Froh und dankbar

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Sei froh und dankbar, dass du mitgenommen wirst.

Genau das nehme ich immer wieder wahr, wenn es darum geht, als Mensch mit einer Mobilitätseinschränkung mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu wollen. Auch knapp 15 Jahre nach Beginn meines Blogs hat sich nichts verändert. Ich würde sogar sagen, es ist insgesamt schwieriger geworden. Ja, ein paar Aufzüge wurden neu gemacht. Einige Stationen barrierefrei erschlossen. Aber Konsequenz kann ich – ehrlich gesagt und mit einer Träne der Enttäuschung im Auge – nicht erkennen.

„Sei froh und dankbar, dass du mitgenommen wirst.“ – Wird so ein Satz gesagt? Ja, tatsächlich. Von Menschen mit offiziellen Aufgaben. Laut und wörtlich. Manchmal auch durch die Blume, also indirekt. Aber er wird regelmäßig gesagt.

Wir sind noch lange nicht dort angekommen, wo wir 2022 sein wollten und sollten. Gerade habe ich erfahren, dass die Deutsche Bahn erneut ICE-Züge bestellt hat, die über keinen barrierefreien Einstieg verfügen. Soll heißen: Der Quatsch mit der klapprigen Hebebühne geht noch mindestens 30 Jahre so weiter. Und bevor jemand widerspricht: Die ICE-Züge, die zwei ebenerdige Eingänge haben sollen, sind eigentlich IC-Züge und fahren nur auf ausgewählten Strecken. Nein, man könnte viel weiter sein, wenn man nur wollte.

Behinderte meckern ja sowieso nur und sind undankbar. Ich auch. Ich habe ein ganz frisches Beispiel. Zum Meckern. Es ist noch keine zwei Monate alt: Helena und ich hatten einen Termin in Berlin. Um 13.00 Uhr sollten wir dort sein, und wer jetzt sagt, ihr habt doch ein Auto: Darum geht es ja gerade nicht. Es geht nicht darum, ob jemand mit dem Auto nach Berlin fahren kann (immerhin 9 Stunden hin und zurück am selben Tag). Sondern, ob es Rollstuhlfahrern möglich ist, mit der Bahn zu einem Termin nach Berlin zu kommen. Und leider ist das nicht möglich.

Weil noch immer kein Rollstuhlfahrer alleine in einen ICE kommt (oder wieder hinaus), hat die Bahn einen Service mit einem Hubkäfig eingerichtet. Nützlicher Nebeneffekt: Eben weil kein Rollstuhlfahrer alleine in den Zug kommt, steht auch keiner im Weg rum. Wer keine Reservierung hat, wird gar nicht erst eingeladen.

Ich habe vier Wochen vor dem Termin der dafür extra eingerichteten Koordinierungsstelle (Mobilitäts-Service-Zentrale) ein Online-Formular ausgefüllt. Mit dem Ergebnis, dass der Fahrtwunsch abgelehnt wurde. Sowohl für die Hin- als auch für die Rückfahrt. Bevor ich das nun 28 Mal wiederhole, habe ich mich ans Telefon geklemmt und die Hotline angerufen, 22 Minuten Musik gehört, und dann mit einer sehr freundlichen Dame gemeinsam nach Alternativen gesucht.

Weil der Überlandbus zur nächsten größeren Stadt ohnehin keine zwei Rollstuhlfahrer gleichzeitig mitnimmt und nur alle 60 Minuten fährt, müssten wir sowieso mit dem Auto zum nächsten Bahnhof fahren. Von dort war die Mitnahme nur in einem Regionalzug mit fahrzeuggebundener Einstiegshilfe möglich, weil im Abfahrtsbahnhof das Personal fehlt, das den Hubkäfig für einen Fernverkehrszug bedient. In Hamburg Hauptbahnhof (wo wir umsteigen müssten) könnten wir zudem nicht in den ICE nach Berlin einsteigen, weil der von einem Gleis abfährt, auf dem wegen Bauarbeiten der Hubkäfig nicht eingesetzt werden könne.

Also fuhren wir um 6.30 Uhr zu Hause los, standen rechtzeitig am Regionalzug, wurden problemlos mit der fahrzeuggebundenen Rampe in das Fahrrad- und Rollstuhlabteil gelassen und durften rund 75 Minuten später in Hamburg wieder aussteigen. Nun hatten wir 45 Minuten Zeit, um mit der S-Bahn zum Fernbahnhof Dammtor zu gelangen. Dort gab es jemanden, der den Hubkäfig bedienen und uns in den Berliner Zug lassen konnte. Wir fuhren also vom Hauptbahnhof mit der S-Bahn zum Bahnhof Dammtor, um dann mit dem ICE von Dammtor wieder zum Hauptbahnhof und dann weiter nach Berlin zu fahren.

Weil offenbar jemand über Nacht ein paar Kupferleitungen auf offener Strecke gestohlen hatte, wurde der ICE über Uelzen und Stendal umgeleitet. Weil die Strecke überwiegend eingleisig ist und zudem nur mit maximal 160 km/h befahren werden darf, verlängerte sich die Reisezeit um 55 Minuten. Weil kein Personal im Zug war, war das Bordrestaurant bis Berlin geschlossen. Und weil nur jeder zweite Zug fuhr (wegen der gesperrten Direktstrecke), war der Zug mehr als voll. Und natürlich: Das einzige barrierefreie WC war unbenutzbar.

So kamen wir statt um 11.22 Uhr um 12.17 Uhr in Berlin an und mussten uns beeilen. Schnell zur U-Bahn … achso: Aufzug defekt. Nicht nur versteckt, sondern auch defekt. Also mit der S-Bahn weiter. Wer sie kennt, die Aufzüge zur S-Bahn im Berliner Hauptbahnhof, weiß, dass das locker 15 Minuten dauern kann. So groß, wie sie sind, so langsam sind sie auch. An jedem Stockwerk drücken Fahrgäste für „nach unten“ und „nach oben“, was bedeutet, dass der Aufzug überall hält und in jedem der fünf Stockwerke einmal auf dem Weg nach unten und einmal auf dem Weg nach oben die Türen öffnet und schließt. Und bis er das macht, dauert auch das an jedem Haltepunkt ewig. Ja, die Kabine steht bündig und es dauert rund 10 Sekunden, bis die Tür überhaupt erstmal öffnet. Entsprechend lang sind die Schlangen von Rollstuhlfahrern, Kinderwagen, Putzkolonnen, Fahrrädern – wir mussten drei Abfahrten abwarten. Kurzum: Um 12.50 Uhr waren wir auf dem Bahnsteig des S-Bahn-Gleises.

Der nächste Umstieg sollte am Ostkreuz sein. Die dortigen Aufzüge funktionierten, auch der Anschluss passte. Bekommen haben wir den Anschluss aber nur, weil wir ganz lieb gebettelt haben, in der auf den Aufzug wartenden Schlange vorgelassen zu werden. Ich finde das peinlich, aber wenigstens kannte uns niemand. Um 13.30 Uhr erreichten wir – nach 7 Stunden Fahrt – mit 30 Minuten Verspätung unser Ziel. Und zum Glück hat derjenige, mit dem wir verabredet waren, auf uns gewartet. Vorher noch was essen oder wenigstens mal zum Klo war nicht drin. Aber besser als gleich wieder nach Hause zu müssen: Ich hatte schon damit gerechnet, dass wir vor verschlossenen Türen stehen. Und nein, man konnte dort nicht anrufen. Das war nicht vorgesehen. Und ja, es war ein offizieller Termin.

Um 15.00 Uhr traten wir die Rückfahrt an. Kamen rechtzeitig am Hauptbahnhof an und hatten noch 45 Minuten Zeit, bevor unser Zug nach Hamburg abfahren würde. Wir meldeten uns ordnungsgemäß beim Hubkäfig-Bedienpersonal an, wo wir erstmal erfuhren, dass in dem Zug wegen einer technischen Panne alle Sitzplatzreservierungen gelöscht seien und man uns ohne Reservierung nicht in den Zug einladen dürfe. Aber man würde uns anbieten, mit dem Zugbegleiter zu sprechen. Wenn der nichts dagegen hätte, würde man uns auch kurzfristig und gegen alle Regeln doch noch einladen.

Ich konnte mir ein „der wird nichts dagegen haben, denn die Plätze sind ja frei. Wenn die nicht für uns reserviert sind, hat sie auch niemand anderes reserviert“ und dachten uns: Wenigstens noch einmal aufs Klo. Auf dem Weg dorthin: „Ding Dong! Achtung, eine wichtige Durchsage: Frau Jule Stinkesocke! Frau Jule Stinkesocke! Bitte kommen Sie umgehend zum Service-Point. Für Sie liegt eine wichtige Nachricht vor.“

Wollten die Mitarbeiter der Deutschen Bahn jetzt allen Ernstes noch einmal über unsere gelöschte Reservierung diskutieren? Will ich mir das antun oder überhöre ich das? Nee, dachte ich mir, vielleicht liegt noch ein anderes Problem vor. Zug hat 300 Minuten Verspätung oder so. Also fuhren wir zurück und erfuhren, dass meine auf dem Auftrag vermerkte Handynummer falsch sei. Eigentlich war sie richtig, aber man hatte sich beim Anrufen wohl vertippt. Der Aufzug zum Gleis in Berlin gehe nicht. Es gebe einen Notfallplan, aber dafür müssten wir jetzt sofort losgehen. Also fuhren wir mit einer Bahnmitarbeiterin auf den Bahnsteig eines anderen Gleises, um dann am Ende des Bahnsteigs durch eine Brandschutztür in ein verlassenes Treppenhaus geführt zu werden, dort mit einem Evakuierungsaufzug in ein Zwischengeschoss gebracht und mit einem anderen Evakuierungsaufzug auf den Bahnsteig unseres endgültigen Gleises gebracht zu werden. Unseren Zug erreichten wir gerade so eben, unsere Tür nur durch einen Sprint, denn niemand wusste, dass der Zug falsch herum (also rückwärts) gereiht einfuhr.

Inzwischen war die Strecke, auf der jemand Kupferleitungen gestohlen hatte, wieder befahrbar. Und so brauchten wir nur die üblichen 106 Minuten von Berlin nach Hamburg. Aber: Auch dieser Zug sollte in Hamburg Hauptbahnhof auf einem Gleis angekommen, an dessen Bahnsteig der Aufzug defekt sei. Also müssten wir wieder bis Dammtor weiterfahren, dort herausgehoben werden, mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof zurück – um dort zu erfahren, dass der Aufzug, wegen dessen angeblichen Defekts wir bis Dammtor weitergeschickt wurden, einwandfrei funktionierte. Argh! Resilienz, wo bist du?

Von Hamburg fuhren wir dann ohne weitere Zwischenfälle mit einem Nahverkehrszug weiter zu jenem Bahnhof, an dem das Auto stand. Um 19.50 Uhr saßen wir wieder im Auto. Nach rund 14 Stunden waren wir wieder zu Hause.

Aber wir waren froh und dankbar, dass wir mitgenommen wurden. Oder so ähnlich.

Augenblickversagen

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Wenn wir schon bei Regelübertretungen sind: Ich bin seit Jahren nicht mehr geblitzt worden. Marie auch nicht. Weil wir beide relativ vorschriftsmäßig fahren. Nie in einem Bereich, in dem es Punkte geben würde, und in aller Regel auch so wie es dransteht. Neulich kam ich vom Spätdienst nach Hause, da war auf einer Landstraße, auf der sonst 100 km/h gefahren werden darf, 50 km/h angeordnet. Wegen Bauarbeiten. Allerdings war die Baustelle bereits weg. Es lagen nur noch ein paar Warnbaken am Straßenrand. Da bin ich tatsächlich Tacho 75 gefahren. Mit Toleranzabzug … nee, ich glaube, da blitzt keiner. Eher räumen sie mal das vergessene Schild weg. Das am nächsten Morgen übrigens seitwärts gedreht war.

So richtig heftig werden sollte es, als wir vor einigen Monaten in Niedersachsen auf einem Konzert waren. Marie und ich mit Helena. Das Konzert war vorbei, wir fuhren nach Hause. Helena quatschte auf dem Rücksitz, wie toll der Typ singen kann, der da gesungen hatte, ich versuchte mich, bei Dunkelheit und Regen und relativ viel Verkehr in einer mir unbekannten Großstadt auf den Weg zur Autobahn zu konzentrieren. Wir waren froh, dass wir das Konzert ohne Regen überstanden hatten und der Wolkenbruch erst begann, als wir gerade im Auto saßen.

Das Navi wollte mich geradeaus schicken. Fünf Spuren sollten geradeaus gehen, fünf grüne Ampeln leuchteten über der Straße, 60 war erlaubt. Es schüttete. Plötzlich wurde die Fahrspur, auf der ich fuhr, zur Linksabbiegerspur. Gerade eben noch stand über unserer Spur „Richtung Autobahn“, jetzt plötzlich waren wir durch eine fett gestrichelte Linie abgetrennt und sollten nach links ins Wohngebiet geführt werden. Ich wollte eine Spur weiter nach rechts, doch da fuhr jemand in gleichem Tempo. Also wurde ich langsamer. Er auch. Also wurde ich noch langsamer, bremste sogar. Er auch. So langsam endete meine Spur, so langsam näherten wir uns der grünen Ampel. Warum wurde er vor einer grünen Ampel langsamer?

Ich blieb fast stehen. Nun wurde der Kollege in der rechten Spur wieder schneller, und ich schaute, ob ich über die inzwischen durchgezogene Linie einfach geradeaus weiter fahre und mich hinter ihm einordne. Das wäre immerhin besser, als in irgendeiner Anwohnerzone zu landen und dort erstmal mühsam wieder rauszufinden. Rechts neben mir war niemand, schräg rechts hinter mir auch nicht, noch weiter rechts war auch niemand, der nach links in dieselbe Spur wechseln könnte, hinter mir fuhr … oh. Ein Streifenwagen. Dann wohl lieber doch nicht.

Also doch ins Wohngebiet und dort wenden. Ich blinkte links, schaute auf die Straßenbahnschienen, die in der Mitte der Straße verliefen, achtete auf den Gegenverkehr, auf die Fußgänger und zuckelte mit den erlaubten 30 km/h durch die Wohnstraße, um bei nächster Gelegenheit zu wenden. Dazu kam es nicht. Hinter mir gingen alle Lampen an: Stop, Polizei.

Lange Rede, kurzer Sinn: Ich hatte eine Linksabbieger-Ampel übersehen. Die nicht über der Straße hing, sondern links an einem Ampelmast. Zusammen mit drei mal drei Lichtzeichen für die Straßenbahn. Marie hatte sie auch nicht gesehen, sagte sie hinterher. Und sie hatte mit auf den Verkehr geachtet. Immerhin hatte ich beim Konzert nichts Alkoholisches getrunken. Was ich nie mache, wenn ich noch fahren muss.

Gestern war die Gerichtsverhandlung. Zwei Punkte in Flensburg wären Asche. Wenn die fünf Jahre stehen bleiben würden, wäre ich wohl ungeeignet, um Helena beim Begleiteten Fahren zu begleiten. Aber so ist das Gesetz. 200 Euro … naja. So ist das Gesetz auch. Aber ein Monat Fahrverbot wäre der Hammer, weil ich jeden Tag eine Dreiviertelstunde zur Arbeit fahre und dort weder Bus noch Bahn verkehrt. So. Eine. Scheiße. Darüber hätte ich gerne noch einmal gesprochen. Zu verlieren gab es nichts.

„Julia Socke? Sie sind 27 Jahre alt, ledig, wohnhaft in […]; was sind Sie von Beruf?“ – Ich sagte dem Richter, dass ich mich in Pädiatrie weiterbilde. Der Mann war kurz vor seiner Pensionierung, hatte leicht gewelltes, schwarzes Haar, hatte der Sonnenbräune nach zu urteilen gerade Urlaub gehabt und er trug eine Brille mit einem schmalen silbernen Rand. Er klärte mich, vermutlich pflichtgemäß, darüber auf, dass ich mich vor Gericht nicht selbst belasten müsste. Er erwähnte, dass ich keine Vorstrafen habe und auch keine Punkte in Flensburg.

„Ihnen wird vorgeworfen, am […] in [einer Großstadt] einen Rotlichtverstoß begangen haben. Dabei war die Ampel länger als eine Sekunde Rot. Sie haben sich bislang dazu nicht geäußert. Möchten Sie sich heute dazu äußern?“ – „Ja.“ – „Und was sagen Sie dazu?“ – „Es stimmt.“ – „Sie geben den Verstoß also zu und möchten vermutlich erreichen, dass Ihnen das Fahrverbot in eine höhere Geldbuße umgewandelt wird, weil Sie als berufstätige Rollstuhlfahrerin natürlich täglich auf Ihr Auto angewiesen sind, richtig? Sie sind sehr nervös, das sehe ich. Machen Sie sich bitte keine Gedanken, es passiert hier nichts Schlimmes. Wir können über das Fahrverbot sprechen. Meistens verdreifacht sich dann das Bußgeld. Das könnten Sie notfalls in Raten zahlen. Aber erzählen Sie mir doch bitte erstmal, wie es zu dem Verstoß gekommen ist.“

Ich erzählte ihm die Geschichte. Er fragte, mit wem ich auf dem Konzert war. Ich erzählte kurz von Helena. Ich erzählte auch, wie heilig mir mein Führerschein ist. Ich erzählte ihm, dass ich eigentlich verbotenerweise die durchgezogene Linie überfahren wollte, ich mich dann aber wegen des Streifenwagens hinter mir kurzfristig anders entschieden habe. „Meine Ehrlichkeit hat damit vermutlich einen Grad erreicht, den man auch als Dummheit bezeichnen könnte.“

„Nein, Frau Socke. Sie liefern damit einen entscheidenden Hinweis. Sie wollen eine Regel übertreten, sehen dann aber kurzfristig davon ab, weil Sie die Polizei hinter sich sehen. Und begehen einen noch viel größeren Regelverstoß. Es war nass, es war schlechte Sicht, es war dunkel, viele Lampen leuchteten, insbesondere an dem Mast mit der für Sie maßgeblichen Linksabbiegerampel, die Rot zeigte. Sie haben diese Ampel einfach nicht wahrgenommen. Kann das sein?“

„Nur so kann ich es mir erklären. Hätte ich sie korrekt wahrgenommen, wäre ich nicht bei Rot gefahren.“ – „Juristen sprechen dabei von einem ‚Augenblickversagen‘. Und das kann für sich betrachtet schon ein Grund sein, um von einem Fahrverbot abzusehen. Das kann jeden Menschen betreffen, der in der Routine trotz aller Sorgfalt und Genauigkeit und dem Willen, korrekt zu agieren, etwas Wichtiges übersieht. Es kommt hinzu, dass an dieser Kreuzung selbst Ortskundige regelmäßig Verstöße begehen, gerade beim Abbiegen. Was mich wundert: Warum haben wir eigentlich kein Bild von dem Verstoß in der Akte? Da steht doch ein Blitzer.“

„Der Blitzer hat nicht ausgelöst, weil die Ampelanlage einen gemeldeten [?] Defekt hatte. Das ist meistens eine kaputte Lampe. Wenn die Ampelanlage feststellt, dass bei ihr irgendwas nicht geht, löst auch der Blitzer nicht aus. In diesem Fall gibt es aber die eindeutige Aussage der Polizeibeamten, dass Frau Socke bei Rot gefahren ist und sie hat es ja auch eingeräumt.“

Der Richter antwortete: „Sie hat es nicht eingeräumt. Sie hat die Ampel nicht gesehen und wehrt sich nicht gegen die Behauptung, sie sei bei Rot gefahren. Das ist ein Unterschied. Es ist Aufgabe der Stadt, die Ampelanlage den Regeln entsprechend zu betreiben. Wir wissen nicht, was konkret defekt war und wie dieser Defekt sich auf das Verhalten der Verkehrsteilnehmerin ausgewirkt hat. Noch dazu an dieser Kreuzung, die ohnehin sehr anspruchsvoll ist. Noch dazu die Witterungsbedingungen. Augenblickversagen. Eine schwere Behinderung, die Frau Socke auf ihr Auto angewiesen sein lässt. Es kommen so viele Zweifel, Faktoren und Umstände zusammen, dass ich eine Strafe nicht rechtfertigen kann. Möchten Sie dazu gehört werden?“, fragte er den Verkehrsmenschen. Der schüttelte den Kopf.

„Das Verfahren ist eingestellt. Alles Gute für Sie! Fahren Sie vorsichtig.“ – Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Bedankte mich. Fing vor Rührung fast an zu heulen. Da hatte ich aber richtig Glück gehabt! So richtig fassen kann ich es noch immer nicht.

Denkzettel

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Dass eine Person mit einem Rollstuhl durch einen Baumarkt fährt, mag ja heute keine große Besonderheit mehr sein. Aber wenn nun drei Menschen im Rollstuhl hintereinander herfahren, dann bleiben selbst heute noch Leute stehen oder rennen gar gegen ein Regal. Ganz zu schweigen von den vielen lustigen Sprüchen und Fragen, wie beispielsweise der, ob wir ein Rollstuhlrennen machen. Oder ob man die Dinger im Baumarkt testen und kaufen könnte. Die Oma sei nämlich schlecht zu Fuß. Und wehe, ich lächle dann nicht. Dann gibt es beleidigte Leberwürste, und nachdem ich mal gesehen habe, was so alles in eine Leberwurst gedreht wird, mag ich keine Leberwürste mehr. Schade.

Auf den wenigen Rolliparkplätzen vor dem Baumarkt konnten wir nicht parken, weil mal wieder alle anderen darauf parkten. Bis auf eine Ausnahme hatte niemand einen Ausweis. Zu unserem Glück mussten wir nicht viel oder schwer schleppen. Zu unserem Pech ging in dem Moment, als wir über den großen Parkplatz zurück zum Auto rollen wollten, ein Wolkenbruch los, so heftig und so derbe plötzlich, dass wir es gerade noch schafften, uns in ein Zelt zu retten, das ein Würstchenverkäufer auf dem Baumarktparkplatz aufgebaut hat. Bis zum Auto und vor allem bis wir alles verladen hätten, wären wir nass bis auf die Knochen gewesen.

Wenn ich schon keine Leberwurst esse, esse ich Bratwürste eigentlich erst recht nicht. Marie auch nicht. Helena auch nicht. Ob wir trotzdem hier stehen dürften für ein paar Minuten? Beim Würstchenverkäufer fiel mir sofort sein unvollständiges Gebiss und eine eindeutige Alkoholisierung auf. Im Zelt futterte ein Mensch eine Currywurst, der, wenn er kein Rocker war, zumindest wie einer aussah. Mit ihm warteten zwei weitere Typen. Alle drei trugen die gleiche Lederkluft und Sonnenbrillen, hatten kahlrasierte Schädel und lange Bärte, waren extrem tätowiert und hatten auf ihrem Rücken die gleichen Symbole auf der Kutte aufgenäht. „Denen möchte ich nicht im Dunkeln begegnen“, dachte ich mir so.

„Dürfen wir ganz kurz hier warten bis es etwas weniger regnet, auch wenn wir nichts bestellen, sondern nur einen Taler in die Kaffeekasse werfen?“, fragte ich. Der Würstchenverkäufer nickte fröhlich, der Typ mit der Currywurst sagte zu seinen Kumpeln: „Zieht mal die Ärsche ein, damit die Bräute hier komplett reinpassen. Nicht, dass die Lütte noch wegschwimmt. Wie alt bist du?“, fragte er Helena. Helena antwortete etwas schüchtern: „Dreizehn.“ – Während er kaute, sagte er: „Dreizehn … als ich dreizehn war, hab ich mit der Schule schon nichts mehr am Hut gehabt. Hausaufgaben hab ich nie gemacht und Fehlstunden … 333 Stück. Oder so.“ – Die anderen beiden lachten dreckig. Er fuhr fort: „Mach das bloß nicht nach, hörst du?“ – Helena schüttelte den Kopf. Geheuer war ihr der Typ nicht, das sah ich ihren Augen an. Sie guckte mich an, entspannte sich etwas und lächelte.

In der nächsten Sekunde brüllte er mit derart lauter und tiefer Stimme, dass Helena vor Schreck fast aus ihrem Rollstuhl sprang: „Hööiiii! Kannst du lesen? Oder hast du Tomaten auf den Augen? Du willst mir doch nicht sagen, dass du ne Behinderung hast!“ – Die Brüllerei richtete sich an jemanden, der gerade auf einem der frei gewordenen Rolliplätze parkte, ausstieg und beinahe wie ein junger Gott mit einem Regenschirm in der Hand in Richtung des Baumarktes sprang. Der Mensch blieb erschrocken stehen und sagte: „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.“ – Unser Rockerfreund ging zum Eingang des Zeltes, stemmte seine Hände in die Hüften und sagte: „Das geht mich verdammt was an. Meine Freunde hier müssen bei Regen über den gesamten Parkplatz eiern, weil du Idiot denen die Plätze wegnimmst. Sieh zu, dass du deine Karre umparkst, sonst erledige ich das gleich für dich.“ – „Blas dich hier nicht so auf“, sagte der Falschparker und lief weiter.

Unser Rockerfreund zog die Nase hoch, schüttelte den Kopf und sagte: „Wie ich solche Krawattenträger hasse. Zu fein, mal zehn Schritte durch den Regen zu laufen. Lieber nehmen sie anderen Leuten die Parkplätze weg. Der kriegt jetzt erstmal eine Packung.“ – Die beiden anderen Kollegen lachten erneut dreckig. Was hatte er vor?

Ohne Schirm stapfte er zum falsch geparkten Auto, holte ein Taschenmesser aus seiner Lederweste und begann, die Kennzeichen des Autos abzumontieren. Erst vorne, dann hinten. Beide waren in so eine Blende mit Werbeaufdruck geklemmt. Die Kennzeichen stellte er neben einen Müllcontainer neben dem Imbisszelt, dann kam er völlig durchnässt wieder rein und sagte: „Meister, gib mir mal was von deiner Papierrolle.“ – Er bekam eine Rolle Küchentücher und trocknete sich damit ausgiebig die Glatze und das Gesicht ab. Irgendwann deutete er auf meine Beine und sprach mich an: „War das ein Unfall?“ – Ich sagte: „Auf dem Schulweg, ja. Eine Autofahrerin hat mich erwischt beim Abbiegen. Fußgängerüberweg. Ich hatte grün, sie auch … zack.“ – „Bei dir auch?“, fragte er Marie. Marie schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, ich habe das seit Geburt. Ich bin so auf die Welt gekommen.“ – „Was gibt es bloß für einen Scheiß auf dieser Welt? Ich stelle mir das schlimm vor, in so einem Ding sitzen zu müssen. Entschuldige, wenn ich so direkt bin.“ – „Ich habe nie etwas anderes kennengelernt“, sagte Marie. Der Typ guckte sie an, dachte einen Moment nach und verkniff sich irgendwas. Wie zu erwarten war, kam die Story von einem Kumpel, der jetzt im Rollstuhl sitzt.

Dann guckte er Helena an, traute sich aber wohl nicht, sie auch zu fragen. Helena sagte: „Ich kann laufen. Wollen Sie mal sehen?“ – Bevor er antwortete, stand sie auf und wackelte in dem engen Zelt einmal um unsere drei Rollstühle herum. Der Imbissbesitzer klatschte, aber unser Rocker sagte: „Bist du bescheuert, da klatscht man nicht. Aber eins musst du dir merken: Ich will von Frauen nicht gesiezt werden. Ich heiße Torsten. Und …“

Bevor er weiter reden konnte, kam der Falschparker zu seinem Auto zurück. Er wollte gerade einsteigen, als Torsten sich wieder in den Zelteingang stellte und rief: „Die Bullen waren gerade hier und haben deine Kennzeichen mitgenommen. Sie mussten gleich weiter und hatten leider keine Zeit. Wir sollen dir aber ausrichten, wenn du ohne Kennzeichen fährst, bist du reif. Du sollst da drüben zur Wache kommen und deine Kennzeichen auslösen. Tja, dumm gelaufen, würde ich sagen.“

Einer seiner Kumpel röhrte lachend in sein Glas. Helenas Augen wurden immer größer. Marie guckte mich an. Ich dachte mir so: Damit möchte ich eigentlich nichts zu tun haben. Mit so einem Scheiß, so nett es auch gemeint ist, macht man sich bestimmt strafbar. Amtsanmaßung oder irgendsowas. Der Falschparker kam mit seinem Schirm zum Imbiss gelaufen. „Haben die gesagt, was es kostet?“ – „Ich würde vorher lieber nochmal zum Automaten. Die haben bestimmt keine Kartenzahlung da.“ – „Haben Sie dort angerufen?“ – Torsten grinste. Der Mann lief mit seinem Schirm in der Hand davon.

„So, Regen wird weniger. Wir machen zügig die Biege. Vorher baue ich ihm noch schnell seine Kennzeichen wieder an.“ – Er gab Marie, mir und zum Schluss Helena seine Pranke. „Hol di fuchtig“, sagte er zu ihr. Was auf Hochdeutsch so viel heißt wie: „Machs gut.“ – Das Anbauen der Kennzeichen dauerte nur Sekunden. Reinstecken, gegendrücken, fertig. Der Regen hatte so gut wie aufgehört. „Wir machen uns dann auch mal vom Acker“, sagte ich. Ich hatte keine Lust, erst noch befragt zu werden. Denn er würde mit ziemlicher Sicherheit nicht alleine wiederkommen.

Ich sage nochmal, dass ich Selbstjustiz nicht gut finde. Es ist nicht meine Aufgabe, jemand anderen für sein falsches Verhalten zu sanktionieren. Das ist alleine Aufgabe des Staates und seiner Organe. Ich hoffe trotzdem, dass dem Falschparker dieser Denkzettel eine Lehre war. Ich vermute allerdings, er wird spätestens bei der Rückkehr realisiert haben, dass Torsten ihm ein Märchen aufgetischt hat. Von daher dürfte der Erfolg des Denkzettels dann auch dahin sein. Und nein, wir haben nicht mitbekommen, wie das ausgegangen ist. Wollen wir auch nicht.

Mal wieder Rucksack

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Ich hatte ja ein wenig Befürchtungen, dass die Medikamente in meinem Notfallrucksack ablaufen, bevor sie eingesetzt werden. Ja, wer es nicht lesen will und behaupten möchte, dass mein Magnet neben irgendwelchen Idioten auch noch das Unglück magisch anzieht, der soll es tun und weiterblättern, denn: Ich habe in der letzten Woche schon wieder Erste Hilfe leisten müssen. Müssen, denn das Gesetz erwartet es von mir, wenn ich so etwas studiert habe.

Ich wollte unbedingt noch bis 18 Uhr zur Post, musste noch ein Paket loswerden. Und ein Einschreiben. Ich wollte Briefmarken kaufen. Und bei meiner Bank etwas unterschreiben. Stattdessen sah ich, wie in etwa 150 Meter Entfernung eine Frau über die Fahrbahn lief. Die Straße war an dieser Stelle zweispurig, also pro Richtung eine Fahrspur, durch eine gestrichelte Mittellinie unterteilt. Sie wollte einen Bus erreichen, der auf der gegenüberliegenden Seite in einer Bushaltebucht wartete. Ob sie geschaut hat, weiß ich nicht, jedenfalls offenbar nicht in beide Richtungen. Über den ersten Fahrstreifen kam sie hinweg, im zweiten lief sie direkt vor einen weißen Opel, im Nachhein denke ich, es war ein Crossland X. Trotz Vollbremsung erfasste er die Frau mit letzter Restgeschwindigkeit mit seiner vorderen rechten Ecke. Die Frau stolperte und fiel hin. Auf die Entfernung sah es erstmal nicht ganz so heftig aus. Mehr konnte ich aber auch nicht sehen.

Vor mir steuerten bereits zwei andere Personen ihre Autos auf den Radweg und stiegen aus, um der Frau zu helfen. Sie lag am Boden, war offensichtlich ansprechbar, und hielt sich den linken Arm. Aus dem weißen Opel stieg ein geschätzt fünfzig Jahre alter Mann mit schwarzer Hautfarbe, der sofort zu der verletzten Frau lief, sich neben ihr auf den Bordstein setzte und die Hände vor sein Gesicht schlug. Der Bus, den die Frau erreichen wollte, fuhr ab und kurvte dabei umständlich um das stehende Unfallauto herum. Ich fuhr mit meinem Auto an der Unfallstelle vorbei und versuchte, nach links auf die Bushaltebucht zu kommen. Ich wollte auf keinen Fall im fließenden Verkehr aussteigen. Es war schwierig, jemanden aus der wartenden Schlange zu überzeugen, mal einen Moment stehen zu bleiben, um mich dorthin durchzulassen. Blinken nützte nichts, nur meine Hamburger Dreistigkeit (HDL = Hupen, Drängeln, Lächeln) brachte Erfolg. Ich stellte mein Auto gegen die Fahrtrichtung in die Bushaltebucht und konnte so auf der dem Verkehr abgewandten Seite aussteigen.

Inzwischen schrie die Frau, hatte vermutlich Schmerzen. Rund ein Dutzend Menschen stand herum und glotzte. Eine Frau, geschätzt 55 Jahre alt, versuchte, auf die verletzte Frau einzureden. Sie verstand sie offensichtlich nicht, und wie sich später herausstellte, war die verletzte Frau in Kabul geboren und vermutlich noch nicht lange in Deutschland. Problematisch fand ich, dass die Frau bei der Kollision sich offenbar eine größere Gefäßverletzung am linken Arm zugezogen hatte. Das Blut lief in Strömen und die Frau versuchte panisch, ihre eigene Blutung zu stoppen, indem sie den Daumen der anderen Hand in die Wunde presste, was aber nichts brachte.

Der Fahrer des weißen Opel weinte inzwischen und wimmerte: „Ich habe gebremst so stark wie ich konnte. Ich wollte das nicht.“ – Ich öffnete mit der Fernbedienung meine Heckklappe und bat einen der umstehenden Zeugen, die mit dem Auto angehalten waren, meinen Notfallrucksack unter der Ladefläche herauszuholen. Die Frau, die sich bereits um die verletzte Frau kümmerte, war eine Krankenschwester. Sie erkannte richtig, dass die massive Blutung sofort gestoppt werden müsste. Der Sauerei nach würde ich mal vermuten, dass in den zwei Minuten seit dem Unfall locker ein Liter Blut aus dem Arm gelaufen war. Problem war, dass die Frau sich wehrte, sobald jemand ihren Arm berührte. Blutet das so weiter, wäre es nur noch eine Frage von Minuten, bis sie das Bewusstsein verliert. Nur das galt es eigentlich zu vermeiden.

Ich rutschte aus dem Rollstuhl auf den Boden, setzte mich auf Knie und Fersen vor die Frau. Inzwischen war mein Rucksack da. Die verletzte Frau hörte auf zu schreien und guckte mich an. Ich fragte: „Verstehen Sie mich?“ – „Nicht gut deutsch“, sagte sie. „English?“, fragte ich. Sie antwortete: „Little.“ – Ich versuchte es so: „Doktor help. Arm: Nix gut. Doktor help. Okay?“ – Und bevor sie noch lange herumhampeln konnte, hatte sie einen Stauschlauch am Oberarm. Zugezogen, ein kurzer Schrei, Ende von Blutung. Natürlich könnte sich das negativ auf eventuelle Verletzungen des Arms auswirken, aber das ist in dem Moment definitiv zweitrangig. Ich sagte: „Andere Seite einen großen Zugang, und dann den Fahrer mal aus dem Geschehen rausnehmen, am Besten in das Haltestellenhäuschen setzen und ne Decke über die Schultern legen und beruhigen.“ – „Mach ich“, sagte der Mann, der schon meinen Rucksack geholt hatte. Die verletzte Frau wurde blass und weinerlich. Ich dachte mir so: Jetzt bitte nicht noch einen Kreislaufstillstand. „Hat schon jemand einen Rettungswagen gerufen?“

Hatte jemand. Direkt nach meiner Frage hörte man den auch schon. Dem Lärm nach kamen da auch mindestens zwei Fahrzeuge. Das zweite war die Polizei. Die Besatzung des Rettungswagens forderte sofort den Notarzt nach. Anschließend holten sie die Trage, als die Frau vernünftig lag, versorgte die Sanitäterin den gestauten Arm mit einem Druckverband. Die Frau blieb bei Bewusstsein. Meine Infusion war daran wohl nicht ganz unbeteiligt. Die Polizistin fragte, was geschehen sei. Die Frau sagte: „Ich nicht gesehen Auto. Bus kam. Straße gelaufen. Ich Fehler gemacht. Mann bitte Entschuldigung. Polizei bitte Entschuldigung.“

Die Sauerstoffsättigung lag bei 99%, der Blutdruck bei 130 zu 110, Puls unter 100, keine Anzeichen für einen Schock. Auch wenn der durchaus an der Tür geklopft hatte bei dem Blutverlust. Aus meiner Sicht müsste hier kein Notarzt kommen, aber das habe ich ja nicht zu entscheiden. Ein Mann kam hinzu, offenbar der Partner der verletzten Frau. Er war völlig aufgeregt, kam mit mehreren anderen Männern zusammen angelaufen. Die Frau sprach mit ihm. Hektische Wortwechsel. Kein Wort zu verstehen. Dann sagte er zu der Polizistin: „Meine Frau sagt, sie hat Fehler gemacht. Nicht geguckt ob Auto kommt.“

Ich kletterte wieder in meinen Rollstuhl. Rollte zu dem Opelfahrer. Der saß in dem Haltestellenhäuschen und weinte. Der Zeuge versuchte, ihn zu beruhigen. Ich sagte: „Machen Sie sich keinen Kopf. Sie haben alles richtig gemacht. Es gibt Dinge im Straßenverkehr, die kann man nicht verhindern.“ – „Ist sie schwer verletzt?“ – „Nein. Wie es aussieht, hat sie nur eine stark blutende Wunde am Arm und deshalb ein paar Probleme mit dem Kreislauf. Sie kommt jetzt ins Krankenhaus und wird dort einmal durchgecheckt, aber es sieht nicht so schlimm aus.“ – „Ich möchte keinen Ärger. Ich lebe friedlich in diesem Land und ich wollte das nicht.“ – „Ihnen wird nichts passieren. Die Zeugen haben alle ausgesagt, dass sie Ihnen vor den Wagen gelaufen ist. Die Frau selbst hat das auch schon zur Polizei gesagt. Ich rate Ihnen, sagen Sie nichts zur Sache, sondern warten Sie erstmal ab. Das Recht haben Sie.“ – „Ich habe Angst, dass ich die falsche Hautfarbe habe.“ – „Nein, da machen Sie sich mal keine Sorgen, wir sind ja alle dabei.“

Die Angst war völlig unbegründet. Die Polizistin sprach mit dem Mann und sagte: „Sie bekommen von uns die Daten der Unfallgegnerin, die bereits eingeräumt hat, den Unfall verursacht zu haben. Die Zeugenaussagen stimmen auch alle überein. Danach ist die Frau Ihnen direkt vor das Auto gelaufen. Mein Kollege macht jetzt noch Bilder vom Unfallort. Ich müsste einmal Ihren Führerschein und Ihren Personalausweis sehen und die Papiere vom Fahrzeug.“ – „Ist mein Führerschein weg?“ – „Nein, wie kommen Sie denn darauf? Ich möchte nur Ihre Daten haben. Den Führerschein bekommen Sie gleich wieder. Sie haben sich ja nichts zu Schulden kommen lassen. Ich nehme von Ihnen auch keine Aussage auf, weil Sie neben sich stehen. Es kann sein, dass Sie nochmal angeschrieben werden, aber vermutlich kommt da nichts mehr.“ – „Ist es schlecht, keine Aussage zu machen?“ – „Nein, Ihre Aussage ist nichts wert, wenn Sie aufgewühlt und unter Schock stehen. Und wir brauchen die Aussage auch nicht. Wir wissen auch so schon, dass Sie sich nichts zu Schulden kommen lassen haben. Wenn das bei der Staatsanwaltschaft noch jemand anders sieht, nehmen Sie sich einen Anwalt und dann können Sie immernoch eine vollwertige Aussage machen. Aber ich glaube nicht, dass da noch was kommt. Auch gegen die Frau nicht. Die ist mit ihrer Verletzung gestraft genug, da muss man ihr nicht noch ein paar Euros abknüpfen, die sie vermutlich sowieso nicht übrig hat. Gibt es jemanden, der Ihr Auto einparken kann? Weil, sie sollten damit jetzt so nicht weiterfahren in Ihrem Zustand.“

Er hatte bereits seine Frau angerufen, die in diesem Moment eintraf. Der Notarzt guckte die Frau an, fuhr anschließend gleich zum nächsten Einsatz weiter. Am Ende waren alle weg. Socke packte mit Hilfe der Krankenschwester ihren Rucksack zusammen, räumte den ganzen Erste-Hilfe-Müll ein wenig zusammen und packte ihn in den Eimer an der Haltestelle und machte sich auf den Heimweg. Bedankt hatte sich niemand in der Aufregung. Einer geflüchteten Frau aus Kabul eine Rechnung zu schreiben, war vermutlich auch aussichtslos. Nachdem der Rettungswagen mir leider meine Verbrauchsmaterialien nicht ersetzen konnte, kann ich vielleicht bei Susi demnächst mal wieder was zum Einkaufspreis abgreifen. Als ich einstieg, hielt der nächste Bus. Auf der Fahrbahn. Der Busfahrer öffnete die vordere Tür und pöbelte in militärischem Tonfall: „Nur weil du behindert bist, heißt das nicht, dass du da parken darfst.“ – Dabei traten ihm fast die Augen aus den Höhlen. Ich lächelte freundlich und erwiderte seinen Gruß durch korrektes Anlegen der rechten Hand an den Kopf.

Zur Post, zur Bank, Einschreiben mit Frist konnte ich alles vergessen. Es war weit nach 18 Uhr. Aber wenn die Pflicht ruft und ich gebraucht werde …