Blog, Vogel und Mammut

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Doch, doch, keine Angst, ich blogge noch. Aber nicht mehr täglich. Auch nicht monatlich. Ich komme kaum noch dazu. Aber aufgegeben habe ich noch nicht.

Das Bloggen habe ich noch nicht aufgegeben. In den fast 14 Jahren wurde meine Seite inzwischen über 12 Millionen Mal angeklickt. Und auch das Twittern habe ich noch nicht aufgegeben. Mit über 67.000 Followern ist es kein ganz kleiner Account. Trotzdem: Beides geht mir in den letzten Monaten zunehmend auf den Keks. Hier habe ich gerade fast 500 Kommentare gelöscht, die entweder sexuelle oder hässliche Inhalte hatten. Bei Twitter blocke ich täglich durchschnittlich 25 bis 30 Personen, die gegen Randgruppen hetzen. Nein, es geht nicht um Meinungen, die durch Meinungsfreiheit gedeckt sind. Sondern um Hetze. Es hat in den letzten Monaten ganz schlimme Formen angenommen. Beängstigende Formen.

Ich habe inzwischen auch noch bei Mastodon einen Einstieg versucht. Innerhalb von 24 Stunden folgten mir auch dort gleich mal eben 800 Leute. Bisher gibt es dort eine Diskussionskultur, die sich positiv abhebt. Ich fürchte nur (und ich hoffe, dass meine Befürchtungen nicht wahr werden), dass das alles nur eine Frage der Zeit ist, bis es auch dort eskaliert.

Mir geht es gut. Ich bin inzwischen im letzten Weiterbildungsjahr. Dass die Medizin brennt, ist kein Geheimnis, auch die Pädiatrie ist davon betroffen, ich versuche, das letzte Dreivierteljahr noch ohne Burnout und ohne Corona zu überstehen, dann bin ich aus dem klinischen Alltag weg. Ich hoffe, in einer Praxis eine Anstellung zu finden und im Moment stehen die Chancen wohl ganz gut. Abwarten ist angesagt.

Marie geht es gut. Sie wird 2024 mit ihrer Weiterbildung fertig sein. Wir wohnen noch immer zusammen, es besteht noch immer guter Kontakt zu ihren Eltern. Und wir kümmern uns weiterhin gemeinsam um Helena, die in diesem Monat ihre praktische Fahrprüfung macht. Um dann mit 17 begleitet (außerhalb der Schule) und unbegleitet (zur Schule) fahren zu dürfen – wie ich damals auch. Sie geht inzwischen in die gymnasiale Oberstufe in einer großen Schule in der nächsten größeren Stadt und hat dort ein Sportprofil gewählt. Es ist das erste Mal, dass die Schule das mit einer Schülerin mit Behinderung versucht. Wir dürfen gespannt sein und Daumen drücken.

Froh und dankbar

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Sei froh und dankbar, dass du mitgenommen wirst.

Genau das nehme ich immer wieder wahr, wenn es darum geht, als Mensch mit einer Mobilitätseinschränkung mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu wollen. Auch knapp 15 Jahre nach Beginn meines Blogs hat sich nichts verändert. Ich würde sogar sagen, es ist insgesamt schwieriger geworden. Ja, ein paar Aufzüge wurden neu gemacht. Einige Stationen barrierefrei erschlossen. Aber Konsequenz kann ich – ehrlich gesagt und mit einer Träne der Enttäuschung im Auge – nicht erkennen.

„Sei froh und dankbar, dass du mitgenommen wirst.“ – Wird so ein Satz gesagt? Ja, tatsächlich. Von Menschen mit offiziellen Aufgaben. Laut und wörtlich. Manchmal auch durch die Blume, also indirekt. Aber er wird regelmäßig gesagt.

Wir sind noch lange nicht dort angekommen, wo wir 2022 sein wollten und sollten. Gerade habe ich erfahren, dass die Deutsche Bahn erneut ICE-Züge bestellt hat, die über keinen barrierefreien Einstieg verfügen. Soll heißen: Der Quatsch mit der klapprigen Hebebühne geht noch mindestens 30 Jahre so weiter. Und bevor jemand widerspricht: Die ICE-Züge, die zwei ebenerdige Eingänge haben sollen, sind eigentlich IC-Züge und fahren nur auf ausgewählten Strecken. Nein, man könnte viel weiter sein, wenn man nur wollte.

Behinderte meckern ja sowieso nur und sind undankbar. Ich auch. Ich habe ein ganz frisches Beispiel. Zum Meckern. Es ist noch keine zwei Monate alt: Helena und ich hatten einen Termin in Berlin. Um 13.00 Uhr sollten wir dort sein, und wer jetzt sagt, ihr habt doch ein Auto: Darum geht es ja gerade nicht. Es geht nicht darum, ob jemand mit dem Auto nach Berlin fahren kann (immerhin 9 Stunden hin und zurück am selben Tag). Sondern, ob es Rollstuhlfahrern möglich ist, mit der Bahn zu einem Termin nach Berlin zu kommen. Und leider ist das nicht möglich.

Weil noch immer kein Rollstuhlfahrer alleine in einen ICE kommt (oder wieder hinaus), hat die Bahn einen Service mit einem Hubkäfig eingerichtet. Nützlicher Nebeneffekt: Eben weil kein Rollstuhlfahrer alleine in den Zug kommt, steht auch keiner im Weg rum. Wer keine Reservierung hat, wird gar nicht erst eingeladen.

Ich habe vier Wochen vor dem Termin der dafür extra eingerichteten Koordinierungsstelle (Mobilitäts-Service-Zentrale) ein Online-Formular ausgefüllt. Mit dem Ergebnis, dass der Fahrtwunsch abgelehnt wurde. Sowohl für die Hin- als auch für die Rückfahrt. Bevor ich das nun 28 Mal wiederhole, habe ich mich ans Telefon geklemmt und die Hotline angerufen, 22 Minuten Musik gehört, und dann mit einer sehr freundlichen Dame gemeinsam nach Alternativen gesucht.

Weil der Überlandbus zur nächsten größeren Stadt ohnehin keine zwei Rollstuhlfahrer gleichzeitig mitnimmt und nur alle 60 Minuten fährt, müssten wir sowieso mit dem Auto zum nächsten Bahnhof fahren. Von dort war die Mitnahme nur in einem Regionalzug mit fahrzeuggebundener Einstiegshilfe möglich, weil im Abfahrtsbahnhof das Personal fehlt, das den Hubkäfig für einen Fernverkehrszug bedient. In Hamburg Hauptbahnhof (wo wir umsteigen müssten) könnten wir zudem nicht in den ICE nach Berlin einsteigen, weil der von einem Gleis abfährt, auf dem wegen Bauarbeiten der Hubkäfig nicht eingesetzt werden könne.

Also fuhren wir um 6.30 Uhr zu Hause los, standen rechtzeitig am Regionalzug, wurden problemlos mit der fahrzeuggebundenen Rampe in das Fahrrad- und Rollstuhlabteil gelassen und durften rund 75 Minuten später in Hamburg wieder aussteigen. Nun hatten wir 45 Minuten Zeit, um mit der S-Bahn zum Fernbahnhof Dammtor zu gelangen. Dort gab es jemanden, der den Hubkäfig bedienen und uns in den Berliner Zug lassen konnte. Wir fuhren also vom Hauptbahnhof mit der S-Bahn zum Bahnhof Dammtor, um dann mit dem ICE von Dammtor wieder zum Hauptbahnhof und dann weiter nach Berlin zu fahren.

Weil offenbar jemand über Nacht ein paar Kupferleitungen auf offener Strecke gestohlen hatte, wurde der ICE über Uelzen und Stendal umgeleitet. Weil die Strecke überwiegend eingleisig ist und zudem nur mit maximal 160 km/h befahren werden darf, verlängerte sich die Reisezeit um 55 Minuten. Weil kein Personal im Zug war, war das Bordrestaurant bis Berlin geschlossen. Und weil nur jeder zweite Zug fuhr (wegen der gesperrten Direktstrecke), war der Zug mehr als voll. Und natürlich: Das einzige barrierefreie WC war unbenutzbar.

So kamen wir statt um 11.22 Uhr um 12.17 Uhr in Berlin an und mussten uns beeilen. Schnell zur U-Bahn … achso: Aufzug defekt. Nicht nur versteckt, sondern auch defekt. Also mit der S-Bahn weiter. Wer sie kennt, die Aufzüge zur S-Bahn im Berliner Hauptbahnhof, weiß, dass das locker 15 Minuten dauern kann. So groß, wie sie sind, so langsam sind sie auch. An jedem Stockwerk drücken Fahrgäste für „nach unten“ und „nach oben“, was bedeutet, dass der Aufzug überall hält und in jedem der fünf Stockwerke einmal auf dem Weg nach unten und einmal auf dem Weg nach oben die Türen öffnet und schließt. Und bis er das macht, dauert auch das an jedem Haltepunkt ewig. Ja, die Kabine steht bündig und es dauert rund 10 Sekunden, bis die Tür überhaupt erstmal öffnet. Entsprechend lang sind die Schlangen von Rollstuhlfahrern, Kinderwagen, Putzkolonnen, Fahrrädern – wir mussten drei Abfahrten abwarten. Kurzum: Um 12.50 Uhr waren wir auf dem Bahnsteig des S-Bahn-Gleises.

Der nächste Umstieg sollte am Ostkreuz sein. Die dortigen Aufzüge funktionierten, auch der Anschluss passte. Bekommen haben wir den Anschluss aber nur, weil wir ganz lieb gebettelt haben, in der auf den Aufzug wartenden Schlange vorgelassen zu werden. Ich finde das peinlich, aber wenigstens kannte uns niemand. Um 13.30 Uhr erreichten wir – nach 7 Stunden Fahrt – mit 30 Minuten Verspätung unser Ziel. Und zum Glück hat derjenige, mit dem wir verabredet waren, auf uns gewartet. Vorher noch was essen oder wenigstens mal zum Klo war nicht drin. Aber besser als gleich wieder nach Hause zu müssen: Ich hatte schon damit gerechnet, dass wir vor verschlossenen Türen stehen. Und nein, man konnte dort nicht anrufen. Das war nicht vorgesehen. Und ja, es war ein offizieller Termin.

Um 15.00 Uhr traten wir die Rückfahrt an. Kamen rechtzeitig am Hauptbahnhof an und hatten noch 45 Minuten Zeit, bevor unser Zug nach Hamburg abfahren würde. Wir meldeten uns ordnungsgemäß beim Hubkäfig-Bedienpersonal an, wo wir erstmal erfuhren, dass in dem Zug wegen einer technischen Panne alle Sitzplatzreservierungen gelöscht seien und man uns ohne Reservierung nicht in den Zug einladen dürfe. Aber man würde uns anbieten, mit dem Zugbegleiter zu sprechen. Wenn der nichts dagegen hätte, würde man uns auch kurzfristig und gegen alle Regeln doch noch einladen.

Ich konnte mir ein „der wird nichts dagegen haben, denn die Plätze sind ja frei. Wenn die nicht für uns reserviert sind, hat sie auch niemand anderes reserviert“ und dachten uns: Wenigstens noch einmal aufs Klo. Auf dem Weg dorthin: „Ding Dong! Achtung, eine wichtige Durchsage: Frau Jule Stinkesocke! Frau Jule Stinkesocke! Bitte kommen Sie umgehend zum Service-Point. Für Sie liegt eine wichtige Nachricht vor.“

Wollten die Mitarbeiter der Deutschen Bahn jetzt allen Ernstes noch einmal über unsere gelöschte Reservierung diskutieren? Will ich mir das antun oder überhöre ich das? Nee, dachte ich mir, vielleicht liegt noch ein anderes Problem vor. Zug hat 300 Minuten Verspätung oder so. Also fuhren wir zurück und erfuhren, dass meine auf dem Auftrag vermerkte Handynummer falsch sei. Eigentlich war sie richtig, aber man hatte sich beim Anrufen wohl vertippt. Der Aufzug zum Gleis in Berlin gehe nicht. Es gebe einen Notfallplan, aber dafür müssten wir jetzt sofort losgehen. Also fuhren wir mit einer Bahnmitarbeiterin auf den Bahnsteig eines anderen Gleises, um dann am Ende des Bahnsteigs durch eine Brandschutztür in ein verlassenes Treppenhaus geführt zu werden, dort mit einem Evakuierungsaufzug in ein Zwischengeschoss gebracht und mit einem anderen Evakuierungsaufzug auf den Bahnsteig unseres endgültigen Gleises gebracht zu werden. Unseren Zug erreichten wir gerade so eben, unsere Tür nur durch einen Sprint, denn niemand wusste, dass der Zug falsch herum (also rückwärts) gereiht einfuhr.

Inzwischen war die Strecke, auf der jemand Kupferleitungen gestohlen hatte, wieder befahrbar. Und so brauchten wir nur die üblichen 106 Minuten von Berlin nach Hamburg. Aber: Auch dieser Zug sollte in Hamburg Hauptbahnhof auf einem Gleis angekommen, an dessen Bahnsteig der Aufzug defekt sei. Also müssten wir wieder bis Dammtor weiterfahren, dort herausgehoben werden, mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof zurück – um dort zu erfahren, dass der Aufzug, wegen dessen angeblichen Defekts wir bis Dammtor weitergeschickt wurden, einwandfrei funktionierte. Argh! Resilienz, wo bist du?

Von Hamburg fuhren wir dann ohne weitere Zwischenfälle mit einem Nahverkehrszug weiter zu jenem Bahnhof, an dem das Auto stand. Um 19.50 Uhr saßen wir wieder im Auto. Nach rund 14 Stunden waren wir wieder zu Hause.

Aber wir waren froh und dankbar, dass wir mitgenommen wurden. Oder so ähnlich.

Das Pizza-Gate

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… oder: Warum es so wichtig ist, Kinder und Jugendliche ernst zu nehmen und mit ihnen erwachsen zu kommunizieren.

Helena, Marie und ich sitzen zusammen am Tisch und essen. Es gibt selbst gebackenes Brot, Aufstriche, Wurst und Käse, Tomaten und Gurken. Mittendrin spricht Helena mich an: „Sag mal, Jule, ich hab doch schon lange nichts richtig Heftiges mehr ausgefressen, oder?“

Während Marie sich ein Grinsen verkneift, frage ich: „Die Einleitung gefällt mir. Und, was hast Du angestellt?“

Helena guckt mich mit großen Augen an: „Nee, nichts.“

Ich frage weiter: „Brauchst du mehr Taschengeld?“ Und bemerke im selben Moment, dass die Frage nicht so schlau war. Allerdings orientieren wir uns ohnehin an einer Tabelle, die das Jugendamt herausgibt, und dessen Spielraum ist ausgeschöpft. Bevor sie mit ihrer Überlegung fertig ist, füge ich grinsend an: „Oder hast du irgendeinen Scheiß vor?“

Helena antwortet: „Nee, ich muss das zwischendurch einfach mal festhalten. Just for the records. In den USA kann man sich bei leichten Verstößen auf sein sauberes Führungszeugnis berufen und hat sozusagen einen Schuss frei.“ – „Also doch irgendwas in Planung“, grinste Marie. Helena schüttelte den Kopf: „Nein! Ihr versteht mich nicht.“

Am nächsten Tag bekomme ich morgens eine Kurznachricht: „Es gibt in der Schule schon wieder diese ekligen Spaghetti. Darf ich mir zusammen mit [4 anderen Schülerinnen] was bestellen?“

Klar. Früher hätte ich noch hinzugefügt, dass sie bitte auf ihren Diabetes aufpasst, aber dafür würde ich heute eine Predigt bekommen. „Ich bin nicht ganz doof“, ist in dem Zusammenhang ihr Standardspruch. Also spare ich mir alle guten Ratschläge. Und ich weiß: Sie bekommt es alleine hin.

Als ich nach der Arbeit nach Hause komme, ist Helena noch bei den Pferden im Stall. Als sie reinkommt und direkt zur Dusche läuft, ahne ich schon, dass irgendwas vorgefallen ist. Nach dem Duschen setzt sie sich, mit noch nassen Haaren, auf meinen Schoß seufzt tief und sagt: „Können wir mal reden?“

Mit Blick darauf, dass sie ihre früheren Pflegeeltern in solchen Situationen regelmäßig belogen hat, muss ich sehr genau aufpassen und sehr feinfühlig reagieren, damit es weiterhin so gut klappt. „Ich hab ja heute Essen bestellt. Wir haben uns Pizzen kommen lassen und der Dulli ist tatsächlich in die Schule rein, hat bei uns an der Tür geklopft und mitten im Unterricht die dampfenden Pizzen abgeliefert.“

„Das ist nicht dein Ernst“, sagte ich. Helena antwortete: „Ja, was kann ich denn dafür, wenn er in die Schule läuft. Wir haben in die App geschrieben, dass er warten soll und wir rauskommen. Und dann hieß es natürlich: Wer hat die bestellt, dann musste die Kohle eingesammelt werden, dann wurden diese Pizzen verteilt, alle waren laut und haben Sprüche gemacht und … das war voll peinlich. Damit war Mathe zehn Minuten eher beendet, ich soll das zu Hause erklären und du sollst anrufen. Ich sag nur: Stinksauer. Es gab gleich eine Predigt. Ich wollte erklären, dass wir eigentlich draußen verabredet waren, aber das wurde gleich abgebügelt.“

„Hast du dich wenigstens entschuldigt?“, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf: „Das war doch nicht meine Schuld!“ – Ich fragte noch einmal: „Hast du dich entschuldigt?“ – „Nein.“ – „Ich würde sagen: Noch nicht. Denn selbst wenn keine Absicht dahinter steckte, hast du deinen Anteil daran, dass das in die Hose gegangen ist.“ – „Ja. Ist vielleicht besser.“ – „Wenn du sagst, dass ihr draußen verabredet wart: Woher wusste er eigentlich, in welchem Klassenraum er dich findet?“ – „Keine Ahnung.“ – „Das ist aber eine interessante Frage.“

Eine interessante Frage, die unbeantwortet bleibt. Am nächsten Morgen musste ich mir anhören: „Ich gebe zu, ich war wirklich sauer gestern. Ich war echt perplex, weil ich so ein Verhalten von Helena nicht erwartet hätte. Sowas passt einfach nicht zu ihr.“ – „Naja, es ist halt dumm gelaufen. Es war vereinbart, dass der Bote draußen wartet.“ – „Ach, Frau Socke, das glauben Sie doch nicht wirklich. Die Mitteilung der Raumnummer ist doch eine Einladung, den Unterricht zu sprengen. So wie beim Online-Meeting die Zugangsdaten gepostet wurden, damit Fremde da reinstürmen und Krach machen. Es wäre Helenas Pflicht gewesen, den Pizzaboten darauf hinzuweisen, dass er die Schule nicht zu betreten hat. Die Schülerinnen und Schüler wissen, dass fremde Menschen hier nichts zu suchen haben.“ – „Ich glaube nicht, dass es Absicht war. Ich denke, es wäre am Besten, wenn Sie mit ihr über die Einhaltung der Regeln in der Schule nochmal sprechen und ihr, wenn das ein dummer Streich war, entsprechend was vor die Hörner geben. Ich habe es allerdings so wahrgenommen, dass es ein Versehen war und sie sich dafür auch bei Ihnen entschuldigen möchte. Am Besten wird sein, Sie klären das direkt.“

Heute kommt sie nach Hause: „Sag mal, hast du im Telefonat gesagt, dass du dafür bist, dass ich einen Anschiss kriege?“ – „Nein, das habe ich so nicht gesagt. Ich habe darum gebeten, dass das Thema direkt zwischen euch geklärt wird.“ – „Was gibt es da noch zu klären? Der Dulli vom Bringdienst hat sich nicht an die Vereinbarung gehalten und ich werde dafür jetzt von allen Seiten angemacht.“ – „Helena, ich sag dir, wo das Problem ist: Die Tatsache, dass der Bote in der Klasse aufgetaucht ist, lässt vermuten, dass das genauso vereinbart war. Wenn das so vereinbart war, hast du gegen die Regeln verstoßen, weil einerseits fremde Leute in der Schule nichts zu suchen haben und diese Auslieferung natürlich den Unterricht massiv stört. Beides weißt du. Wenn es nicht so vereinbart war, bleibt die Frage offen, woher er wusste, wo er dich antreffen kann. Außer am Zaun.“

„Ich habe geschrieben, dass es die Bestellung von Helena aus der 9[x] ist, weil es in der Schule mindestens fünf Helenas gibt und wir schonmal das Theater hatten, dass zwei Annas was für ihre Klassen bestellt hatten und die dann draußen erstmal alles öffnen und reingucken mussten, weil die nur die Vornamen auf die Kartons geschrieben haben. Deswegen hab ich die Klasse mit angegeben.“ – Sie blättert in ihrem Handy. „Guck, hier ist die Bestätigungsmail: Liefern um 12.50 Uhr. Und unter Bemerkungen: Wir sind Schüler der 9[x] und haben ab 12.45 Uhr Mittagspause. Wir kommen zur Straße. Bitte seien Sie pünktlich, wir haben Hunger.“

„Hast du die Mail auch in der Schule gezeigt?“ – „Nein, ich bin ja gar nicht zu Wort gekommen. Ich bin sofort schuldig gewesen und wurde wie ein Kleinkind behandelt. Ich soll jetzt aufschreiben, warum es wichtig ist, dass keine fremden Menschen in die Schule kommen. Das ist total ungerecht.“

„Leite mir mal bitte die Bestätigungsmail weiter.“ – „Mit dir kann man ja wenigstens reden, du hörst ja zu und nimmst mich ernst. Schreibst du nochmal eine Mail?“

Ja. Ich schreibe eine Mail.

Diskriminierung

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Über die jüngste Diskriminierung am Arbeitsplatz habe ich auch auf Twitter geschrieben und darauf über 1.500 persönliche Reaktionen und weit über 20.000 aufmunternde Likes bekommen. Laut dem Dienst „Nindo“, der die Reichweite größerer Socialmedia-Kanäle misst, gehört mein Twitter-Account in den letzten Monaten nahezu täglich zu den 100 reichweitenstärksten deutschsprachigen Kanälen, bei alleiniger Betrachtung der „Likes“ ist er sogar unter den Top 50 und heute beispielsweise noch vor meiner geschätzten Kollegin „Schwesterfraudoktor“ und Luisa Neubauer, Ralph Ruthe, Bastian Schweinsteiger, Sascha Lobo sowie Borossia Dortmund. Allerdings auch weit hinter Jan Böhmermann, Karl Lauterbach und Christian Drosten.

Der Vor- und Nachteil von Twitter ist, dass ein Austausch umfangreicherer Statements kaum möglich ist, da alle Nachrichten auf wenige Zeichen begrenzt sind. Und Antworten auf Antworten irgendwo im Kleingedruckten verschwinden. Zu weit weg, um als wichtiges Statement gelesen zu werden. Manche Dinge bedürfen aber unbedingt eines Statements. Zum Beispiel – aus dringendem Anlass – der Umgang mit Diskriminierung. Es brennt mir schon seit einiger Zeit unter den Nägeln.

Diskriminierung ist Scheiße. Ich glaube, das müssen wir nicht diskutieren. Im Zweifel möchte ich darüber aber auch nicht diskutieren.

Diskriminierung bedeutet immer Ausgrenzung und funktioniert nur über Separation. Eine diskriminierende Person versucht mit persönlicher Übermacht (ob sie tatsächlich besteht oder nur suggeriert wird, ist belanglos), jemanden an den gesellschaftlichen Rand zu drängen. Und damit ist eigentlich auch schon die Frage beantwortet, wie wir auf Diskriminierung reagieren sollten: Mit Zivilcourage. Indem wir uns mit der diskriminierten Person solidarisieren und der diskriminierenden Person signalisieren, dass ihr Versuch des Wegdrängens an den Rand von der Mehrheit der Gesellschaft eben nicht toleriert oder gar geteilt wird.

Dazu ist oft noch nicht mal ein Einmischen erforderlich. Ein bloßes „ich habe dich im Auge“, das Aufsuchen der Nähe der diskriminierten Person oder freundliches Ansprechen der diskriminierten Person reichen meistens völlig aus.

Was allerdings sehr schwierig ist, und das fällt mir immer wieder auf, ist, wenn jemand auf Diskriminierung wiederum mit Diskriminierung antwortet, also beim „Helfen“ selbst Personen ausgrenzt, im schlimmsten Fall sogar noch unbeteiligte.

„Wer sich über deine Körperbehinderung lustig macht, hat selber eine Behinderung, und zwar eine geistige.“ – Nein. Ausdrücklich nein. Menschen mit geistiger Behinderung machen sich nicht über andere Menschen mit Behinderung lustig. Zumindest nicht mehr als Menschen ohne geistige Behinderung. Vielmehr erlebe ich Menschen mit geistiger Behinderung sehr häufig als sehr freundlich, zugewandt und hilfsbereit.

„Wer sich über deine Behinderung lustig macht, sollte sich stets vor Augen führen, dass ihn im nächsten Moment auch das Schicksal treffen könnte und er durch einen Unfall im Rollstuhl sitzen muss.“ – Nein. Ich bin ein total glücklicher Mensch. Ich fühle mich nicht als Opfer des Schicksals (die meisten anderen Menschen, die ich kenne, übrigens auch nicht), sondern ich kann meine Beine nicht bewegen und bewege mich deshalb in einem Rollstuhl fort. Ich mache einige Dinge anders, weil ich meine Beine nicht bewegen kann. Aber das ist keine Strafe und kein Schicksal, und ich möchte auch nicht, dass das so verstanden oder ich so gesehen werde.

„Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann.“ – Dieses über 30 Jahre alte Zitat von Richard von Weizsäcker finde ich, wenngleich ich auf ihn ansonsten positiv zu sprechen bin, ganz schlimm. Es mag in die Zeit gepasst haben, heute passt es nicht mehr. Aus meiner Perspektive bin ich also jemand, dem ein Geschenk weggenommen wurde? Eine Bestohlene? Es ist etwas Schönes, nicht behindert zu sein, in Abgrenzung zu einer unschönen Behinderung?

„Diejenigen sollten nur mal eine Woche im Rollstuhl fahren, damit sie wissen, wie es sich anfühlt.“ – Nein. Nicht laufen zu können ist mehr als eine Woche im Rollstuhl zu sitzen und an irgendwelchen Treppen stehen zu bleiben. Es ist auch etwas völlig Anderes, wenn die Aktion zeitlich begrenzt ist. Und ich finde, es bringt viel mehr, einem betroffenen Menschen zuzuhören als etwas unbedingt am eigenen Leib erfahren zu wollen. Zumal es eben noch diverse andere Situationen gibt, die einfach davon nicht abgedeckt sind, dass jemand sich in einen Rollstuhl setzt oder sich eine Dunkelbrille aufsetzt und „blind“ spielt.

„Nur weil du nicht laufen kannst, heißt das ja nicht automatisch, dass auch dein Denken eingeschränkt ist.“ – Selbst wenn mein Denken eingeschränkt wäre: Wäre ich dann ein Mensch zweiter Klasse?

„Du konntest doch nichts dafür, dass dich jemand umfährt.“ – Selbst wenn das beim Skilaufen, auf dem Motorrad oder auf einer illegalen Drogenparty passiert wäre: Wäre ich dann ein Mensch zweiter Klasse?

„Was für ein Idiot, gleich zum Psychiater überweisen.“ – Nein. „Idiot“ ist ein (beleidigendes) Synonym für jemanden mit Intelligenzminderung, Menschen mit Intelligenzminderung machen sowas nicht. Zumindest nicht wegen ihrer Intelligenzminderung. Und Menschen mit psychischen Erkrankungen auch nicht. Das diskriminiert diesen Personenkreis.

„Konntest du da keine schmerzhafte Untersuchung machen? Oder mal so einen richtigen Einlauf?“ – Nein. Auch das wäre ein Ausnutzen von Macht und damit schlimm.

„Ich habe mit Behinderten gearbeitet, konnte viel von denen lernen und weiß, wie man mit denen umgehen muss.“ – Menschen mit Behinderung sind eigenverantwortliche Menschen, die eine Einschränkung haben und diese selbst kompensieren oder dabei technische oder persönliche Hilfe benötigen. Ich finde es ganz schlimm, wenn jemand versucht, „Experte“ über mich zu sein oder glaubt zu wissen, was ich brauche. So einen Eingriff in die Persönlichkeit des Gegenüber traut sich doch sonst auch niemand!

Ich wünsche mir, dass hierüber mehr nachgedacht wird und dass wir Diskriminierungen nicht mit Diskriminierungen beantworten, sondern mit dem Willen, niemanden auszugrenzen und Barrieren gemeinsam abzubauen.