumsbedingtes Phänomen ist. In drei Monaten soll das Mädchen sich noch einmal vorstellen.

Im Moment ist ohnehin der Wurm drin. Vor knapp drei Wochen hatte ich mal wieder eine Spuck-Attacke. Ich fahre nicht mehr oft mit öffentlichen Verkehrsmitteln, aber manchmal bietet es sich einfach an, auch bei uns im ländlichen Ostseeraum. Der Bus fährt stündlich, entsprechend voll war er. Kurz vor dem Aussteigen will eine junge Frau unbedingt an mir vorbei, versucht, mir dafür über den Schoß zu klettern und stützt sich dabei auf meine Schulter auf. Davon abgesehen, dass ich weder ihren Hintern vorm Gesicht haben noch angefasst werden möchte, besteht die ernsthafte Gefahr, dass wir alle mitsamt dem Rollstuhl umkippen. Entsprechend bitte ich sie, kurz zu warten, und als sie es besser weiß, auch energischer, die Finger wegzunehmen. Als sie zum vierten Mal ansetzt, schubse ich sie zurück. Kurz danach geht die Tür auf, sie spuckt mir ins Gesicht und rennt davon. Einige Leute stehen mit offenem Mund daneben. Weg ist sie. Ich zittere vor Wut.

Nein, nicht alle Menschen sind so. Im Gegenteil. Menschen wie sie sind die Ausnahme. Und ausnahmsweise auch mal sehr doof. Zwei Wochen später stand ich nämlich am letzten Freitag mit Otto an der Bushaltestelle, an der wir letztes Mal ausgestiegen sind. Im Auto warteten wir auf den Bus. Kurz bevor er ankam, setzte ich mich in den Rollstuhl. Otto stellte sich so hin, als wollte er an der hinteren Tür einsteigen. Ich stellte mich seitlich neben den Unterstand, so dass sie mich erst sehen würde, wenn sie ausstieg. Und was soll ich sagen? Sie stieg aus. Von einer Sekunde auf die nächste bekam ich Puls.

Bevor sie mich sah, rief ich Otto zu: „Lila Mütze!“ – Otto trat neben sie: „So, einen Moment mal bitte! Sie kennen die Rollstuhlfahrerin, die dort steht?“ – Die Frau wollte weglaufen, Otto hielt sie allerdings am Arm fest. „Sie sind vorläufig festgenommen. Und wenn Sie hier groß rumtanzen, liegen Sie gleich im nassen Laub und haben eine Acht auf dem Rücken. Klar?“ – Ob es am Überraschungseffekt lag oder ob Otto einen festen Handgriff hatte, weiß ich nicht. Sie blieb jedenfalls stehen. „Ich möchte, dass Sie sich ausweisen, dann können Sie sofort weiter. Wenn Sie sich nicht ausweisen, warten wir hier gemeinsam auf die Polizei. Können Sie sich überlegen.“

Sie überlegte einen Moment. Dann wollte sie an ihre Handtasche. Otto griff an ihr Handgelenk. „Ist der Ausweis in der Tasche? Darf ich reinschauen? Nicht, dass Sie hier noch ein Messer auspacken.“ – „Da ist kein Messer drin.“ – „Ja, das sagen immer Alle.“ – Sie zuckte mit den Schultern und gab Otto die Tasche. Otto fand die Geldbörse, fand den Ausweis, ich notierte mir die Daten. Als er ihr den Ausweis zurückgab, sagte er: „Sie bekommen dann demnächst offizielle Post. Schönen Tag noch.“

Jo. Der Junge hat seinen Job gelernt. Ich bin ihm so dankbar. Meine Anwältin meinte, ein Bruttomonatsgehalt sei wohl fällig. Und um die 500 Euro Schmerzensgeld an mich wohl auch. Bleibt zu hoffen, dass das verfolgt und nicht etwa als Bagatelle eingestellt wird.

Gleichbehandlung

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Manchmal komme ich mir vor wie im falschen Film. In einem viel zu alten Film. Helena und ich sind in der großen Stadt, vor allem, um ihr neue Winterschuhe zu kaufen. „Ich habe das meiner Mitschülerin erzählt, sie bekommt neue Winterschuhe erst zu Weihnachten.“

Okay, letztes Jahr zu Weihnachten hatten wir 15 Grad über Null. Oder war es vorletztes Jahr? Ich finde es so albern, wichtige Anschaffungen auf das Weihnachtsfest zu verlegen. Nein, ich verstehe durchaus, wenn das Geld nicht ausreicht, um solche teuren Dinge „zwischendurch“ zu kaufen. Aber wie wäre es denn, das Weihnachtsfest einfach eine Spur besinnlicher zu feiern und den Kommerz an den Zeitpunkt seiner Notwendigkeit zu verschieben? Ich glaube, dass Kinder und junge Jugendliche sich über viel Kleinkram sehr viel mehr freuen als über ein paar teure Winterstiefel – wenn man sich traut, das Weihnachtsfest von kommerziellen Gedanken und Superlativen zu entkoppeln und aufhört, sein Gewissen damit zu beruhigen, dass ja etwas teures angeschafft wurde.

Helena und ich sind also in einem Fachgeschäft. Helena cruist durch die Regale, ich bin stehen geblieben und orientiere mich erstmal. In Hörweite sprechen zwei Verkäuferinnen miteinander: „Kannst du das behinderte Mädchen bedienen? Ich mag sie nicht anfassen.“

Wie bitte? Habe ich das wirklich gerade gehört? Jemand mag Helena die Schuhe nicht anreichen und nicht mit dem Daumen auf den großen Zeh drücken, weil sie eine Cerebralparese hat und Spastikerin ist? Dieses Mädchen hat keine ansteckende Krankheit. Sie hat nichts Ekliges. Hatte am Morgen geduscht, Haare gewaschen, Zähne geputzt, frische Unterwäsche an, saubere Kleidung. Hat die Finger nicht im Mund oder in der Nase, sabbert nicht, spuckt nicht, kotzt nicht, hat nicht mit Exkrementen oder verdorbenen Speisen gespielt. Ich habe keine Ahnung, was für eine Schuhfachverkäuferin noch so alles widerlich sein könnte. Helena ist eine absolut saubere junge Frau, die ganz viel Wert auf ihr Aussehen legt – und da lehnt es jemand ab, sie beim Schuhkauf zu beraten, weil sie eine Behinderung hat? Die gleiche Person, die vermutlich kurz vorher einem Kleinkind mit Schnoddernase und Breifleck mit ganz viel Eideidei neue Babyschuhe verpasst hat?

Ich rolle zu Helena. Sie guckt mich beiläufig an und sagt: „Ich weiß nicht so recht.“ – Ich sage: „Wir kaufen hier nichts. Die Dame möchte behinderte Menschen nicht bedienen. Also raus.“ – Helena: „Hat sie gesagt? Alter, was läuft denn bei ihr nicht richtig?“ – Die Aufzugstür schließt sich hinter uns.

Ich habe ja ein gewisses Verständnis für Berührungsängste. Als ich zum ersten Mal jemandem die Haare waschen sollte, muss es für denjenigen auch befremdlich gewesen sein. Ich bekam die Ansage: „Mädel, jetzt pack doch mal richtig zu, du zerbrichst schon nichts!“ – Wäre sie also zögerlich oder ängstlich gewesen, hätte sich das bestimmt schnell aufgelöst. Aber eine ausgebildete Verkäuferin, die sich vor einem Mädchen ekelt, dessen Muskelspannung zu hoch ist, hat aus meiner Sicht den Job verfehlt.

Zum Glück gab es noch weitere Geschäfte. Im nächsten wurde Helena sofort fündig. Die Verkäuferin war geschätzt genauso alt wie die im Laden davor, und bevor ich irgendwas sagen konnte, kniete sie sich vor Helena und half ihr beim Schuhe anziehen und zubinden. Holte den zweiten Schuh aus dem Lager dazu, brachte noch andere in ihrer Größe mit, die Helena auch alle nochmal einzeln ausprobierte, holte bei einem noch eine andere Größe aus dem Lager, weil der etwas zu schmal ausfiel. Am Ende entschieden wir uns für den allerersten.

Als die Verkäuferin mit uns zur Kasse ging, sagte Helena zu mir: „Nächstes Mal kommen wir gleich hierher.“ – Die Verkäuferin drehte sich um und sagte: „Es freut mich, dass Sie zufrieden waren.“ – Helena griff das auf: „War ich eigentlich eine schwierige Kundin?“ – Die Verkäuferin antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Unsere Kunden zahlen mein Gehalt. Egal, ob sie viel oder wenig beraten werden möchten. Der Kunde, den ich viel und gut berate, kommt immer wieder. Ich habe meinen Beruf gelernt, damit ich auch auf die schwierigen Fragen eine Antwort weiß und der Kunde zufrieden ist. Hier, nimmst du ein Bonbon? Und gib der Mutti auch eins.“

Gute Schule macht sich bemerkbar. Manchmal auch im Umsatz. Dass Helena nicht normal ist, erfährt sie von normalen Menschen immer wieder. Keine Stunde später sitzen wir in einem Restaurant und Helena möchte ein Schnitzel mit Pommes. „Mir reicht das Kindermenü“, sagt sie und überliest in der Karte den entscheidenden Hinweis: „Kindermenü ist nur bis 10 Jahre“, sagt die Bedienung. Blickt auf Helenas Rollstuhl und fügt hinzu: „Aber bei dir machen wir heute mal eine Ausnahme.“

Helena antwortet sofort: „Äh, nee, dann nehm ich das für Erwachsene.“ – Tja. Keine Sonderbehandlung bitte. Und fügt hinzu: „Jule, schneidest du mir das klein? Wenn ich das mache, fliegt das gewiss bis zum Nachbartisch.“ – So süß.