Big Brother

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Da sitzen wir also an einem Samstagmorgen, nachdem alle ausgeschlafen haben, beim gemeinsamen Frühstück. Es fällt vor allem zeitlich erheblich üppiger aus als an Schultagen. Und es ist das einzige Frühstück, das wir in dieser Woche alle gemeinsam begehen können, da ich am morgigen Sonntag arbeiten muss. Helena ist schon vor meinem ersten Gähnen losgeflitzt und hat frische Brötchen beim Bäcker geholt, Marie hat in der Küche alles zubereitet, ich habe den Tisch gedeckt: Teamwork funktionierte.

Marie und ich reden morgens üblicherweise nicht so viel. Wir schweigen nicht, aber lebhafte Diskussionen oder großartige Geschichten kommen in der ersten halben Stunde üblicherweise nicht vor. Man kann das als Morgenmuffeligkeit bezeichnen, ich wäre aber auch mit der Behauptung einverstanden, mein System laufe erst mit halber Umdrehungszahl. Und da weder jemand mit dem Auto in unsere Hauswand gekracht ist (wie kürzlich bei einer Kollegin, wobei sie auch an einer Stelle wohnt, an der ich niemals ein Haus gekauft oder gar gebaut hätte), noch jemand eine große Kanne mit flüssigem Inhalt umgeworfen hat (wie kürzlich eben jene Kollegin im Pausenraum), konnte mein ganzes Adrenalin heute morgen im Nebennierenmark verbleiben. Ist auch mal schön.

Handys und andere Unterhaltungsgeräte sind bei uns am Tisch tabu. Es läuft auch kein Fernseher im Hintergrund. Ich möchte vorsichtig behaupten, dass ich mit der Situation sehr zufrieden bin. Helena hat keine Sendung oder Serie, die sie regelmäßig im Fernsehen schauen möchte. Sie spielt am Handy auch keine Spiele. Aber sie kommuniziert sehr viel über das Ding. Bisher gab es damit noch keine Probleme (oder wir sind schon mittendrin und wissen es nur noch nicht). Wir können uns wirklich nicht beklagen. Gerade am Anfang der Woche habe ich lange mit einer Bekannten telefoniert, deren Neffe im Alter von 9 Jahren in jeder freien Minute an dem Ding hängt, und wenn der Akku leer ist, geht es mit Muttis Handy weiter. Da kriege ich beim Zuhören schon einen Föhn.

Wir sind fast fertig, da fragt Helena plötzlich: „Sag mal Jule, gibt es in meinem Zimmer eigentlich eine Kamera?“ – Ich habe das erstmal völlig falsch verstanden, denn Helena hat in der Vergangenheit schon öfter Fotos mit meiner Spiegelreflex gemacht, die sehr gut geworden sind. Sie hat dafür ein glückliches Händchen und auch einen interessanten Blickwinkel. Sie hat das irgendwann mal ausprobiert, zunächst im Automatikmodus, hat sich nach und nach alles erklären lassen. Neulich gab es hier abends einen wunderschönen Sonnenuntergang, den sie dann mit langer Belichtungszeit so fotografiert hat, dass das Meer trotz relativer Windstille wie Zuckerwatte aussieht. Wir sind zusammen zum Strand gefahren, mit Stativ und Objektiv- und Filtersammlung; vom Ergebnis her hätte sie das auch alleine machen können, da sie sehr vorsichtig und sorgfältig mit dem teuren Gerät umgeht, völlig ohne Hektik, trotz erhöhtem Muskeltonus sehr präzise agiert – allerdings dauert alles so lange, dass jedes wilde Tier bereits im Nest wäre, bevor sie das erste Bild schießt.

Mich hätte die Fragestellung gestört. Sie weiß, wie teuer so eine Kamera ist, und dann beiläufig zu formulieren, dass in ihrem Zimmer eine fehlen würde, fände ich unangemessen. Marie schien das ähnlich verstanden zu haben, denn sie antwortete: „Ja, in deinem Handy gibt es sogar zwei. Eine vorne und eine hinten.“ – Es dauerte einen kleinen Moment, dann sagte sie: „Aber mein Handy liegt doch gar nicht immer in meinem Zimmer. Häh? Ich verstehe das nicht. Könnt ihr euch in mein Handy reinhacken?“

Ich antwortete: „Wie kommst du denn darauf?“ – Helena war nun völlig verwirrt und ich wusste nicht, warum. Sie wiederholte: „Ich wollte wissen, ob es in meinem Zimmer eine Kamera gibt. Und du hast gesagt: Ja, in meinem Handy.“ – Marie antwortete: „Ja. Aber die kennst du doch, damit hast du doch schon fotografiert und Videos gemacht.“ – „Ich meine eine Kamera, mit der man in den Raum sehen kann. Also Tag und Nacht.“ – „Wie kommst du denn darauf?“, fragte Marie.

Ich sagte: „Du bist doch regelmäßig in deinem Zimmer. Hast du da jemals eine Kamera gesehen?“ – „Ich bin mir beim Rauchmelder nicht sicher. Der könnte eine Kamera sein.“ – Jetzt wird es leicht spooky bis moderat psychotisch. „Helena, das ist jetzt nicht dein Ernst. Der Rauchmelder soll uns alle wecken, falls hier nachts mal irgendwas qualmt. Marie und ich haben auch einen, hier hängt auch einer. Rauchmelder sind keine Kameras.“ – „Es gibt aber sowas. Und bei [einer Mitschülerin] ist eine richtige Kamera im Zimmer. Also nicht im Rauchmelder, sondern richtig in der Ecke über der Tür, und die zeichnet Tag und Nacht auf, die Eltern sagen, falls mal eingebrochen wird. Und das ist voll schrecklich, weil theoretisch die Eltern die auch ganze Zeit sie beobachten können.“

Ich bin völlig von den Socken. Marie guckte mich ebenfalls mit großen Augen an. Ich sagte: „Bist du dir sicher, dass das stimmt?“ – Helena reagierte angefasst: „Ich lüge nicht!“ – „So meinte ich das nicht. Aber bist du dir sicher, dass deine Freundin die Wahrheit sagt und alles richtig wahrgenommen hat? Also erstens: Unsere Rauchmelder sind Rauchmelder. Wir können gerne, beim nächsten Mal, wenn [Maries Papa] da ist, deinen abbauen, du guckst ihn dir an, und dann bauen wir ihn anschließend wieder dran. Und zweitens: Wir haben Kameras außen am Haus, aber die kennst du und davon kennst du auch die Bilder. Und eine geht an, wenn jemand klingelt. Aber im Haus haben wir keine Kameras. Das wäre auch verboten.“

Helena fragte: „Heisst das, was [Mitschülerin]s Eltern machen, ist verboten?“ – „Wenn das wirklich stimmt, dann würde ich das mal behaupten. Sein Kind rund um die Uhr zu überwachen, ist verboten. Beim Baby ist das vielleicht noch okay, wenn man eine Kamera als Babyfon einsetzt, aber danach auf gar keinen Fall. Kannst du dir denn einen Grund vorstellen, warum die Eltern das machen?“

„[Mitschülerin] sagt: Wegen Einbrechern. Eigentlich wird das auch nur angeguckt, wenn eingebrochen wurde. Aber ich finde das schrecklich. [Mitschülerin] hat erzählt, dass ihr Vater ihr ein Video gezeigt hat als Beweis, weil sie nachts aus dem Fenster geklettert ist und der Vater konnte das auf dem Video sehen und sogar den Ton hören. Sie wollte das eigentlich nicht erzählen und hat, glaube ich, ihn deshalb sogar angelogen.“

Marie sagte: „Ganz großes Ehrenwort, Helena, wir haben keine Kamera in deinem Zimmer. Wir respektieren deine Intimsphäre.“ – „Ich weiß ungefähr, was Intimsphäre ist, aber was heißt das nochmal genau?“ – Ich antwortete: „Das bedeutet, dass du in deinem Zimmer sicher sein kannst, dass du unbeobachtet bist, wenn du in der Nase bohrst, wenn du nackt vor dem Spiegel stehst, wenn du rapunzelst, wenn du weinst oder nachts nochmal wach bist und dir vor dem Spiegel einen Pickel ausdrückst, und dass niemand mithört, wenn du Selbstgespräche führst oder deinem Kuscheltier Geheimnisse erzählst, mit deiner Freundin telefonierst, fünf Mal hintereinander gepupst hast oder falsch singst.“

Helena starrte mich mit großen Augen an, hatte ihr angebissenes Brötchen in der Hand und bekam den Mund nicht wieder zu. Irgendwann fasste sie sich wieder und sagte: „Scheiße, die Eltern können dann ja wirklich alles sehen! Das ist ja schrecklich.“ – Ich antwortete: „Das ist ja immer das Problem, wenn irgendwo Kameras hängen. Sie sollen meistens helfen, Verbrechen zu verhindern oder aufzuklären. Aber so etwas kann auch immer missbraucht werden. Und sowas wurde in der Vergangenheit auch schon missbraucht. Deshalb ist es immer besser, wenn es möglichst keine Überwachung gibt.“

„Ohne die Kamera würde der Vater gar nicht wissen, dass sie nachts aus dem Fenster geklettert ist. Sie reitet auch, aber in einem anderen Stall, und sie wollte zu dem Pferd, weil das am Nachmittag Koliken gehabt hat und sie nochmal gucken wollte, ob wieder alles gut ist. Das war eine dumme Idee, weil der Stall abgeschlossen war und sie da sowieso nicht reinkam.“ – „Wenn so etwas mal ist, dann weckst du mich, okay? Dann fahren wir zusammen dorthin.“ – „Ich klettere doch nicht aus dem Fenster! Dabei breche ich mir doch alle Knochen und außerdem steht mein Rollstuhl dann noch drinnen. Ganz klasse. Bringt ja richtig viel.“

Marie und ich haben uns entschieden, bei unserem nächsten Gespräch mit dem örtlichen Jugendamt dort einen entsprechenden Hinweis zu platzieren. Marie oder ich sind in der nächsten Woche wegen einer Formsache dort. Auch ein Kind oder ein Jugendlicher hat aus meiner Sicht uneingeschränkten Anspruch auf einen höchstpersönlichen Lebensbereich. Manche Eltern kommen auf Ideen, es ist sagenhaft. Ich hoffe nur, dass der Mist nicht noch irgendwo hochgeladen wird. Ich weiß nicht, ob ich in dem Alter schon so fit wäre, aber ich habe Helena gesagt, sie könnte der Mitschülerin empfehlen, die Kamera zu verdecken, also etwas davor zu stellen oder ein Stück Papier davor zu hängen. Bleibt zu hoffen, dass nicht auch im Bad noch Einbrecher vermutet werden…

Sieben Jahre

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Fast sieben Jahre ist es her, als ich das Foto aufgenommen habe, das im Hintergrund meines Blogs zu sehen ist. Es ist spontan entstanden bei einer Fahrt mit dem Handbike an der Elbe in Hamburg, fast am östlichsten Zipfel der Stadt. Damals fand ich es einfach nur schön.

Am letzten Wochenende bin ich zusammen mit Marie wieder zu dieser Stelle gefahren. Der kleine Anbau, an dem vor sieben Jahren noch eine Lampe hing, ist inzwischen verputzt und weiß gestrichen. Die Bäume sind etwas größer geworden, ansonsten ist wohl alles beim Alten.

Bevor sich da nun eine Pilgerstätte entwickelt, sei noch einmal deutlich gesagt: Ich kenne den Eigentümer nicht. Ich bin mit offenen Augen durch die Welt geradelt und habe spontan meine Handykamera gezückt.

So auch am letzten Freitag beim Training mit dem Bike an der Ostsee. Hübsch, oder?

Frohes Neues

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Mein neues Jahr begann besser als das alte endete. Ich will nicht behaupten, dass es ein schlechter Silvester-Abend war, den ich verbracht habe, aber er hatte durchaus entspannter werden dürfen. Wenn das allerdings der Preis für ein schönes und entspanntes 2015 war, war es okay. Letztlich bin ich bei einer Gratwanderung mal wieder falsch abgebogen. Was einer Rollstuhlfahrerin auch mal passieren kann – ich bitte um Nachsicht…

„Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“ heißt es einerseits im Volksmund. Andererseits ist jedes Wagnis auch immer mit einem Riskiko verbunden – das liegt in der Natur der Sache. Unser Wagnis war, dass wir uns ausgerechnet zum Silvesterabend mal wieder auf unbekannte Menschen eingelassen haben.

Marie und ich wollten zusammen feiern. Auf jeden Fall irgendwas leckeres essen, vielleicht sogar selbst kochen; auch Raclette oder Fondue waren anfangs denkbar. Kurz vor Weihnachten fragte Marie mich, ob eine gleichaltrige Frau, die Marie seit vielen Jahren aus einer Art Selbsthilfegruppe kennt, dazu kommen dürfte. Marie meinte, sie sei sehr nett. Sie hätte ebenfalls eine Querschnittlähmung, allerdings im Sakralwirbelbereich, so dass nur die Fuß- und Zehenmuskulatur, die Blase und der Darm betroffen sind. Nicht in Ordnung und daher versorgt ist auch der Hirnwasserkreislauf, was bei Spina bifida ja häufig ist. Auf den ersten Blick sieht man ihr die körperlichen Einschränkungen nicht an, wenn man genau hinsieht, bemerkt man eine Standunsicherheit. Die Dame kommt aus Hamburg, studiert aktuell etwas Soziales in der Schweiz und würde auch eine Nacht bei Marie schlafen wollen.

Natürlich war es für mich okay, dass sie mit uns Silvester feiert. Ich vertraue da voll und ganz auf Maries Einschätzung. Auch dass besagte Dame im zweiten Schritt und nach vorheriger Nachfrage noch eine nahezu blinde Kommilitonin mitbringt, mit der niemand Silvester feiern möchte, fand ich okay. Auch wenn ich mich einen Moment gefragt habe, ob Raclette und Fondue etwas für blinde Menschen sein kann. Aber nachdem mir versichert wurde, dass sie sich darauf freut, war ich nur noch gespannt.

Drei Tage vor Silvester kam dann alles doch ganz anders. Es fragten noch weitere Leute aus Hamburg und Umgebung, alle aus besagter Selbsthilfegruppe, an, ob wir die Party nicht etwas größer machen wollten. Ich zuckte mit den Schultern. Maries Mutter sagte: „Dann geht ihr aber irgendwo feiern. Ich will hier im Haus zum Jahreswechsel keine Open Party, zu der zwanzig Leute Shit, Sprit und Sprengstoff mitbringen.“ – Frei nach dem Motto „was sich liebt, das neckt sich“, antwortete Marie keck: „Ich dachte, du könntest vielleicht für uns kochen.“

Eigene Vorschläge hatte niemand derer, die sich anschließen wollten. Aber ein separater Chat in einem sozialen Netzwerk wurde eigens blitzschnell eingerichtet. Alle wollten feiern, aber niemand hatte eine Idee. Insgesamt sollten wir neun Leute werden. Da, inzwischen zwei Tage vor Silvester, die Auswahl nicht mehr groß war, war ich schon einigermaßen stolz, einen großen Tisch in einem sehr angesagten, modernen Szene-Restaurant direkt am Hamburger Hafen bekommen zu haben. Also kein nobler Schuppen, sondern eher was für Leute zwischen 20 und 40 mit super leckeren, qualitativ hochwertigen Burgern, Salaten, Aufläufen – himmlisch. Weil eine Gruppe kurz vor uns abgesagt hatte, waren zehn Plätze frei. Mit dem Rollstuhl zu erreichen, Essen nach Karte zu moderaten Preisen, laute, aber nicht zu laute Partymucke, Cocktails – was will man mehr? Um 21 Uhr wäre der Tisch frei, bis 23.30 Uhr könnten wir ihn haben, dann kämen diejenigen, die von dort das Feuerwerk über der Elbe sehen wollten. Ich fand den Deal genial, Marie, ihre Freundin und deren Freundin ebenfalls und ein weiteres junges Mädel aus der Selbsthilfegruppe auch. Kurzfristige Entscheidungen waren gefragt, also sagte ich zu und bestellte den Tisch.

Dann ging die Diskussion los. 21 Uhr sei zu früh, fanden die vier Männer. Ob man sich nicht auch um 22 Uhr treffen könnte. Nein, den Tisch gibt es nur ab 21 Uhr oder gar nicht. Ob ich nicht mal anfragen könnte, ob dann 21.30 Uhr ein Kompromiss sei. „Dann kommst du halt etwas später dazu.“ – Nö, das wollte er nicht. Außerdem sei das dort zu laut. Er und seine Kumpels würden vielleicht woanders hingehen. Ob wir nicht mitkommen wollten – er dachte, man sammle noch Ideen.

Man verabredete sich also offline, per SMS oder WhatsApp, in eine Bar zu gehen, rund 800 Meter von dem Restaurant entfernt. Treffen sei um 20.30 Uhr, weil bis 21 Uhr noch Happy Hour sei… Das war der Moment, in dem ich ein zweites Mal in dem Lokal angerufen und von neun auf fünf Leute reduziert habe. Kurzer Prozess. Selbstverständlich schrieb ich darüber auch im Chat.

Der Silvesterabend begann. Wir fuhren mit der S-Bahn in die Stadt, stolperten noch einmal über die Reeperbahn, die die blinde Studentin aus der Schweiz unbedingt einmal erleben wollte, wenngleich jetzt noch verhältnismäßig wenig los war, und fanden uns um 21.00 Uhr vor unserem reservierten Tisch ein. Die Stimmung war gut, das Essen war super lecker, ein Rolliklo war in Sichtweite und für die laufenden Gäste verschlossen. Mit uns am Tisch saßen vier junge Männer aus Dänemark, die uns am laufenden Band Cocktails, Bier, Eis, Salzstangen und Chips ausgeben wollten. „Das gibt hier auch so leckere Fruchtjoghurts, die müsst ihr probieren!“ – Ihr Deutsch und unser Englisch reichte für eine halbwegs sinnvolle Verständigung. Der Kellner war sehr nett und sehr aufmerksam, alles in allem könnte es ein prima Abend werden.

Standen da nicht plötzlich gegen 22 Uhr die vier jungen Männer im Raum. An der Tür wollte man sie erst gar nicht reinlassen, bis sie behaupteten, zu uns zu gehören. In Begleitung unseres netten Kellners wurden sie in ihren Rollstühlen an unseren Tisch geführt. Mit der Frage, welches Missverständnis hier vorläge, denn der Laden sei restlos voll. „Ach, wenn die vier [Dänen] etwas zusammenrücken, geht das. Die sind ja schon fertig mit Essen.“ – „Wir können sonst auch spazieren gehen, es sind ja nur noch zwei Stunden bis Mitternacht“, bot der eine von Ihnen an. „Wir sind ja nur spontan noch drangekommen und wollen Ihnen nicht die Plätze wegnehmen.“

Ich weiß, mein Gerechtigkeitsempfinden macht es mir oft nicht leicht und mein zu schwach ausgepräger Egoismus tut das Übrige. Aber dennoch: Nein. Alleine, dass die hier so auftauchen, hatte Fremdschäm-Charakter. Und da Marie mit denen im selben Verein oder in derselben Organisation ist, war es wohl eher meine Aufgabe, mal den Mund aufzumachen. Ich sagte: „Entschuldigung, aber ich hatte eure Plätze wieder zurückgegeben, da ihr doch in die Bar wolltet. Das ist, glaube ich, jetzt schlecht. Ihr könnt ja nicht andere Gäste verscheuchen.“ – „Naja, die sitzen im Rollstuhl“, hatte der eine Däne Verständnis. Das hatte gerade noch gefehlt. Ich sagte: „Nee, nix Rollstuhl.“ – Marie legte ihre Hand auf meinen Handrücken. Ich schluckte den Rest des Satzes runter. Sie redete weiter: „Lass gut sein, Jule. Die vier können ja vorne fragen, ob noch ein Tisch frei ist, und ansonsten treffen wir uns kurz vor zwölf zum Anstoßen an der Elbe.“

Das Ende vom Lied war, dass der Kellner die vier wieder nach draußen begleitete. Wäre noch Platz gewesen, hätte man zusammenrücken können, hätte man sich umsetzen können und zwei leere Rollis ins Behindertenklo stellen – alles kein Problem. Aber es war wirklich kein einziger Platz mehr an den Tischen frei. Alle saßen gedrängt, sie hätten nur noch in den Gängen stehen können. Und das geht nunmal nicht. Und das ist auch okay so. Sie hatten ihre Chance. Sie wollten sie nicht.

Kurz danach kam eine SMS: „Was soll das Theater, wir hatten die Leute am Tisch doch schon so weit, dass sie gehen wollten?“ – Ich schaltete mein Handy aus und ließ mir die gute Stimmung nicht vermiesen. Wir waren auch ohne übermäßigen Alkoholkonsum tierisch gut drauf, nahezu ausgelassen. Frauenthemen durften genauso wenig fehlen wie Männerthemen. Die Dänen hatten bereits reichlich getankt und wollten allen Ernstes wissen, ob blinde Leute masturbieren können. „Findest du deinen Schwanz im Dunkeln etwa nicht?“, kam als schlagfertige Antwort. Das letzte Alsterwasser (Limonade, also Brause, mit Bier) lehnte Marie ab. „Ich muss die Durchflussrate jetzt mal ein wenig reduzieren“, meinte sie. Die blinde Kommilitonin meinte: „Quatsch, ich geh mit dir hinter jeden Busch.“ – Gelächter. Ich erwiderte: „Ich leih dir eine Windel.“ – „Na dann: Doch noch ein Alsterwasser!“

Um halb zwölf machten wir uns mit den Dänen auf den Weg zum Wasser. Die beiden hakten die blinde Frau unter und ergänzten sich damit wunderbar. Sie torkelte nicht und die anderen konnten gucken. Das junge Mädel aus der Selbsthilfegruppe hatte sich von unserer ausgelassenen Art anstecken lassen und sagte, während wir mit anderen Leuten auf den Aufzug vor der S-Bahn warteten: „Ich habe das totale Feuerwerk in der Unterhose. Irgendwie habe ich die Zwiebeln im Verdacht.“ – Woraufhin spontan einige der umstehenden Leute die Rolltreppe nahmen. „Hat funktioniert“, lachte sie. „Ihr seid ja gut drauf“, fand ein älterer Mann mit Stock.

Die schönsten Feuerwerksbilder sind beim Anstoßen um Mitternacht jetzt nicht entstanden. Aber ich stelle sie trotzdem rein. Und wünsche damit noch einmal ein frohes Neues 2015!

Hamburg

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Sie ist nicht neu, aber sie ist immer gegenwärtig: Meine Liebe zu Hamburg. Wie liebe ich diese Stadt! Und wie vermisse ich sie und sehne mich nach ihr, wenn ich längere Zeit weg gewesen bin. Hamburg bedeutet für mich in erster Linie „Freiheit“. Und auch wenn ich Weihnachten wegen des damit leider verbundenen kommerziellen Wahnsinns seit Jahren nicht mehr so viel abgewinnen kann wie früher, als ich noch ein Kind war, freue ich mich dennoch schon auf die ganze Weihnachtsbeleuchtung und den einzigartigen Lichterglanz an Elbe und Alster.

Heute war es zwar regnerisch und alles grau in grau, trotzdem habe ich es geschafft, ein Motiv in recht schönen Farben zu knipsen, bevor mich morgen früh die Uni wieder sieht.