Kein großes Fest

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Kein großes Fest zu Corona-Zeiten. Der 10 Millionste Aufruf meines Blogs war am 22. November 2020 morgens gegen 5 Uhr. Ich möchte nicht schon wieder schreiben, dass ich es nicht für möglich gehalten hätte, dass ich 10.000.000 Seitenaufrufe im Netz verantworte. Das wissen inzwischen nämlich alle.

Ehrlich gesagt, es sind sogar noch mehr. Als ich mich vor sieben Jahren bei einem Kurznachrichtendienst anmeldete, um zwischendurch auch anderswo immer mal ein paar knackige Sätze raushauen zu können, folgten mir innerhalb von 48 Stunden rund 200 Personen. Nach einem halben Jahr waren es über 500 Follower.

Allerdings dauerte es bis zum Sommer 2019, bis ich meinen tausendsten Follower begrüßen konnte. Das liegt vielleicht auch daran, dass ich bis heute fast niemanden abonniert habe, der nicht zuerst mich abonniert hat. Anfangs habe ich mehr geschrieben als gelesen.

Für die Durchzündung sorgte mein Beitrag anlässlich des 11. Jahrestags jenes Verkehrsunfalls, der mich in den Rollstuhl brachte. Der Beitrag wurde über eine halbe Million Mal angezeigt, fast 15.000 Mal geliked und mit über 400 persönlichen Antworten versehen.

Inzwischen folgen mir über 25.000 Personen. Ja, ein ganzes Stadion voll. Zu meinem „Zweitgeburtstag“ in diesem Jahr brauchte ich fast drei Stunden, um mich durch fast 1.000 persönliche Glückwünsche zu lesen. Ich kam nicht mal mehr dazu, sie einzeln zu liken, weil ich sie zeitweise nicht mehr alle (erweitert) angezeigt bekam, ohne dass mein Browser abstürzte. Von der Handy-App mal ganz zu schweigen. So konnte ich nur kollektiv antworten, dass ich mich über jeden einzelnen Gruß und Glückwunsch sehr gefreut habe. Ja, das Persönliche geht manchmal etwas unter.

Heute zeigt das Portal meine Kurznachrichten rund 20 Millionen Mal pro Quartal an. Sie werden pro Quartal durchschnittlich 350.000 Mal geliked, 5.000 Mal geteilt und knapp 15.000 Mal mit einer persönlichen Nachricht beantwortet. Das sind statistisch 4.000 Likes pro Tag und über 150 persönliche Antworten. Ebenfalls pro Tag.

Der eine bezeichnet mich schon als Fame-Hure, die andere als Influencerin. Ich selbst sehe mich allerdings weiterhin als Stinkesocke, die mittlerweile noch mehr aufpassen muss, was sie sagt. Und was sie schreibt. Denn eins ist gewiss: Gerade kurze, knackige Aussagen bieten viel Spielraum für Missverständnisse. Und so ein soziales Medium bietet viel Spielraum für Menschen, die provozieren, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Und für Ferkel unterschiedlichster Couleur. Aber vor allem, und das macht für mich den Reiz aus, dort zu schreiben, für viele liebe Menschen, die an einem knackigen Austausch ernsthaft interessiert sind, die Mut und Trost spenden können, die mich zum Lachen bringen, die Ideen haben und die vor allem auch mal kritisch nachfragen – ohne dabei (ob der gebotenen Kürze im Kurznachrichtendienst) endlos rumzurharbarbern.

Ein Glas und dies und das

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Sie hat es geschnallt. Beim dritten Anlauf. Helena kann sich im Wasser vom Rücken auf den Bauch drehen und wieder zurück, kann ohne Hilfe auf dem Rücken schwimmen und gewinnt mehr und mehr Vertrauen in das nasse Element. Bisher war ich immer in greifbarer Nähe und sie mochte auch nicht, dass ich mich weiter als zwei Meter im Wasser von ihr entferne, aber sie macht große Fortschritte. Womit bereits jetzt widerlegt wäre, dass sie wegen ihrer Behinderung nicht schwimmen könne. Papperlapapp!

Ein für mich sehr krasses Erlebnis hatten wir Sonntag beim Abendessen. Ich habe eine Reispfanne (mit Paprika, Tomaten etc.) gekocht, Helena deckte den Tisch. Ich muss sie nicht darum bitten, sondern sie hilft von sich aus. Schiebt einen Teller über den Tisch und stößt beim Zurückziehen ihres Armes etwas ungeschickt mit dem Ellenbogen gegen ein Glas, das daraufhin umfällt, vom Tisch rollt und auf dem Fliesenboden in siebenundzwanzig Teile zerspringt. Es knallt recht eindrucksvoll und ich hätte verstanden, wenn sie sich erschrickt. Stattdessen springt sie fast rückwärts von mir weg, guckt mich mit einem ängstlichen Blick an und reißt ihre Arme schützend vor ihr Gesicht. Das Mädchen ist völlig traumatisiert. „Das war keine Absicht“, sagt sie hektisch, kleinlaut.

Ich bin sehr glücklich darüber, dass sie sich von mir einfangen lässt. Wenn ich die Arme ausbreite, kommt sie zu mir auf den Schoß. „Lass dich trösten“, habe ich ihr gesagt. „Du hast dich bestimmt erschrocken von dem lauten Knall. Das ist ein wirklich unangenehmes Geräusch.“ – „Es erinnert mich so sehr an meine Pflegeeltern. Wenn die gestritten haben, flogen auch immer alle möglichen Sachen durch die Küche. Und wenn ich was runtergeworfen habe, gab es meistens sofort eine Ohrfeige.“ – „Die bekommst du von mir nicht. Ich schlage dich nicht.“ – „Kannst du da so sicher sein?“ – „Ja. Ganz entschieden. Wenn ich jemanden schlagen würde, würde ich mich selbst nicht mehr mögen.“ – „Ich kann ganz schön schlimm sein, Jule. Ich hoffe, dass ich das zu dir und zu Marie nie bin.“ – „Du wirst nicht geschlagen. Weder von Marie noch von mir.“

Sie hatte ihren Kopf an meinen Hals gelegt und weinte bitterlich. Sie war überhaupt nicht zu beruhigen. Ich habe sie bestimmt zehn Minuten nur festgehalten und an mich gedrückt. In der Zwischenzeit wurde das Essen kalt. Zum Glück hatte sie noch kein Insulin gespritzt. Nach zehn Minuten sagte sie: „Es tut mir leid, dass ich so neben der Spur bin und du das alles aushalten musst.“ – „Das ist völlig okay, es ist mir wichtig, dass du mir von den Dingen erzählst, die dich belasten. Du kannst sie nur verarbeiten, wenn du darüber redest.“ – „Ich habe dir doch gar nichts erzählt.“ – „Deine Tränen erzählen mir ganz viel, Helena.“ – Es dauerte einen Moment, dann sagte sie: „Wenigstens lachst du nicht über mich, wenn ich weine.“ – „Nein. Ich nehme dich und deine Sorgen ernst.“

Plötzlich fing sie zu erzählen an. Eine Kurzgeschichte reihte sich an die nächste. Die Inhalte waren verstörend. Es bleibt mir ein Rätsel, wie man ein Kind so behandeln kann wie es die Pflegeeltern offenbar getan haben. Wie man einem Kind, noch dazu einem, das man freiwillig aufgenommen hat, permanent vermitteln kann, dass es unerwünscht und nutzlos sei. Ich verstehe es nicht. Es will nicht in meinen Schädel hinein. Was für mich immer klarer wird: Zum Konzept für die nächsten Jahre wird auch die Frage nach einer Psychotherapie gehören müssen. Nein, ich weiß, wir entscheiden das nicht.

Am späteren Abend hat sie ein Bild gemalt. Vorne liegt ein Buch, davor sitzt eine Möwe am Strand, dahinter ist das Meer, blauer Himmel, Marie und ich schwimmen. Was auffällig ist: Kinder zeichnen oft aus der Vogelperspektive. Quasi den Blick von oben auf das Geschehen. Nicht maßstabsgetreu, eher oberflächlich. Helena zeichnet aus ihrer Perspektive und macht daraus ein detailgetreues Bild, in dem Marie und ich den perspektivischen Fluchtpunkt bilden. Wie ein Foto, das auf uns fokussiert ist. Mit zwölf Jahren. Sehr ausdrucksstark.

Ihre ersten beiden Schultage sind offenbar sehr gut verlaufen. Sie hat Anschluss gefunden bei der Tochter einer Kollegin, die mit ihr in denselben Jahrgang geht. Und sich wohl auch noch mit einem anderen Mädchen angefreundet, das ich noch nicht kenne. Das Nachmittagsangebot der Schule haben wir bislang nicht nicht in Anspruch genommen, wie schon erwähnt, täglich bis 21 Uhr, wobei nach 17 Uhr wohl „nur noch“ betreute Freizeit-Angebote sind. Aber dennoch, ich finde es klasse.

Und heute morgen? Hat sie den Frühstückstisch gedeckt. In aller Frühe, bevor ich sie wecken konnte. Mit einem Geburtstags-Topfkuchen, den sie gestern noch mit Marie zusammen gebacken hat. Kerzen drauf, eine Blume auf dem Tisch, die beiden haben Brötchen geholt … so werde ich gerne geweckt. Es war Helena sehr wichtig, sagte Marie. Und ich habe mich sehr gefreut.

Darum

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Ob wir eines Tages noch erfahren, warum sie nicht mehr schreibt?

Tja, wie soll ich es nun erklären? Ich habe im Knast gesessen. Sitzen weil … stehen kann ich ja bekanntlich nicht. Und immer nur liegen? Uncool. Dreiundzwanzig lange Monate kein Internet!

Man verhaftete mich wegen meines Blogs. Einige Beiträge waren einfach zu schlecht, stilistisch und inhaltlich flach.

Okay. Ganz so war es nicht. Ich durfte mir neulich im Rahmen meines Studiums eine Justizvollzugsanstalt von innen ansehen. Es gab in der dortigen „Röchel-Abteilung“, wie man den Trakt für die älteren und kranken Gefangenen nannte, sogar rollator- und rollstuhlgerechte Zellen. Ich kam allerdings noch am selben Tag wieder raus.

Meine mediale Enthaltsamkeit hatte zuweilen einen anderen Grund, der aber mindestens genauso verstört: Ich hatte einst politische Ansichten und für mich fragwürdige Einsätze öffentlicher Mittel durch einen in Deutschland ansässigen Konzern kritisch hinterfragt. Nicht öffentlich, sondern per Mail. Gezielt und direkt. Zunächst antwortete man mir gar nicht, auf nochmalige Nachfrage teilte mir die Kommunikations-Abteilung mit, dass man dazu nicht schriftlich Stellung nehmen wollte. Aus meiner Sicht war das Thema allerdings zu banal, um es öffentlich zu machen. Aber es hatte mich eben persönlich gestört.

Kurz darauf bekam ich per E-Mail ein Jobangebot von eben dieser Firma. Statt zu bloggen, solle ich doch künftig jenes Unternehmen in den sozialen Netzwerken sympathisch machen. Als authentische Figur, die sogar mit einer Behinderung fröhlich und sympathisch im Leben stehe.

Zunächst habe ich das für einen Witz gehalten, Sekunden später gelächelt, am Ende habe ich das Angebot natürlich mit zwei nüchternen Sätzen abgelehnt. Ohne Gründe zu nennen. Und auch eine weitere persönliche Einladung konnte mich nicht umstimmen. Die fand ich fast schon lächerlich. Und selbst wenn ich gerade einen Job gesucht hätte – ich möchte authentisch bleiben. Meine eigene Meinung vertreten. Und nicht etwa eine vorgegebene, die gerade bestmöglich in ein -vielleicht sogar verlogenes- Konzern-Image passt. Das wäre niemals mein Ding.

Ausgerechnet ein junges Küken, das aber bisher weder etwas im Leben geleistet hatte, noch im Geringsten ahnte, wie die Welt funktionierte, dabei scheinbar beiläufig Millionen Klicks und hunderte Abonnements einstrich, hatte vermutlich -ohne es zu wissen- den Finger in irgendeine tiefe Wunde gelegt. Eigentlich eignet sich mein Blog nicht für einen dramatischen Krimi, aber plötzlich war ich ungefragt mittendrin.

Es gab wohl eine große Angst, ich könnte meine Fragen in meinem Blog öffentlich machen. Oder dessen unglückliche Reaktion auf meine Frage. Hinzu kam anscheinend einiger Neid auf eine stinkende Socke, die mit ihrer Party in einem Monat mehr Aufmerksamkeit erzeugte als jener Konzern mit seiner Party. Dazu Missgunst und nicht zuletzt ein wenig Frust darüber, dass der -wie auch immer geartete- Plan mit dem lustigen Job nicht aufgegangen war.

Scheinbar ohne große Mühen fand der bislang Verantwortliche vier Freunde aus seinem engeren Netzwerk, alle um die 40 Jahre alt, die für und mit ihm das mit mir und meinem Blog offenbar verbundene Risiko neutralisieren wollten. Entweder sie redet mit uns – oder künftig mit keinem mehr. Bemühte ich meinen küchenpsychologischen Kaffeesatz, würde ich sie alle in die Profilneurotiker-Schublade packen. Mit den inzwischen über meinen Anwalt erlangten Erkenntnissen kann ich feststellen, dass es ihnen so richtig Spaß gemacht hat.

Die Fünf legten allerlei Fleiß an den Tag. Recherchierten über mich, was das Zeug hielt. Alle Recherchen endeten dabei aber stets bei jenen Menschen, die mir zuvor meine psychotische Mutter und einen kleinen Haufen in meine Querschnittlähmung verliebter Irrer aus meinem unmittelbaren Radius herausgefiltert hatten. Also bei Maries Eltern. Bei einer ambulanten Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung, die mich bis zu meiner Volljährigkeit begleitet hatte. Sogar bei meiner Psychologin. Und natürlich bei meinen Freundinnen und Freunden. Wie ich später aus einer Akte erfuhr, standen eines Abends sogar Männer auf dem Parkplatz meiner früheren (ambulanten!) Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung und suchten mich, glaubten, ich würde dort wohnen. Es gab verschiedenste Anfragen an alle möglichen Stellen, sogar an Behörden.

Kurzum: So sehr sie sich auch anstrengten, sie kamen nicht an mich persönlich heran. Ich meine: Wozu auch? Wo gibt es das, dass eine Privatperson oder ein Angestellter eines Unternehmens einen Anspruch durchsetzen könnte, mich persönlich zu treffen? Und was dann? Will man mich zum Reden und Diskutieren zwingen? Mich verprügeln? Oder was hatte man vor? Ich muss gestehen, ich hatte schon immer Angst vor solchen Menschen, Angst vor ihren Fantasien und vor ihrer Besessenheit.

Plan B: Meine Freunde wurden unter Druck gesetzt. Zwei Freunde ganz besonders. Die würden schon quatschen. Also wurde denen erstmal ernsthaft unterstellt, mit mir zusammen meinen Blog ausgeheckt zu haben, um sich gemeinsam mit mir zu bereichern. Es gab ja mal einen Bloggerverein, der sollte nun angeblich die Plattform für die systematische Veruntreuung von Spendengeldern sein. Über meinen Blog würden die Spender akquiriert. Die bisherigen Recherchen der fleißigen Fünf hätten angeblich genügend Anhaltspunkte ergeben, um zumindest einen Anfangsverdacht für einen solchen Spendenbetrug in den Raum stellen zu können. Außerdem sei mein Blog ja p*rn*grafisch.

Ich bekam eine Mail, ob ich unter diesen Umständen nicht doch noch einmal über alles persönlich sprechen wollte. Ein befreundeter Anwalt telefonierte daraufhin für mich. Nachdem ich jeden persönlichen Kontakt (selbstverständlich) weiterhin ablehnte, teilte man meinem Anwalt mündlich mit, man würde nun Anzeige erstatten. Über Einsichtnahme in die Verfahrensakte käme man früher oder später doch an meine Daten und an meine Adresse.

Tatsächlich interessierte sich kurz darauf die Staatsanwaltschaft. Aber nicht etwa für mich, sondern erstmal für die privaten Kontounterlagen desjenigen, der in dem Bloggerverein die Finanzen abwickelte. Und gegen den legten zwei der fleißigen Fünf schriftlich auch noch ein paar andere „beiläufige Informationen“ nach, die man angeblich vom Hörensagen kannte: Mein Bekannter hätte auch im Job Gelder veruntreut, zudem Kinder angefasst und Drogen genommen! Wow. Alles war so formuliert, dass der Verfasser jederzeit sagen konnte: „Ich weiß nicht, ob es stimmt. Aber man munkelt.“

Der kam nun natürlich sofort auf mich zu und bat mich, als Zeugin zur Verfügung zu stehen. Einerseits wollte ich ihn natürlich nicht hängen lassen, andererseits konnte ich aber nichts aussagen, was sich nicht auch anderweitig aus Dokumenten oder aus den Aussagen anderer Menschen herleiten ließe. Nur mit dem Unterschied, dass mit meiner Zeugenaussage auch meine persönlichen Daten in den Akten auftauchen würden. Es war eine absolut beschissene Situation, denn ich wusste nicht mehr, wem ich überhaupt noch vertrauen kann. Würden wirklich alle meine Freunde einem solchem Druck standhalten, oder würden mir irgendwann doch zwei bis fünf Typen gegenüber stehen, vor deren Fantasien man inzwischen sogar Todesangst haben musste? Die Vorstellung, dass die über meine Freunde doch an meine Adresse kämen, mir vielleicht dort auflauern, löste in mir Panik aus. Was hatten diese Menschen vor? Was lief da?

Ich habe mich mit Marie gestritten, weil ich ihr auch nicht vertrauen konnte. Ihr Vater ist Polizist – könnte er mich beschützen oder müsste er irgendwann irgendwas gegen mich unternehmen, was er nicht mehr kontrollieren kann? Wer könnte wissen, was die fleißigen Fünf so alles über mich in die Welt setzen? Ich habe mich mit anderen Freunden gestritten, weil ich ihnen nicht vertrauen konnte. Schließlich habe ich den Kontakt zu allen anderen Menschen völlig auf Eis gelegt. Und erstmal aufgehört, zu bloggen. Um zu vermeiden, dass es aktuelle Informationen über mich geben könnte. Vielleicht würde man mich sogar orten? Das alles ging so weit, dass ich mich von meinem Freund getrennt habe, mein Studium unterbrochen hatte, aus meiner Wohnung ausgezogen bin, meine Immobilie verkauft, in Panik sogar Deutschland zeitweilig verlassen hatte. Dorthin, wo mich keiner kennt. Wo freundliche Menschen sind. Und wo es warm ist.

Um mit Marie zu telefonieren, habe mich mir ein Handy geliehen, bin im Dunkeln an einen abgelegenen großen See gefahren, wo man Personen, die mir zu nahe kämen, schon von weitem sehen konnte. Es kam natürlich niemand. Es vergingen Wochen, in denen ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. In denen ich nicht wusste, wo hinein ich geraten war, welche Sorgen berechtigt waren, und was Paranoia war. In denen ich kaum etwas essen konnte. Marie war die einzige, die immer wieder Kontakt zu mir suchte. Mein Herz wusste, dass sie sich Sorgen um mich machte. Mein Kopf hatte aber keinen Plan, wie es weiter gehen könnte.

Die Wende nahm es, als ich eines abends mit ihr telefonierte und sie das Telefon an ihre Mutter weitergab. Maries Mutter weinte. Sie fragte mich immer wieder, was genau ich getan hätte. Wie sie mir helfen könnte. Und ob ich nicht selbst merken würde, dass ich mich genau so verhalte wie jemand, dem man Schreckliches angetan hätte. Im Studium hatte ich das alles mal gehört und gelesen. Wie sich viele Frauen verhalten, nachdem sie beispielweise vergewaltigt wurden. Aber zu reflektieren und zu erkennen, in welchen Denkmustern ich mich gefangen hatte, das bedurfte eben genau eines solchen Anstoßes von außen. „Auch wenn du nicht mein leibliches Kind bist, bist du für mich wie eine Tochter. Ich würde niemals etwas tun, was du nicht willst. Und ich würde dich niemals in eine Falle locken. Wenn ich der Meinung wäre, du solltest dich irgendwo melden, dann würde ich versuchen, dich davon zu überzeugen. Aber ich würde dich niemals ausliefern. Darauf hast du mein Ehrenwort.“

Meinen nächsten Termin hatte ich bei einem Rechtsanwalt. Eine völlig kuriose Situation. Ich bekam seine Handynummer von Maries Mutter. Maries Papa hatte sie besorgt. Ich gab seinen Namen in eine Suchmaschine ein und erfuhr, dass der Mann schon deutlich über 60 Jahre alt war. Und dass er einige Menschen vertreten hatte, die jeder kennt. „Lassen Sie uns nicht so viel am Telefon reden, das mache ich nach einigen schlechten Erfahrungen grundsätzlich nicht“, sagte er mir. Wir verabredeten ein Treffen vor einem Gerichtsgebäude. Er würde sich zu mir ins Auto setzen. Seine Kanzlei sei nicht barrierefrei. War das wirklich keine Falle?

Er verspätete sich um fast 90 Minuten. Hörte mir dann aber fast eine Stunde zu. Stellte Fragen. Ging zwei Mal los, um uns einen Becher Kaffee zu besorgen. Kam tatsächlich alleine und mit Kaffee wieder. Regen trommelte auf die Scheiben. Ich kam mir vor wie in einem Krimi. Er brauchte einige Zeit, um zu verstehen, was hier lief. Und etliche Anläufe: „Was ich aber noch immer nicht begriffen habe…“ – Am Ende sagte er: „Darüber muss ich erstmal schlafen. Und nachdenken.“ – „Das heißt aber, Sie wollen mir helfen?“ – „Ja. Die Sache hat mein Interesse geweckt. Und bevor Sie fragen, was es kostet: Sie werden es sich leisten können. Es wird nicht billig, aber Sie wollen ja auch einen guten Job von mir.“

Erstmals nach Wochen telefonierte ich mit jenem Freund, dem man diesen Unsinn mit den Drogen unterstellt hatte. Er freute sich, von mir zu hören. Er hatte zwar bereits einen Anwalt, der ihn gut verteidigte, ich konnte ihn aber überzeugen, zusätzlich auch noch einen Kollegen, der in derselben Kanzlei meines Anwalts arbeitete, in Anspruch zu nehmen. Auf meine Kosten.

Neun Monate später stellte die Staatsanwaltschaft fest, dass ein Betrug anhand der ganzen eingeholten Unterlagen und Auskünfte nicht beweisbar sei. Die Geschäfte des Bloggervereins waren also korrekt geführt worden. Die Ermittlungen gegen den Freund wurden abgeschlossen. Nachdem es bei dem Projekt ja in erster Linie um ideelle Zwecke ging, wurden über die Jahre zusammengerechnet keine 300 € bewegt. Vielmehr hatte der Finanzbeauftragte früher schon aus seinem privatem Vermögen Geld hinzugesteuert, um anfallende Gebühren zahlen zu können. Und ich hatte in meinem Blog niemals jemanden um Geld für mich gebeten. Am Ende stellte auch das Finanzamt nach eigener gründlicher Prüfung schriftlich fest, dass alles in Ordnung war.

Plan B hatte also auch nicht funktioniert. Nicht zuletzt, weil sich Behörden ungern instrumentalisieren lassen. Außer Spesen nichts gewesen. Heute arbeiten drei der fleißigen Fünf allerdings mehr oder weniger unfreiwillig woanders. Die anderen beiden haben andere Entfaltungsmöglichkeiten gefunden.

Mich erinnert die Sache ein wenig an eine Geschichte um Helene Fischer. Nach verschiedenen Medienberichten wollte ein österreichischer „Fan“ mit Behinderung ihr ein Geschenk persönlich überreichen, wozu es aber nicht gekommen ist. Er hatte sich ortsgünstig positioniert und behauptete später, sie habe ihn im Vorbeigehen ausgelacht und beschimpft. Sie bestritt das. Er setzte ebenfalls alle Hebel in Bewegung, um sie vor Gericht zu bekommen und dort zu treffen. Am Ende ohne Erfolg.

Ich glaube nicht, dass alle fleißigen Fünf künftig ihre Füße still halten werden. Sie werden andere Wege finden, um mir zumindest das Leben schwer zu machen. Die teilweise Anonymität des Internets macht eben doch einiges möglich. Man darf gespannt sein, welche neuen Erkenntnisse schon bald über mich berichtet werden und wer künftig belästigt wird. Ich glaube, meine Grenzen werden niemals akzeptiert werden. Auch wenn ich noch so oft sage, dass ich über meine Erlebnisse, Gedanken, Meinungen und Ansichten schreibe, ohne dabei als Person in der Öffentlichkeit stehen zu wollen. Und ohne von zweifelhaften Personen verfolgt werden zu wollen. Ich möchte nicht den Atem desjenigen spüren, der aus meinem Blog fast alles über mich weiß.

Wenn jemand tolle Fotos macht, kann man heute nicht mehr die Fotos genießen, ohne den Fotografen dazu zu kennen. Man braucht die Story über das Genie hinter dem Okular, die Orte seiner Lieblingsmotive und am besten noch ein paar Geheimtipps für schönes Knipsen. So zerstört man die Einzigartigkeit, die Kunst, die Seele. Leider begreifen das zu viele nicht.

Inzwischen habe ich mich mit Marie wieder vertragen. Wir wohnen nicht mehr zusammen. Aber wir haben uns gerade gestern gesehen. Und vorgestern. Und zusammen in einem Bett geschlafen. Rücken an Rücken. Wir sind, wie Jugendliche es formulieren würden, nach wie vor allerbeste Freunde.

Ich studiere noch. Um genau zu sein: Ich habe zwar meine Dissertation sausen lassen, dafür aber trotz der mehrwöchigen Auszeit (überwiegend in den Semesterferien) nichts wirklich verpasst, alle Scheine bekommen, und habe inzwischen auch das 2. Examen durch. Aktuell bin ich im Praktischen Jahr, bin nach einem Drittel Pädiatrie in Kürze in der Chirurgie, bevor es am Ende nochmal kurz in die Innere Medizin geht. Wenn alles gut geht, bin ich im nächsten Sommer so weit fertig, so dass ich mich um meine Facharztausbildung kümmern kann. Wie anhand meiner Wahl für das erste Drittel meines Praktischen Jahres schon zu vermuten ist, wird es später in Richtung Kinderheilkunde oder Kinder- und Jugendpsychiatrie gehen.

Auch Marie studiert noch, derzeit allerdings an einem anderen Ort als ich. Ich wohne aktuell gar nicht mehr in Hamburg und weiß nicht, ob es mich später einmal in meine Lieblingsstadt zurück ziehen wird. Derzeit bewohne ich eine kleine Mietwohnung in einem 30-Parteien-Haus in der Nähe meines aktuellen Studienortes. Und ich habe tatsächlich eine weitere kleine Wohnung gefunden, ebenfalls zur Miete, als Rückzugsraum in unmittelbarer Nähe zu meiner geliebten Ostsee und rund eine Autostunde von meinem geliebten Hamburg entfernt. Ein Schnäppchen, einst als „gemütliches Nest“ inseriert, mit separatem, ebenerdigen Eingang, keine 200 € kalt im Monat von privat.

Im August letzten Jahres habe ich einen neuen Kerl kennengelernt, im September mit ihm und Marie erstmals einen Nachmittag zusammen verbracht, ihn danach auch hin und wieder alleine getroffen. Eigentlich war uns beiden schon von Anfang an klar, was wir voneinander wollten, es hat aber noch bis Mitte März dieses Jahres gedauert, bis wir zum ersten Mal miteinander im Bett waren. Es ist, wie überall, nicht alles optimal, aber es ist sehr schön. Sehr körperlich. Sehr lieb. Oft sehr verspielt. Manchmal sehr versaut. Und vor allem sehr intensiv. Ich genieße, ohne dabei an Morgen zu denken. Was bekanntlich gefährlich sein kann, aber vielleicht nicht immer gefährlich werden muss.

Das neunte Gyrosbaguette hat geschmeckt. Nicht außergewöhnlich. Aber normal. Und zu meinem 25. Geburtstag haben mir tatsächlich mehr als 25 Menschen gratuliert. Einige von ihnen haben erst heute erfahren, warum ich in den letzten zwei Jahren nichts mehr schrieb.

Aus dem Hintergrund mit ganz viel Liebe

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Es war ein schöner Tag. Ich habe selbstverständlich auch an meinem Geburtstag in der zur Zeit völlig überlasteten Praxis von Maries Mutter ausgeholfen. Ich habe Marie und ihre Eltern abends zu einem Italiener eingeladen. Das Essen war sehr lecker, aber nach dem Grillen beim Nachbarn gestern muss ich langsam aufpassen, dass ich nicht zunehme. Ein wenig Sport wäre mit Sicherheit mal wieder von Vorteil. Nein, ich würde auch mit zehn Kilogramm mehr auf den Rippen noch nicht das Idealgewicht verlassen haben und ich futter beim Grillen ja auch nicht drei Stücke Fleisch, sieben Bratwürste und eine halbe Schüssel Kartoffelsalat – aber ich vermisse mein Handbike, meinen Rennrolli und das Wasser! Ich komme in letzter Zeit kaum zum Trainieren, und dabei möchte ich so gerne noch an einem Triathlon teilnehmen in diesem Jahr.

Von Marie bekam ich zum Geburtstag außer einem dicken Kuss auch noch einen Badeanzug geschenkt. Das hat inzwischen Tradition, wir schenken uns gegenseitig Badeanzüge, von denen man, wenn man ernsthaft Schwimmtraining macht, nie genug haben kann. Und endlos halten sie ja, entgegen aller Versprechen der Hersteller, auch nicht. Von Maries Eltern bekam ich eine Umarmung und viele gute Wünsche sowie einen selbst gebackenen Kuchen mit ganz vielen Kerzen. Ich habe mich sehr darüber gefreut und mich bei ihnen mit einem Fotobuch bedankt, in dem ich einige schöne Bilder aus dem letzten Jahr zusammengestellt hatte. Endlich bin ich mal dazu gekommen.

Als Marie und ich abends ins Bett gingen und die Decken zurück schlugen, lagen dort zwei Briefumschläge. Für jeden einen. Ich wäre fast im Erdboden versunken, als ich den Umschlag öffnete. In dem Umschlag war eine Bahncard. Es handelte sich allerdings nicht um eine 25er oder 50er Bahncard, über die ich mich schon sehr gefreut hätte, sondern um eine 100er. Also eine Jahreskarte für ganz Deutschland – Preis: Rund 4.000 Euro. Was für ein Wahnsinn! Jetzt weiß ich, wofür Maries Mutter kürzlich ein Passbild von mir brauchte.

Dabei war ein Brief. In meinem Brief stand: „Liebe Jule, sie war teuer, sie hat einen hohen Wert, aber sie ist bezahlbar. Unbezahlbar und unendlich wertvoll seid Marie und Du. Es ist uns wichtig, dass Ihr niemals aus finanziellen Gründen darauf verzichtet, nach Hause zu kommen. Dass Ihr niemals mit dem Auto fahrt, wenn Ihr nach einer Woche voller Strapazen müde und abgeschlagen seid. Oder wenn Schnee und Eis die Straßen plötzlich glatt und rutschig machen und so kurzfristig keine Frühbucher-Tickets mehr zu bekommen sind. Nutzt die Stunden im Zug für gemeinsames Arbeiten, für Entspannung, Schlaf oder einen langen Blick aus dem Fenster. Wir sind immer für Euch da. Alles Liebe zu Deinem 22.!“

Ich habe Marie angeguckt, die mindestens genauso perplex war. Und dann habe ich tatsächlich an meinem Geburtstag angefangen zu weinen. Nicht wegen der Bahncard. Sondern wegen des Briefs. Es mag Leute geben, die das kitschig oder was-auch-immer finden, aber meinen Nerv haben die beiden getroffen. Eine wunderschöne Message, dass sie mich „unbezahlbar und unendlich wertvoll“ finden. Dass Marie und ich niemals abwägen sollen, ob es sich „lohnt“, also ob es wirtschaftlich ist, nach Hamburg zu fahren. Dass sie uns wohlbehalten zurück haben möchten. Dass sie immer für uns, also auch für mich, da sein wollen. Sehr bewegend.

Und noch etwas anderes steht in dem Text zwischen den Zeilen, denn man hätte ja auch schreiben können, dass eine Bahncard verschenkt wird, damit wir nie über Geld nachdenken müssen, wenn wir studieren wollen. Stattdessen ist es ein Angebot, jederzeit nach Hause zu kommen. Dieser Brief ist beispielhaft für ihr Verständnis, ihren Sanftmut, ihren Blick, mit dem sie Marie und mich so wie wir sind akzeptieren, und in dem, was wir tun, bestärken, nicht dreinreden, sondern immer wieder die Hand reichen, um selbst da, wo noch nichts wackelt, fest im Stuhl zu sitzen. Ohne sich dabei aufzudrängen, ohne sich vorzudrängeln. Sondern aus dem Hintergrund und mit ganz viel Liebe.