Schokolade zu mir

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Hallo? Hallo Welt? Ach, du bist noch da. Wie schön. Bin ich auch im Hier und Jetzt? Ja, doch, so langsam erscheint die Welt wieder real. Und mir geht es zum ersten Mal seit etwa zehn Tagen wieder richtig gut. Wenngleich auf einem eher bescheidenen Niveau, aber beim Befinden zählt ja bekanntermaßen vorrangig das Gefühl.

Seit Freitag bin ich wieder zu Hause. Entlassen. Nicht aus dem Knast. Sondern aus einer anderen Einrichtung, die mit demselben Buchstaben beginnt. Ja, Klinik. Oder Krankenhaus. Eigentlich war fast nichts los. Aber es war trotzdem mal wieder unnötig dramatisch.

Hatte ich nicht mehrfach laut herumgetönt, dass ich vier Wochen Famulatur in einer Kinderarztpraxis überstanden habe, ohne mich mit einem grippalen Infekt anzustecken? Noch dazu während der Erkältungs-Hochsaison. Entweder habe ich dabei nicht laut genug an meinen Holzkopf geklopft oder vielleicht den Arm dabei zu hoch gehoben.

Alles begann mit einem Halskratzen am ersten freien Montag. Ich dachte noch so: „Oh nein, nun hat es dich doch erwischt.“ – Auch wenn grippale Infekte lästig, mitunter auch äußerst nervig sind, sie stärken auch das Abwehrsystem und ein paar Tage sich im Bett verwöhnen zu lassen, ist auch mal schön. Um das ganz klar zu sagen: Ich muss es nicht haben. Aber wenn, dann arrangiere ich mich halt damit. Es gibt schlimmere Dinge. Wie zum Beispiel eine Querschnittlähmung, nä?

Die nächsten zwei Tage hatte ich Halsweh. Es wurde immer schlimmer. Ich konnte kaum noch schlucken. Halsweh sind ätzend, ja, aber das hier war richtig fies. Komischerweise war die Nase völlig frei, überhaupt kein Sekret. Und ich war derart müde, das war unbeschreiblich. Zwölf Stunden durchgeschlafen, zwei Stunden wach, nur gegähnt, wieder stundenlang geschlafen. Ich machte mir so meine Gedanken, Marie ging schon auf größtmöglichen Abstand und am Donnerstag ging es dann mit Schüttelfrost los. Wobei man sagen muss, dass ich mich über Schüttelfrost eher amüsiere als dass ich ihn schlimm finde. Aber dass ich unter der Bettdecke nur am Zittern und Klappern bin, hatte ich auch noch nicht.

Ich bat Marie, in ein, zwei Stunden mal nach mir zu schauen. Als sie mich weckte, mit Mundschutz und Handschuhen, grinste ich noch. Sie übetrieb es mal wieder. Das Fieberthermometer zeigte 39,8 Grad oral an. Ich erinnere mich noch genau daran, dass ich sie wie durch einen weißen Schleier sah und sie mich aufforderte, Wasser zu trinken. Ich schlief anschließend weiter. Eine Stunde später weckte sie mich noch einmal, da war das Fieber bei 40,6 Grad. Marie meinte: „Das ist langsam nicht mehr witzig. Ich rufe meine Mutter an.“

Ich erinnere mich auch noch, dass ich sie bat, das Licht auszumachen, weil ich das extrem unangenehm fand. Ich muss dann wieder eingeschlafen sein und so ganz bei Sinnen kann ich nicht gewesen sein, denn das nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass Maries Mutter an meinem Bett saß, ebenfalls mit Mundschutz und Handschuhen, und mich mit großen Augen ansah. Sie fragte, ob ich wach sei und ich dachte nur: „Was soll die dumme Frage?“ – Erst später hat sie mir erzählt, dass sie mich nur schwer wach bekommen hat.

Der Puls war bei über 130, der Blutdruck sehr schwach – Infusion dran, ab ins Krankenhaus. Ich erinnere mich noch, dass Maries Mutter die beiden Jungs in rot aufgefordert hat, meinen Oberkörper nicht anzuheben. Ich wurde verkabelt. Nach dem Umlagern auf die kalte Trage und nachdem man mich mit der kalten Bettdecke zudeckte, war ich schlagartig wieder hellwach. Ich wurde in den Rettungswagen gerollt, im Hausflur begegneten wir dem älteren Nachbarn, der mich mit geschocktem Blick ansah und mir alles Gute wünschte. Lange nicht im Blaulichttaxi gefahren.

Maries Mutter sagte, sie würde mit dem Auto hinterher fahren. Ich alberte noch mit dem jungen Mann in Rot herum, der sich neben mich auf einen Stuhl gesetzt hatte und auf einem Klemmbrett irgendein Protokoll ausfüllte. Da es schon spät war und die Straßen offenbar frei waren, merkte ich es erst nach einiger Zeit: Wir fuhren tatsächlich mit Lalülala. Was für eine Aufregung! „Wieso fahrt ihr mit Musik?“, fragte ich den Mann neben mir. Er meinte: „Keine Angst, wir fahren Sie jetzt direkt ins Krankenhaus.“

Ich fing wieder an zu zittern. Als nächstes erinnere ich mich an eine Fahrt über einen Flur mit zahlreichen Leuchtstoffröhren an der Decke. Dann sagte einer der beiden, die mich schoben: „Einmal Schockraum bitte!“ – Leute? Mir geht es gut. Ich habe nur hohes Fieber. Oder so. Macht bitte nicht so ein Drama, nur weil ich eine Querschnittlähmung habe. Ich wurde unter eine helle Lampe geschoben, die dann bald jemand wegdrehte, ich hörte nur, wie jemand sagte: „Absolut instabiler Kreislauf, dämmert ständig weg, fast 41 Fieber.“ – Ich wollte sagen, dass ich eine Halsentzündung habe, aber das ging überhaupt nicht. Ich wollte die Hand des Arztes greifen, der mich abtastete, aber ich war viel zu langsam. Was war hier los?

„Wir brauchen einen Urinstatus“, hörte ich. Nee, Leute, das ist kein Harnwegsinfekt, das ist was im Hals! „Haben Sie Unverträglichkeiten?“, brüllte mich der Arzt an. Ich versuchte, mir an den Hals zu fassen. Er schüttelte meine Schulter: „Hallo, bleiben Sie mal wach!“ – Ich bin wach, Junge. Nur irgendwie gerade sehr schwach. Maries Mutter kam rein, das hörte ich. Sie wurde gefragt, ob sie Angehörige sei. Dann erinnere mich daran, dass mir jemand im Mund herumfummelte. Dann habe ich geschlafen und wachte zwischendurch immer mal wieder auf, sah ein Fenster und jede Menge Geräte.

Ich träumte. Von Booten, die mit mir versinken, von bösen Menschen, die sich in meinem Büro verstecken (obwohl ich gar kein Büro habe), von Autounfällen bei Schnee, von irgendwelchen Krabbeltierchen in meinem Frühstücksmüsli, von allem möglichen Mist. Hin und wieder war ich wach, aber tierisch müde. Einmal musste ich so dringend pinkeln, fand aber nirgendwo eine Klingel. Ich hatte überhaupt keine Energie, mich darum zu kümmern. Ob ich gleich in einer riesigen Pfütze liegen würde, war mir völlig schnuppe. Erst später merkte ich, dass man mich mit einem Dauerkatheter versorgt hatte.

Am Dienstag, immerhin nach fünf Tagen, wurde ich von der Intensivstation auf eine normale Station verlegt, drei Tage später entlassen. Was war es? Eine Kokken-Infektion (Streptococcus pyogenes). Also irgendwelche herum geniesten Bakterien. Mein Problem war mal wieder die mit der Querschnittlähmung einhergehende Kreislauf-Regulationsstörung. Die zusammen mit den Toxinen, die von den Kokken in den Blutkreislauf abgegeben werden, haben mich wohl etwas überfordert. Ich bekam Penicillin, jede Menge Flüssigkeit und irgendwann kühle Wickel, da man keine fiebersenkenden Medikamente geben wollte.

Inzwischen fühle ich mich, wie gesagt, wieder super. Was mich ein wenig ärgert, ist, dass mich dieser unnötige Mist rund 14 Tage zurückgeworfen hat. Ich muss noch so viel für die Uni tun, das ist alles liegen geblieben. Und angesichts des guten Wetters wollte ich auch mal wieder trainieren, das muss ich nun auch noch für ein paar Tage sein lassen. Aber Philipp hat mich regelmäßig besucht. Und darüber freue ich mich natürlich sehr.

Und ich habe neun Kilogramm abgenommen. Allerdings weiß ich nicht genau, wieviel davon in den zwei Wochen und wieviel davon in den vier Wochen Praktikum. Fakt ist aber, dass das so gar nicht geht, weil ich vorher schon Idealgewicht hatte und mein BMI aktuell bei 15,8 liegt. Was trotz reduzierter Muskelmasse in den Beinen eindeutig zu niedrig ist. Ich bin aber überzeugt, dass das nur eine vorübergehende Erscheinung ist. Schokolade zu mir!

Vollmond oder Orkan

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Es war der erste große Orkan in diesem Jahr. Einer von jenen, die jedes Jahr im Januar über Hamburg hinweg fegen. Mit Sturmflut. Nicht wirklich bedrohlich, es wurden zwar einige Fluttore geschlossen, aber die Deiche hatten noch locker vier Meter Luft nach oben. Fester im Griff hatten Hamburg umgestürzte Bäume, die auf Gleise oder Oberleitungen fielen. Am gestrigen späten Nachmittag kam der gesamte Fern- und U-Bahnverkehr zum Erliegen, im Hauptbahnhof stapelten sich die Reisenden, nichts ging mehr. Zu unserem großen Glück waren wir rechtzeitig vorher angekommen und konnten uns gerade noch so aus dem Staub machen, bevor das wirkliche Chaos losging.

Einen Magneten für die Auswirkungen gefährlicher Wetterlagen habe ich also nach wie vor nicht irgendwo eingenäht. Wohl aber den für komische Leute. Und so wundert es nicht, dass mal wieder etwas Kurioses passierte, als Marie und ich auf den beiden Rollstuhlplätzen saßen, im Wagen 9 des ICE. Die Plätze sind am Ende eines Großraumwagens, wobei man zwischen den Plätzen und der begrenzenden Wand einfach eine Zweier-Sitzreihe ausgespart hat. Marie und ich setzten uns also auf diese beiden Sitzplätze, hatten unsere leeren Rollstühle vor uns stehen – und wenn wir es sehr bequem wollten, legten wir unsere Füße auf die Sitzfläche des Rollstuhls. An der gegenüberliegenden Abteilwand sind noch zwei Notsitze angebracht. Mit Stoff bezogene Klappsitze mit recht kurzer Sitzfläche, die im Notfall für Begleitpersonal oder wen auch immer herunter geklappt werden können und sofort bei Verlassen automatisch wieder hochklappen.

An einen dieser hochgeklappten Sitze hatte sich ein Mann gelehnt, geschätzt 45, schlanke Figur, kurze Haare. Sein Popo war am oberen Ende der hochgeklappten Sitzfläche, die Beine hatte er lässig überkreuzt und ein wenig entlastet. Er trug einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug, ein weißes Oberhemd und eine merkwürdig gemusterte Krawatte, hatte schwarze, auffällig spitze, glatt polierte Lederschuhe und einen großen Wecker am Handgelenk. Auffällig war neben seinen spitzen Schuhen auch seine Körpergröße, die zwei Meter dürfte er überschritten haben, und ein verhältnismäßig kleiner Kopf. Dieser Mann starrte mich aus der Entfernung von etwa drei Metern an. Er hatte in dieser Ecke an diesem Sitz eigentlich überhaupt nichts verloren. Da geht auch niemand hin, der auf dem langen Weg von der zweiten in die erste Klasse einen Moment verschnaufen möchte. Auch einen Feuerlöscher sucht man in der Ecke vergebens. Kurzum: Er stand dort, um zu starren.

Ich kann nicht sagen, wie lange er dort schon stand. Ich hatte geschlafen. Marie eigentlich auch. Aber plötzlich hörte ich ihre Stimme: „Und was kann ich für Sie tun?“ – Solche Sätze sagte sie nur, wenn irgendwas im Busch ist, von daher musste ich nur noch die Augen öffnen und entdeckte diesen Mann. Ohne ein Wort guckte ich Marie an. Ohne ein Wort guckte Marie mich an. Dann guckte ich wieder zu diesem Mann. Er starrte noch immer. Unheimlich. Was für ein Freak war das? Wieso starrte er so?

Ich starrte eine Zeitlang zurück. Manchmal bringt das was. In diesem Fall nicht. Ich fragte: „Möchten Sie was von uns?“ – Er antwortete nicht, sondern starrte nur. Ich fragte noch einmal: „Oder sind wir gerade unfreiwillig Teil eines psychologischen Experiments?“ – Wieder keine Antwort. Da wir im Übergang zur ersten Klasse saßen, lief ständig Zugpersonal vorbei, das Bestellungen am Platz aufnahm und Essen, Getränke sowie leere Teller durch die Gegend trug. Nach einiger Zeit krallte sich Marie eine Frau, die vorhin unsere Fahrkarten kontrolliert hatte und eigentlich in Windeseile vorbei zischen wollte. „Tschuldigung, würden Sie uns bitte einmal helfen, es geht um den Herren hier, der hat sich vor einiger Zeit vor unseren Sitzplätzen aufgestellt und starrt uns seitdem an. Ich finde das sehr unangenehm und ich wüsste gerne, was er von uns will. Mit uns redet er aber nicht.“

Die Bahnmitarbeiterin antwortete: „Kleinen Moment, ich komme gleich zu Ihnen, ja? Eins nach dem anderen.“ – Und weg war sie. Um schon nach etwa zwanzig Sekunden wieder aufzutauchen, mit ihrem Kollegen im Schlepptau. „Der Herr hier“, sagte sie. Der Kollege sagte: „Guten Tag, Ihre Fahrkarte hätte ich gerne mal gesehen, bitte.“ – Keine Reaktion, der Typ starrte mich weiter an. Der Bahnmitarbeiter tippte ihm an die Schulter und fragte: „Hallo?“ – Jetzt bewegte er sich, griff in Zeitlupe, ohne den Blick von mir zu wenden, in seine Jackettasche und holte etwas heraus, reichte es dem Bahnmitarbeiter. Dann, wenige Sekunden später, kniff er die Augen halb zusammen und dann endlich guckte er den Bahnmitarbeiter an. Argh! Psycho!!!

„So, ich habe gehört, Sie belästigen die Frauen hier. Stimmt das?“ – Ich merkte, wie das Germurmel in den Sitzreihen hinter mir schlagartig verstummte. Der Mann antwortete: „Wer sagt denn sowas?“ – Ah, eine Stimme hatte er auch. Der Bahnmitarbeiter: „Ich habe Sie was gefragt. Und zwar, damit ich von Ihnen eine Antwort bekomme und keine Gegenfrage, klar? Also: Belästigen Sie die Frauen hier?“ – „Nein!“ – „Na, dann können Sie jetzt ja weitergehen. Sie haben in dem Wagen hier nichts mehr verloren. Haben Sie das verstanden?“ – „Kann ich meine Fahrkarte wiederhaben?“ – „Wenn Sie jetzt gehen, ja. Da durch die Tür.“

Er stiefelte nach draußen. Der Bahnmitarbeiter ging bis zum Gang, guckte ihm einen Moment lang hinter her, drehte sich wieder zu uns und sagte: „Das liegt an dem Sturm heute. Manche Menschen können mit den Luftdruckschwankungen nicht gut umgehen. Vollmond oder Orkan, egal, und alle drehen durch.“ – „Der war voll unheimlich!“, sagte Marie. Der Bahnmitarbeiter antwortete: „Ja, ich weiß ja jetzt, wie er aussieht. Wenn der hier nochmal über den Flur läuft, komm ich gleich hinterher gehüpft.“

Gehüpft? Vor meinem inneren Auge stellte ich mir unfreiwillig diesen Bahnmitarbeiter im Spiderman-Kostüm vor, wie er von Fenster zu Fenster durch den Gang sprang. Zum Lachen war mir aber gerade nicht zumute. Ein paar Minuten später schrieb Marie ihrem Papa eine SMS: „Kannst du uns vom Bahnhof abholen? Hier ist ein ganz komischer Mann im Zug, der uns belästigt. Hat Jule minutenlang angestarrt und musste vom Zugchef verscheucht werden.“ – Es dauerte keine Minute, da klingelte ihr Handy. Ob er jetzt weg ist, wollte er wissen, und wann unser Zug ankommt. Ein wenig neidisch bin ich ja schon. So einen Papa hätte ich auch gerne. Oder wenigstens einen großen Bruder. Manchmal. Aber wenn Marie so eine Bitte versendet, dann ist auch was los. Marie würde sich eher drei Stunden lang über einen Kilometer frischen Schnee quälen als jemanden zu belästigen, der sie zehn Minuten schiebt.

Das Manöver war am Ende überflüssig, weil der Freak im Zug sitzen blieb als wir ausstiegen. Aber das wussten wir natürlich vorher nicht – ebensogut hätte er auch aussteigen und bis nach Hause hinter uns herlaufen können. Wobei wir dann wohl weniger direkt nach Hause, sondern vielmehr direkt zur Sicherheitswache im Bahnhof gerollt wären. Ich hoffe nur, er sitzt nicht noch einmal mit uns im Zug. Bei meinem Glück treffen wir uns noch einmal wieder.

Eigentlich haben wir das auch schon. Heute in den frühen Morgenstunden habe ich von ihm geträumt. Er starrte wieder. Minutenlang. Ich bin vor ihm weggelaufen (!), er rannte hinter mir her und am Ende standen wir zusammen in einem Aufzug. Dann wollte er die Hand auf meine Schulter legen, ich wollte schreien, und in dem Moment, als seine Hand mich berührt hätte, zuckte ich zusammen und wachte auf. Marie lag neben mir und murmelte: „Was träumst du denn schon wieder?“ – „Von dem Freak im Zug. Der war mit mir im Aufzug.“ – Schlaftrunken zog mich ihr Arm an sie heran. „Der Typ ist weg“, meinte sie. Eine halbe Stunde lang lag ich bestimmt wach im Bett. Am Ende bin ich dann aber doch nochmal eingeschlafen.

Handtuch und Kamera

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Ich stehe mit einer Frau, mit der ich locker befreundet bin und die ich vom Sport kenne, im Aufzug. Sie ist in meinem Alter. Einmal war ich bei ihr zu Hause, ich glaube zu ihrem 20. Geburtstag. Auch die Eltern kenne ich. Die Frau hat noch keinen Führerschein, die Eltern fahren sie häufig zum Sport oder holen sie ab. Alle sind immer sehr nett und freundlich. Wir reden oft miteinander.

Ob es während der Geburtstagsfeier war oder später einmal, weiß ich nicht mehr genau. Ich habe aus ihrem Bad ein Handtuch mitgehen lassen. Aus der gleichen Serie, die ich auch bei mir zu Hause habe. Und weil die Familie im Bad eine Überwachungskamera installiert hat, wusste man, was ich getan hatte. Neben Nasepopeln und Tamponwechsel hatte ich auch noch ein nasses Handtuch in meinem Rucksack verschwinden lassen.

Alles Leugnen würde keinen Zweck haben. Die Frau starrt mich mit unendlich enttäuschtem, distanzierten Blick an, und fragt mich immer wieder nach dem Warum. Ich gebe keine Antwort. Die Eltern haben sich längst von mir abgewandt. Ich verstehe selbst nicht, warum ich das getan habe, bin sehr nervös, weiß keine Antwort auf die Frage, die unausgesprochen zwischen uns in der Aufzugskabine steht. Wir fahren zusammen Aufzug und ich traue mich nicht, zu erwähnen, dass eine Kamera auf dem Klo doch wohl eine große Frechheit ist.

Die Freundin rüttelt an mir, immer fester. Oder war es doch nicht die Freundin? Nein. Ich muss wohl ziemlich gekämpft haben. Schweißgebadet wache ich auf. Wie immer nach einem Alptraum ist der komplette Blaseninhalt im Bett verteilt. Marie hat die Nachttischlampe angeknipst, streicht mir durch das Gesicht. „Du hast geträumt, alles ist gut. Die Monster, Zombis, Verbrecher oder wer auch immer sind weg.“

Eigentlich war das jetzt nicht sonderlich dramatisch, aber ich war so orientierungslos und überfordert, dass ich zu heulen anfing. Ich wollte das gar nicht, aber ich hatte das nicht unter Kontrolle. Marie drückte mich fest zu sich ran. Ich sagte: „Ich habe völligen Schwachsinn geträumt!“ – „Ist vorbei jetzt, Süße, ich hab dich lieb. Mach dir keine Sorgen, der Schreck ist gleich vorrüber.“ – „Boa, und es ist alles nass hier, war ich das? Scheiße, das tut mir echt leid.“ – „Macht nichts, ich wisch das gleich trocken und bezieh das neu. Willst du schonmal duschen?“

Als ich aus der Dusche kam, hatte Marie das Bett bereits neu bezogen. „Leg dich schonmal hin, ich komm gleich. Aber nicht wieder so einen Mist träumen!“ – Ich zog mir erstmal eine Pampers an. Wochenlang ging das ohne gut, aber irgendwann musste das ja mal wieder passieren. Als Marie aus der Dusche kam, krabbelte sie auf meiner Seite ins Bett unter meine Decke. „Ich kraul dich jetzt noch ein paar Minuten in den Schlaf. Das hilft, damit du nicht wieder solchen Mist träumst.“

Soooo lieb.

Sie haben nur noch genervt

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Lange ist sie schon nicht mehr zum Training gekommen. Von einem Tag auf den anderen fehlte sie. Niemand wusste, warum. Eine über diese oberflächliche sportkameradschaftliche Bindung hinaus gehende Beziehung hatte ich zu ihr nie. Ob es nun altruistische oder in meiner Neugierde begründete Beweggründe waren, die mich dazu veranlasst haben, ihr einen unangekündigten Hausbesuch aufs Auge zu drücken, finde ich nachträglich nicht mehr heraus. Fakt ist, dass jede Kontaktaufnahme ohnehin scheiterte: Meine zahlreichen SMS beantwortet sie nicht, ans Handy geht sie nicht, auf der Festnetz-Leitung kommt nur noch „kein Anschluss unter dieser Nummer“. Ich hatte es schon lange im Gefühl, dass da etwas vorgefallen sein muss. Sie war nicht der Typ, der plötzlich untertaucht.

Ich sehe mich gerade im Hausflur eines dreizehn Stockwerke hohen Gebäudes um, als plötzlich besagte Trainingskollegin hinter mir wie aus dem Nichts auftaucht. Sie betritt den Aufzug, sagt mir, dass es ihr gut ginge und sie irgendwann auch mal wieder zum Training komme, aber ich fasse nach. Weil die Aufzugstür ständig zugehen will, blockiere ich die Lichtschranke. Irgendwas stimmt mit ihr nicht. Und ich habe das Gefühl, sie will mir unbedingt was sagen, traut sich aber nicht.

„Soll ich mit hochkommen?“, frage ich sie. Sie öffnet ihre Umhängetasche, händigt mir wortlos eine silberne Pistole aus. Ich bin völlig perplex. Ist die echt? Ist sie. Unerwartet schwer ist sie. Ich spüre mein Herz rasen. Sie hat irgendwas damit angestellt, das spüre ich. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren. Auf der Fahrt mit dem Aufzug in die Wohnung erzählt sie mir, dass sie ihre Eltern im Bett erschossen hat. Beide. Vor etwa vier Wochen. Wir kommen im sechsten Stock an, sie schließt die Wohnungstür auf. Wie ein Automat bewege ich mich in die Wohnung, bin auf das Schlimmste gefasst. Zwei Leichen, die irgendwo vier Wochen herumliegen … auch wenn ich schon ahne, dass der Anblick mich tagelang nicht schlafen lassen wird, schaue ich hin. Und meine schlimmsten Befürchtungen bestätigen sich. Ich kannte die Eltern vom Sehen. Das Schlafzimmer war abgedunkelt, beide waren säuberlich zugedeckt. Blut war nicht zu sehen.

Ich hatte die Waffe. Gab es noch eine? Würde sie mich bedrohen, wenn ich jetzt die Polizei rufe? Würde sie sich was antun, wenn ich sie jetzt alleine lassen und mich erstmal in Sicherheit bringen würde, aus dem Auto den Notruf wähle? Ich fragte sie: „Warum?“ – Sie antwortete: „Sie haben einfach nur noch genervt.“ – „Genervt?!“

Irgendwas stimmte hier nicht. Normalerweise riechen Leichen doch unerträglich. Vor allem, wenn sie hier schon wochenlang liegen. Irgendwie roch es hier gar nicht. Höchstens nach frischen Brötchen. Schlagartig wurde ich wach. Es war zehn Minuten nach fünf. Stockfinstere Nacht. Ich machte das Licht an. Keine Leichen, keine Brötchen. Aber, wie nach jedem Albtraum, Schweiß auf der Stirn und ein pitschnass gepisstes Bett. Jetzt bloß wach bleiben, bevor das weiter geht.

Nein, wir vermissen niemanden beim Training. Und soweit ich weiß, gibt es auch niemanden unter meinen Trainingspartnern, der im 6. Stock eines Hochhauses wohnt. Geschweige denn jemand, dem ich zutrauen würde, dass sie oder er seine Eltern erschießt. So eine gequirlte Kacke. Nicht zuletzt halte ich es für völlig respektlos, unangekündigt bei jemandem auf der Matte zu stehen, um irgendwas zu erzwingen. Wenn sie nicht zum Training kommt und auf SMS nicht antwortet, habe ich das zu respektieren und sie nicht zu Hause zu überfallen. So ein Verhalten käme mir nie in den Sinn. Ich habe keine Ahnung, wie der Film in meinem Kopf gekommen ist.