Barrierefrei zum Arzt

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Geht es nach dem Willen der Bundesregierung, sollen in den nächten Jahren erwachsene Menschen mit kognitiven oder mehrfachen Einschränkungen eine bessere ärztliche Behandlung in Deutschland bekommen. Konkret ist vorgesehen, mit einer Finanzspritze von 50 Millionen Euro eine eine ärztliche Versorgung dieser Menschen in eigens eingerichteten medizinischen Behandlungszentren aufzubauen. Die von erwachsenen Menschen mit Behinderungen speziell benötigten Gesundheitsleistungen sollen „an einem Ort und mit vertretbarem Aufwand aus einem Guss“ erbracht werden. Darüber hinaus würden Ärzte bevorzugt zugelassen, die sich verpflichten, ihre Praxis barrierefrei einrichten.

Im Kinder- und Jugendbereich gibt es bereits ein flächendeckendes Netz von so genannten „sozialpädiatrischen Zentren“. Irgendwann werden diese jungen Menschen aber zu alt, um zum Kinderarzt zu gehen. Oftmals fallen sie dann in ein Loch, so die Bundesregierung.

Ich kenne mich mit dem Thema nicht gut genug aus, um mir ein abschließendes Urteil bilden zu können. Grundsätzlich begrüße ich natürlich alles, was getan wird, um Barrieren und damit Behinderungen abzubauen. Allerdings finde ich, es sollte generell keine neue Praxis mehr zugelassen werden, die nicht barrierefrei ist. Ob man dem Arzt, der die Zulassung beantragt, diese Kosten aufbrummt oder ob man sie aus einem entsprechenden staatlichen Programm nimmt, will ich nicht entscheiden müssen. Auf jeden Fall werden bei staatlichen Zuschüssen auch die privat versicherten Patienten an den Kosten beteiligt.

Wie gesagt, ich bin nicht tief genug im Thema, um mitreden zu können. Ich hoffe lediglich, dass dieses Angebot ein ehrlich gemeintes Angebot ist. Ehrlich insofern, als dass nicht das eigentliche Ziel ist, die Therapiekosten von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen dadurch mittel- bis langfristig zu senken, dass Therapieformen standardisiert werden. Standardisiert wurden in den letzten Jahren zum Beispiel die Rollstuhlversorgungen bei erwachsenen Menschen. Für einen Aktivrollstuhl, der zwischen 2.500 und 4.000 Euro kostet, zahlen die meisten Krankenkassen nur noch eine Pauschale, die nicht mal den Anschaffungspreis des günstigsten Modells deckt. Was die meisten Aktivrollstuhlfahrer können, dürfte Menschen mit kognitiven Einschränkungen in den Fängen eines standardisierten Versorgungsprogramms schwer fallen: Entweder massiv draufzahlen oder argumentieren, warum man vom Standard abweicht. Ich hoffe, dass es nicht so kommen wird.

Nicht ganz so einfach wie Eier legen

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Eine Ausbildung in Erster Hilfe, drei Monate Pflegepraktikum, acht Praktika, drei Seminare, zwei Kurse, vierzehn Klausuren, 320 schriftliche Prüfungsfragen in 8 Stunden, 3 Stunden praktische Prüfung – wer das schafft, hat das erste Staatsexamen im Rahmen seines Medizinstudiums geschafft. Regeldauer: Zwei bis zweieinhalb Jahre.

Danach weitere 34 Kurse in 22 Haupt- und 12 Querschnittsbereichen, mit 34 prüfungsrelevante Klausuren, die mindestens mit „ausreichend“ bestanden werden müssen, dazu ein viermonatiges Praktikum (Famulatur) im Krankenhaus (zwei bis drei Monate) und in einer Arztpraxis (ein bis zwei Monate), 320 schriftliche Prüfungsfragen und Fallstudien in 15 Stunden – wer das schafft, hat das zweite Staatsexamen im Rahmen seines Medizinstudiums geschafft. Regeldauer: Drei bis vier Jahre.

Anschließend jeweils ein Quartal Praktikum in der Chirurgie, in der Inneren Medizin und in der Allgemeinmedizin, danach eine weitere praktische Prüfung – wer das schafft, hat das dritte Staatsexamen im Rahmen seines Medizinstudiums geschafft. Regeldauer: Ein Jahr.

Wer das dritte Staatsexamen geschafft hat, darf eine Zulassung als Arzt beantragen und Menschen eigenverantwortlich behandeln.

Einen Doktortitel hat er damit noch nicht. Hierfür wäre eine separate wissenschaftliche Arbeit erforderlich, die mindestens ein weiteres Jahr dauert.

Als Vertragsarzt der Krankenkassen niederlassen darf er sich damit auch noch nicht, hierfür müsste er sich noch mindestens 5 Jahre in einem Fachbereich (zum Beispiel Allgemeinmedizin) weiterbilden.

Warum führe ich das aus? Ganz einfach: Ich möchte mir vor Augen halten, welcher Aufwand nötig ist, bevor jemand einen Menschen medizinisch behandeln darf. Ich bin der Meinung, dass dieser Aufwand absolut gerechtfertigt ist, denn ich möchte darauf vertrauen können, dass jemand, der mich behandelt, auf einem hohen Niveau agiert und weiß, was er da tut. Meine körperliche Unversehrtheit und mein Leben sind mir so wichtig, dass ich mich hierauf verlassen können möchte. Wobei ich natürlich weiß, dass es auch unter Ärzten den einen oder anderen gibt, dessen Behandlung ich trotz seiner Approbation ablehnen würde, aber das ist ein anderes Thema.

Worauf ich hinaus will: Ich würde es mir nicht zutrauen, auch nicht nach fünf Semestern Medizinstudium, einen Patienten zu behandeln. Ich glaube zu wissen, wie ein gesunder Körper funktioniert. Ich glaube, erkennen zu können, wenn irgendwo etwas ungewöhnlich ist. Ich könnte raten, was es ist, und in vielen Fällen wiederholt sich das und ich rate richtig. Aber: Anhand von Erläuterungen des Patienten gezielte Hinweise zu suchen, alle Krankheiten zu kennen, die für die Probleme des Patienten irgendeine Relevanz haben könnten, vernünftige Bilder und andere Untersuchungsergebnisse zu bekommen und richtig zu interpretieren – da würde ich zum jetzigen Zeitpunkt niemals auf die Idee kommen, dass ich das ganz alleine hinbekäme. Nicht nur aus ethischen Gründen.

Schon beim Legen einer Magensonde zur künstlichen Ernährung kann man jemanden umbringen. Davon abgesehen, dass es ziemlich widerlich ist, sowas durch die Nase geschoben zu bekommen, kann man im Bereich des Kehlkopfes und des Rachens durchaus einen Hirnnerv (den 10.) so reizen, dass es ernste Komplikationen gibt. Der Vagus (so heißt der 10. Hirnnerv) ist der größte Nerv des Parasympatikus, also des Teils des Nervensystems, der die unwillkürliche Steuerung unserer Körpervorgänge verantwortet, und ist damit auch für die Regulation der Herzfrequenz verantwortlich. Durch eine übermäßige Reizung des Vagus beim Einführen einer Sonde über die Nase durch den Rachenraum kann man also durchaus den Herzschlag so verlangsamen, dass der Patient bewusstlos wird. Ganz zu schweigen davon, dass auch die Gefahr besteht, die Sonde in die Lunge zu legen oder Gefäße zu verletzen, die dann plötzlich bluten. Kurzum: Magensonde legen ist nicht ganz so einfach wie Eier legen. Entsprechend sollte nicht jedes Huhn eine Magensonde legen. Und entsprechend möchte ich mich als Patient vorher davon überzeugen, dass mein Gegenüber das beherrscht. Weil er es gelernt hat, vielleicht im Rahmen einer Pflegeausbildung, vielleicht als Angehöriger eines schwer kranken Menschens. Vielleicht im Rahmen seiner ärztlichen Ausbildung.

Ich stelle mir nun nicht mal vor, dass ich mein minderjähriges Kind einem Arzt anvertraue, von dessen Fähigkeiten ich überzeugt bin. Es reicht mir schon, wenn ich mich dabei täusche. Ganz schlimm wird es aber meines Erachtens, wenn ein solcher Arzt tatsächlich an schwer erkrankten Kindern verschiedene Behandlungen vornimmt (wie das Legen einer Magensonde), ihnen Medikamente spritzt (wo es weniger um handwerkliches Geschick, sondern um Wissen über Dosierungen, Nebenwirkungen und Komplikationen geht) und sie betreut. Von einem Arzt, der mich verantwortlich im Zustand schwerster Krankheit betreut, erwarte ich, dass er in besonderem Maße mit der Behandlung schwer- oder gar sterbenskranker Menschen vertraut ist. Und noch einmal mehr Erwartungen habe ich an ihn, wenn der Patient mein Kind wäre.

In Hannover hat ein 31jähriger Professor Dr. Marcel Roenike seine Umwelt genarrt. Er habe mit Ach und Krach den Realschulabschluss geschafft, nun im fünfstelligen Bereich Spendengelder eingesammelt, über 30.000 € mit den Krankenkassen für die Behandlung kranker Kinder abgerechnet, einen gemeinnützigen Verein gegründet und als dessen Vorstand alles mögliche angestellt, um ein Kinderhospiz zu eröffnen. Inzwischen hat ihn das Landgericht Hannover zu zwei Jahren und acht Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, das Urteil ist aber noch nicht rechtskräftig, da die Staatsanwaltschaft Rechtsmittel eingelegt hat. Der Gerichtspsychiater bescheinigte dem falschen Arzt eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, entstanden durch eine von Gewalt geprägte Kindheit, in der der Mann keine Zuwendung und keine Förderung erfahren habe.

Ich frage mich in solchen Momenten, wo ich die Zeitung lese und meine Augen immer größer werden, warum solche Menschen in unserer Gesellschaft keinen angemessenen Platz finden. Wenn es jemand schafft, zehntausende Euro Spendengelder einzusammeln, ist er bestimmt in der Lage, sich für andere soziale Projekte einzusetzen. Allerdings müsste er sich darauf einlassen, dass er nicht der Chef ist. Denn jemand, der sich um soziale Belange anderer Menschen kümmert, muss als allererstes die anderen Menschen respektieren und anerkennen. Das tut niemand, der sich Vertrauen dadurch aufbaut, dass er mit falschen Approbationsurkunden darüber hinweg täuscht, genau zu wissen, was er gerade tut. Wie zum Beispiel Medikamente spritzen und Magensonden legen. Übrigens soll er seinen beiden Vorstandskollegen aus dem Hospizverein auch Magensonden gelegt haben … ich hoffe, dass es dem Mann gelingt, eines Tages seine Fähigkeiten sinnvoll für die Gesellschaft einsetzen zu können.

Zu schnell ist nicht immer zu schnell

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Es war kurz vor Weihnachten, als Maries Mutter zuerst notfallmäßig zu einem Hausbesuch gerufen wurde und anschließend wegen eines akuten Herzinfarktes notfallmäßig zurück in ihre Praxis musste. Der Herzinfarktpatient (oder eher dessen Frau) hatte sich darauf verlassen, während der Sprechzeit einen Arzt anzutreffen. Dass Maries Mutter zu einem Notfall unterwegs war, kommt vor.

Auf dem Rückweg von dem häuslichen Notfall in die Praxis, wo der akute Herzinfarkt wartete, wurde sie mit ihrem privaten Pkw geblitzt. Auf einer über Kilometer geradeaus verlaufenden Straße, die sich durch Felder hindurch zieht, gut ausgebaut ist, und auf der eigentlich 60 km/h erlaubt waren. Sie hatte nach Abzug der Toleranz 106 km/h auf dem Tacho, war also 46 km/h zu schnell. Die Bußgeldstelle hatte (nach altem Recht) ein Bußgeld von 160 € plus Gebühren gefordert und wollte 1 Monat Fahrverbot verhängen und 3 Punkte in Flensburg eintragen.

In solchen Fällen schaltet man am besten gleich einen Anwalt ein, vor allem dann, wenn man rechtschutzversichert ist. Das Verfahren wurde nicht eingestellt, sondern es kam zur mündlichen Verhandlung vor Gericht. Marie und ich wurden nicht als Zeugen geladen, was uns aber nicht davon abhielt, als Zuschauer dabei sein zu wollen. Geladen war der Ordnungsbeamte, der das Meßgerät bedient hatte, und noch ein anderer Mann von einer Behörde. Es war ein eher kleiner Raum, für Zuschauer standen ein paar Stühle herum, dann ging es los. Maries Mutter musste sich vor einen Tisch stellen, der Richter las die ganzen persönlichen Daten vor und fragte sie dann: „Was machen Sie beruflich?“

Okay. Dann musste der Ordnungsbeamte, der das Messgerät bedient hatte, vor die Tür. Der Anwalt von Maries Mutter wurde gefragt, ob Maries Mutter aussagen möchte. Sie wollte. Sie wurde gefragt, ob es zutreffend ist, dass sie 46 km/h zu schnell unterwegs war und dass sie auf dem Weg zu einem Notfall war.

„Was war das für ein Notfall?“ – „Ein akuter Herzinfarkt in meiner Praxis.“ – „Wie haben Sie davon erfahren?“ – „Meine Tochter rief mich an. Sie half an dem Morgen aus.“ – „Konnte Ihre Tochter erkennen, dass es sich um einen lebensbedrohlichen Zustand des Patienten handelte? Oder haben Sie das aufgrund von Schilderungen angenommen?“ – „Beides. Meine Tochter studiert Medizin, damals im 4. Semester, und sie hatte mir am Telefon die Symptome beschrieben. Zudem war eine ausgebildete nichtärztliche Mitarbeiterin vor Ort, die die Lage genauso einschätzte. Es bestanden keinerlei Zweifel daran, dass sich der Patient in einem lebensbedrohlichen Zustand befand und sofortige ärztliche Hilfe benötigte.“ – „Sofortige ärztliche Hilfe? Das bedeutet, dass die sofortige Hilfe von nichtärztlichem Personal oder die spätere ärztliche Hilfe nicht ausreichend waren?“ – „Richtig. Der Patient hätte von einer Sekunde auf die nächste sterben können. Nur ein Arzt durfte Medikamente geben, die das verhinderten.“ – „Das ist auch mein Verständnis von einem Herzinfarkt. Warum sind Sie 106 gefahren und nicht 90 oder 130?“ – „Ich bin die Geschwindigkeit gefahren, die mir angesichts der Situation gerade noch vertretbar erschien. 130 wäre zu schnell gewesen. Die Straße war gut ausgebaut, es war niemand außer mir unterwegs, der gesamte Bereich war über mehrere Kilometer gut einsehbar.“ – „Das ist zwar für meine Entscheidung nicht wichtig, aber mich interessiert es trotzdem: Hat der Patient überlebt?“ – „Ja.“ – „Und es spielt ebenfalls keine Rolle, aber ich möchte es trotzdem wissen: Waren Sie vor dem Rettungsdienst da?“ – „Ja.“ – „Gibt es noch weitere Fragen?“

Nach allgemeinem Köpfe schütteln wurde der Ordnungsbeamte reingerufen. „Sie sind entlassen. Wir brauchen Sie nicht mehr.“

Und dann wurde ohne Unterbrechung ein Urteil gefällt. Maries Mutter wurde freigesprochen, die Geschwindigkeitsüberschreitung war angemessen und nötig, um einem Menschen das Leben zu retten. Sie muss nichts bezahlen, den Führerschein nicht abgeben und fühlte sich natürlich bestätigt. Der Richter sagte: „Ich habe keine Zweifel, dass Sie bei der Ausübung Ihres Berufs nicht nur das eine Leben des Patienten im Blick hatten, sondern auch Ihr eigenes und das der anderen Verkehrsteilnehmer. Sie dürfen niemanden gefährden oder gar schädigen und Ihr fahrerisches Können nicht überschätzen. Nur dann bleibt eine solche Geschwindigkeitsüberschreitung auf dem Weg zu einem lebensbedrohlichen Notfall ohne Strafe. Daran müssen Sie immer denken, denn Sie können ja bereits in wenigen Stunden erneut in solcher Situation sein.“

Das ganze Theater hat keine zehn Minuten gedauert. Zu schnell ist also nicht immer zu schnell. Was mir nicht ganz klar ist: Warum hätte man das nicht einfach nach Aktenlage entscheiden und einstellen können? Mir wurde übrigens erklärt, dass es keine Rolle spielt, ob parallel der Notarzt angeflogen kommt. Entscheidend ist nur die Frage, ob eine Möglichkeit besteht, dass Maries Mutter den Notfallort vor dem Notarzt erreicht. Nur wenn das völlig aussichtslos wäre, dürfte sie es nicht versuchen.

Dazu (in paralleler Argumentation) gleich noch eine andere Kuriosität aus Hamburgs ländlichen Gebieten: Falls mal nicht der Hubschrauber kommt, der in den ländlichen Gebieten Hamburgs gerne eingesetzt wird, sondern der fahrende Notarzt, brauchen sowohl der Rettungswagen als auch das Notarztfahrzeug über 10 Minuten zu der Praxis. Das hat zur Folge, dass darüber hinaus noch ein so genannter „First Responder“ (Erstversorger) alarmiert wird. Im Bereich der Praxis von Maries Mutter nimmt diese Aufgabe die Freiwillige Feuerwehr wahr, die dann mit 8 bis 10 Mann und einem großen Löschfahrzeug parallel anrückt. In dem großen Löschfahrzeug ist ein Sanitätsrucksack und mindestens ein geschulter Sanitäter. Die Freiwillige Feuerwehr ist meistens 2 bis 5 Minuten vor dem Rettungswagen und 4 bis 7 Minuten vor dem Notarzt-Einsatzfahrzeug vor Ort.

Ein Tag beim Arzt

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Ein letzter freier Tag, bevor die Uni wieder los geht. Leider dauert es noch, bis ich verbindlich weiß, ob ich den schriftlichen Teil bestanden habe. Das wird zentral ausgewertet und man lässt sich Zeit… Allerdings kenne ich ja meine Antworten und habe sie bereits vergleichen können, und danach sieht es sehr gut aus. Zwei Fragen, bei denen ich überhaupt nicht wusste, was ich ankreuzen sollte, und geraten habe, werden wohl rausgenommen, weil die Aufgabenstellung falsch war. Bei der einen waren in einer Zeichnung Dinge gemalt, die es an der Stelle gar nicht gibt. Also ungefähr so wie: „Kann der Mensch bei Schnupfen auch durch die zweite Nase einatmen?“

Es ging zwar um das Knie und nicht um die Nase, aber das hier zu erklären, würde Absätze füllen. Von daher erzähle ich lieber etwas spannenderes: Marie und ich durften am letzten Freitag erneut bei Maries Mutter in der Praxis helfen, da dort zur Zeit fast alle Mitarbeiterinnen krank sind. Eine hat ihre Erkältung fast überstanden und arbeitet bereits wieder, aber eine Person alleine schafft das nicht. Hinzu kommt, dass zwei Praxen in dem Stadtteil zur Zeit wegen Krankheit oder Urlaub geschlossen sind. Ab 8.00 Uhr ist die Praxis geöffnet, ab 9.00 Uhr ist Sprechzeit – und um 8.00 Uhr standen und saßen bereits über 20 Leute vor der Tür. Marie rief mich um 8.15 Uhr an, ob ich zum Helfen kommen könne – ihre Mama und sie drehen jetzt schon am Rad.

Als ich um kurz vor 9 Uhr dort auftauchte, standen die Leute bis draußen. Die Mitarbeiterin an der Anmeldung meinte schon zu allen, die nichts wirklich dringendes hatten: „Kommen Sie bitte gegen 14 Uhr wieder.“ – Unser erster Job: Alles, was irgendwie mit Labor zu tun hatte. Einige kamen zur Kontrolle des Blutdrucks, einige zur Kontrolle des Blutzuckers, bei anderen sollte Blut abgenommen werden. Einige sollten vor Ort in einen Becher pinkeln, damit der Urin mit einem Teststreifen kontrolliert werden konnte. Alles unspektakuläre Dinge, die aber unheimlich zeitaufwändig sind, gerade wenn die Patientinnen und Patienten nicht mehr so gut zu Fuß sind und Minuten brauchen, bis sie vom Wartezimmer ins Labor gegangen sind. Alle streckten bereitwillig ihre Arme aus oder hielten mir oder Marie ihr Ohr hin, das war echt toll. Jedes Mal, wenn Maries Mutter hin und her rannte, steckte sie einmal kurz den Kopf um die Ecke.

Einen älteren Herren, der von uns Blut abgenommen bekam, traf sie draußen auf dem Gang. Das kurze Gespräch bekamen wir mit, auf plattdeutsch. Er ist schon in den hohen Achtzigern, mit weißem Oberhemd, Jacket, Krawatte, polierten Schuhen, und spricht Maries Mutter zwar immer mit „Frau Doktor“ an, duzt sie dabei aber. Sie duzt dann natürlich auch. Er sagte zu ihr: „Da hast du dir aber zwei Perlen an Bord geholt. Deine Kleine ist ja schon so erwachsen, ich weiß noch genau, wie sie mit der Schultüte in der Hand in der Zeitung war. Wann steigt sie fest bei dir mit ein?“ – „Das dauert noch zehn, zwölf Jahre.“ – „Was? Bis dahin lieg ich schon unter der Erde.“ – „Ach Quatsch, bei unser guten Pflege wirst du 100 Jahre alt.“ – „Wenn ich die beiden Hübschen sehe, fühl ich mich gleich 10 Jahre jünger. Muss nur aufpassen, dass mein Herz nicht aus dem Takt kommt.“ – „Das lass mal deine Frau nicht hören.“ – „Die ist sowieso böse mit mir. Hab letzten Freitag beim Stammtisch ein bißchen zu tief ins Glas geschaut.“ – „Bring ihr doch mal paar Blümchen mit nach Hause.“ – „Davon haben wir doch den ganzen Garten voll.“ – „Stammtisch ist auch jeden Monat. Lass dir mal einen Tipp geben von einer Frau.“ – „Meinst du wirklich?“ – „Hilft immer, wenn sie von Herzen kommen. Oder du führst sie am Wochenende mal zum Essen aus. Soll schönes Wetter werden, da kann man vielleicht schon draußen sitzen.“ – „Aber…“ – „Aber verzeiht dir nicht. Nun gib dir mal einen Ruck und schenk ihr ein wenig von deinem Herzen. Glück ist die beste Medizin und nach paar Tagen Streit ist doch auch mal wieder gut auf deine alten Tage. Nutzt die Zeit, die ihr zusammen habt, für schöne Dinge.“

Marie und ich guckten uns an. Marie nickte kurz und machte eine Miene a la „wo sie recht hat, hat sie recht“, bevor der nächste Patient zum Blutabnehmen rein kam. Als wir den Laborstau abgearbeitet hatten, bat uns Maries Mutter, uns in einem der beiden Sprechzimmer zu zweit breit zu machen und alle Patientinnen und Patienten anzunehmen, die mit Erkältungskrankheiten im Wartezimmer saßen. Wir sollten dann die Anamnese abfragen, also seit wann welche Auffälligkeiten und Symptome da sind, was schon gemacht wurde, nach Fieber und Allergien (Penicillin?) fragen, Blutdruck messen und dann in Hals und Ohren schauen sowie die Lunge abhören und die Lymphknoten im Kopf- und Halsbereich abtasten. Maries Mutter behandelte in der Zwischenzeit im anderen Sprechzimmer einen weiteren Patienten, kam aber bei jedem unserer Patienten später dazu und ließ sich von uns kurz beschreiben, was wir festgestellt hatten und hörte selbst auch nochmal die Lunge ab. Da Maries Mutter nicht darauf warten musste, was der Patient erzählte, bis er sich ausgezogen hatte etc., ging das natürlich wesentlich schneller. Und, bevor das wieder jemand fragt, natürlich wurden die Patienten von der Mitarbeiterin darauf hingewiesen, dass wir nur Studentinnen sind. „Sie können, wenn Sie wollen, jetzt zu unseren Praktikantinnen rein, die nehmen heute alle Erkältungen an, tippen schonmal alles in den Computer und hören Sie schonmal ab, die Frau Doktor kommt dann später dazu. Sie können aber auch warten, bis Sie direkt bei Frau Doktor dran sind. Das dauert dann aber etwas, da sind noch Leute vor Ihnen. Wollen Sie warten?“

Alle, die gefragt wurden, wollten zu uns. Wir haben uns mit Mundschutz und immer neuen Handschuhen hoffentlich alle Erreger vom Hals gehalten. Die Arbeitsweise klappte recht gut. Einige Leute erzählen ja endlos: „Vor zwei Wochen hab ich dreimal hinter einander geniest, aber ich dachte, das wäre Heuschnupfen, dann zitterte plötzlich mein Augenlid, aber das hat wohl damit nichts zu tun. Vorletzte Woche bin ich noch joggen gewesen, da taten mir meine Beine schon so weh, das war bestimmt ein Vorbote. Dann hab ich mir Holunderblütentee gekocht und ein wenig von dem Akazienhonig reingerührt, aber dann hat es mich plötzlich erwischt. Und dann bin ich mal früh ins Bett und dachte, hoffentlich ist es dann vorbei, aber nächsten Morgen bin ich mit Halsweh aufgewacht.“ Und so weiter. Immer, wenn wir am richtigen Zeitpunkt angekommen waren, gaben wir Maries Mutter einen kurzen Pieps über das Computernetzwerk und kurz danach, wenn sie mit ihrem Patienten fertig war, kam sie zu uns rein. Wir sollten immer schon sagen, was wir machen würden, und eigentlich war das recht überschaubar. Maries Mutter meinte, dass wir ihr eine sehr große Hilfe seien. Unser Problem ist nur, dass wir kaum Erfahrungen mit Krankheiten haben, also erstmal nur wissen, wie ein gesunder Körper funktioniert und bisher natürlich kaum Kontakt zu kranken Menschen hatten.

Dennoch war eine Patientin dazwischen, in den Siebzigern, konnte ohne Hilfsmittel gehen, wenn auch etwas verlangsamt, bei der merkte ich sofort, dass sie nicht nur eine Erkältung hatte. Sie meinte, sie habe seit Beginn der Erkältung sehr große Schwierigkeiten, Luft zu holen, sie habe bestimmt eine Bronchitis. Laut Kartei war sie seit Jahren nicht beim Arzt gewesen, wohl immer gesund. Sie sah irgendwie schon so komisch aus, blass und irgendwie wirkte ihr Gesicht leicht geschwollen. Sie meinte, es gehe ihr seit drei, vier Tagen sehr schlecht, sie schlafe im Sitzen, weil sie im Liegen ständig husten müsse, scheiß Reizhusten, meinte sie. Sie habe Kräuterbonbons dagegen gelutscht. Als ich ihre Lunge abhörte, hörte man irgendwie … nichts. Ob sie mal husten könnte, fragte ich sie. Sie verneinte das. Marie hatte schon ihre Mama angepiepst, die in dem Moment reinkam. Marie erzählte ihrer Mutter kurz, was die Patientin beschrieben hatte. Nahm ihr Stethoskop, drückte es ihr auf den Rücken, ich drückte meins daneben, wesentlich weiter unten, als ich zuletzt versucht hatte, was zu hören. Man hörte nichts. Maries Mutter sagte laut: „Mal richtig tief ein- und ausatmen, Frau […]. Nicht nur so auf Sparflamme.“

Holla, die Waldfee. Was für ein Lärm. Das gluckerte und brodelte in ihrer Lunge, dann hustete sie etwas und hatte den ganzen Mund voll Sekret. „Nicht runterschlucken, Frau […], spucken Sie das mal hier in die Schale.“ – Sie fing an zu würgen. Maries Mutter: „Das hört sich nicht gut an, Frau […], gar nicht gut. Da kann ich hier auch nichts für Sie tun. Ich mache Ihnen eine Einweisung fertig für das Krankenhaus.“ – Sie wollte diskutieren. – „Nein, das nützt jetzt alles nichts, Sie müssen ins Krankenhaus. Sie haben die ganze Lunge voller Wasser. Wenn wir da jetzt nichts machen, ersticken Sie bald. Das muss jetzt erstmal untersucht werden und wahrscheinlich müssen Sie danach Tabletten nehmen, wenn Sie wieder zu Hause sind.“ – Sie wollte diskutieren, ob sie sofort ins Krankenhaus müsse oder vielleicht Montag hinfahren könnte. – „Sie müssen da jetzt hin, sofort, bis Montag überleben Sie das nicht. Ich rufe Ihren Mann an, Frau […], machen Sie sich keine Sorgen. Das findet sich alles und vielleicht sind Sie nächste Woche schon wieder zu Hause. Bleiben Sie mal hier sitzen, ich komme gleich wieder.“

Zeigte auf mich und sagte nur: „Mitkommen.“ – Ich rollte mit Maries Mutter nach draußen. Sie ging ans Telefon und wählte die 112. „77jährige Patientin, weiblich, mit fulminantem Lungenödem, noch ansprechbar“, sagte sie dem Disponenten und reichte das Telefon an ihre Mitarbeiterin weiter. Bei „noch ansprechbar“ schwante mir Böses. Und wie ja jeder weiß, ziehe ich solche Dinge magisch an. Maries Mutter legte mir einen Notfallkoffer auf den Schoß und schleppte ein mobiles Sauerstoffgerät sowie ein tragbares EKG-Gerät ab. Sie legte der Patientin einen Zugang in die Handvene, klebte das EKG auf. Sie bekam Sauerstoff unter die Nase und kam auf eine Sättigung von 94%.

Kurz danach war der Rettungdienst vor Ort. Die beiden Sanitäter waren anfangs noch recht lustig drauf. Die Frau setzte sich auf die Trage, wurde hochgehoben. „Oberkörper bleibt immer oben“, sagte Maries Mutter zu den beiden. Kaum war sie auf der Trage, wurde sie von einer Sekunde auf die nächste bewusstlos, der Puls ging zunächst auf 45, dann auf < 24 runter - mit entsprechend begleitetem Lärm durch die angeschlossenen Geräte, anders als bei unserem Praktikum auf der gastroenterologischen Station. Schaum lief ihr aus dem Mund. „Intubieren, absaugen, und falls mal jemand Zeit für eine Herzdruckmassage hätte“, sah man Maries Mutter das „P“ in den Augen stehen. Marie und ich guckten uns an. Dass das von einer Sekunde auf die nächste so umkippen kann, hätten wir nicht vermutet. Wir hielten uns im Hintergrund. Ich kürze es ab: Es gelang Maries Mutter, massenweise Sekret aus der Lunge abzusaugen. Nach 3 x 30 Herzdruckmassagen und entsprechenden Medikamenten über die Vene schlug das Herz sofort wieder regelmäßig mit einem Puls von etwa 70. Als sie nach fast 20 Minuten soweit stabil und versorgt war, dass sie abtransportiert werden konnte, traf auch endlich mal der Notarzt ein.

Das Sprechzimmer sah aus wie ein Saustall von dem ganzen Verpackungsmüll und Zellstoff und so weiter. Maries Mutter sah aus wie aus dem Wasser gezogen. Schweiß lief ihr in Strömen durch das Gesicht, ihr Hemd war zwischen den Brüsten und unter den Armen großzügig durchtränkt. Sie setzte sich auf einen Stuhl, ihre Hände zitterten. Marie nahm sie in den Arm. „Hast du gut gemacht, Mami. Ich bin so stolz auf dich.“ – „Was für eine Scheiße. Mensch, war das nun nötig? Hätte sie nicht mal einen Tag eher kommen können? Warum warten die immer alle bis zur letzten Sekunde?“

Als wir ins Wartezimmer kamen, war dort Totenstille. Mindestens zwei Dutzend Augen guckten uns fragend an. Maries Mutter sagte laut: „Sie wird es überleben.“

Allgemeines seufzen. Was allerdings jetzt noch kommt, zieht einem die Schuhe aus. Maries Mutter hatte kurz geduscht und sich frische Sachen angezogen, bevor die nächste Patientin aufgerufen wurde. Wir sollten an der Anmeldung helfen. Plötzlich kam Maries Mutter raus, stapfte ins Wartezimmer, ging einen etwa 25jährigen Mann an. „Haben Sie hier gerade erzählt, dass es ein Fehler der beiden Praktikantinnen gewesen wäre, der dazu geführt hat, dass die Frau mit dem Notarzt weggebracht werden musste?“ – Marie und ich guckten uns mal wieder an und glaubten, unseren Ohren nicht zu trauen. – „Haben Sie oder haben Sie nicht?“ – Der Mann stammelte: „Ich habe gesagt, dass es so aussieht, als wenn.“ – „Raus. Sofort.“ – „War ja klar, dass Sie sie in Schutz nehmen. Dürfen Sie mich überhaupt ablehnen?“ – „Raus! Sie sind wohl schief gewickelt. Und kaum als Notfall hier reingekommen. Lassen Sie sich hier nicht wieder blicken.“ – Erneut starrten alle möglichen Leute erschrocken durch den Raum. Als er draußen war, sagte Maries Mutter: „Die Patientin war seit Tagen in einem lebensbedrohlichen Zustand. Meine Leute haben das sofort erkannt und mich gerufen. Dadurch konnte der Patientin geholfen werden. Sie hat hier, bevor sie umgekippt ist, keinerlei Medikamente bekommen. Damit liegt auch kein Behandlungsfehler vor, wie der Wichtigtuer hier behaupten wollte.“ – Sagenhaft. Aber wie schon gesagt und bereits bekannt, ich ziehe sowas an.