Keine Mobilität

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Am Pfingstwochenende müssen Marie und ich in diesem Jahr nicht arbeiten. Gar nicht. Alle Tage frei. Wahnsinn.

Nein, wir verreisen nicht. Wir bekommen auch keinen Besuch. Sondern wir chillen. Garten, Sonne, Handbike, Strand. Mehr bitte nicht.

Und Kontaktpflege. Und Bloggen. Und ausnahmsweise kann ich heute Kontaktpflege und Bloggen mal gleich miteinander verbinden: Ein langjähriger Freund erzählte mir heute am Telefon seine Story, die eigentlich exklusiv zu meinem Idiotenmagneten passen würde. Vielleicht müssen wir inzwischen darüber nachdenken, ob alle Menschen mit Behinderung einen solchen Magneten haben, denn auch dieser Freund sitzt im Rollstuhl. Vielleicht wird dadurch aber auch nur einmal mehr deutlich, wie in diesem Land mit Menschen mit Behinderung umgegangen wird.

Ich betone, dass nicht alle Menschen so sind. Ich betone aber auch, dass ich den „bedauerlichen Einzelfall“ nicht mehr hören, lesen oder glauben kann. Es ist kein bedauerlicher Einzelfall, dass die Deutsche Bahn schon wieder ein Problem hatte, Rollstuhlfahrer von Hamburg nach Berlin zu transportieren.

Gerade erst vor knapp zwei Wochen traf es die ehemalige Bahnradsportlerin Kristina Vogel, die seit einem Unfall querschnittgelähmt ist und im Rollstuhl fährt: Verschiedene Medien berichten, dass sie in Frankfurt aussteigen wollte, das jedoch nur mit der Hilfe anderer Reisender schaffte, die sie mitsamt Rollstuhl aus dem Zug hoben. Der Mitarbeiter mit der für das Aussteigen benötigten Rampe sei nicht am Zug gewesen, der Schaffner habe sich auch nicht gemeldet. Ich kenne das auch, in einem solchen Fall stelle ich mich dann immer in die Tür und halte den gesamten Zug auf. Irgendwann kommt immer jemand und schaut nach, warum die Tür nicht schließt.

Zwei Wochen davor hatte Bloggerin Wheelymum beschrieben, wie sie beinahe eine Reise nach Berlin absagen musste, weil man ihren Rollstuhl nicht aus dem Zug bekam. Am Ende reiste sie mit dem Flugzeug an.

Und in der letzten Woche? Da traf es vier junge Menschen aus Hamburg, die zu einem internationalen Wettkampf nach Berlin wollten. Zwei sitzen im Rollstuhl, zwei haben andere Einschränkungen; alle vier gehörten zu einem Landes-Auswahlteam, hatten sich für die Teilnahme an dem Wettkampf qualifiziert und über ein Jahr hart dafür trainiert. Für die Hin- und Rückfahrt waren die Fahrkarten schon vor Monaten gekauft und bezahlt, die beiden einzigen in dem ICE vorhandenen Plätze für Rollstuhlfahrer reserviert und die Einstiegshilfe vorbestellt. Wer mit einem Rollstuhl in den Zug möchte, braucht die Hilfe vom Personal, da eine Rampe bedient werden muss.

Am Morgen des Anreisetags stellte eine der Sportlerinnen dann zufällig fest, nachdem sie sich im Internet auf dem Weg zur Schule noch einmal vergewissert hat, ob alles klappen würde: Der betreffende Zug fährt heute ohne Wagen 9. Leider sind im Wagen 9 die beiden einzigen Rollstuhlplätze des Zuges. Und das einzige mit dem Rollstuhl befahrbare WC. Vielleicht übersteht der eine oder andere die zwei Stunden ohne WC. Dass der Zug liegen bleibt und die vier dann nicht auf die Toilette können, mag auch noch weit hergeholt sein. Aber: Die Deutsche Bahn lädt keinen Menschen im Rollstuhl in einen anderen Wagen ein, denn selbst wenn der Rollstuhl durch die schmaleren Eingangstüren hindurch passen würde, müsste derjenige ja die ganze Fahrt über auf dem Gang und damit im Fluchtweg stehen.

Die Beförderung von Menschen mit Behinderung wird bei der Deutschen Bahn durch den hauseigenen Mobilitätsservice koordiniert. Insbesondere diejenigen, die mit dem Rollstuhl reisen, müssen sich spätestens zwei Tage vor Reiseantritt dorthin wenden und darum bitten, eine Einstiegshilfe, also einen Mitarbeiter, der die Rampe bedient, zu bekommen. Nachdem der Wunsch aufgenommen wurde, senden die Mitarbeiter ihn an die jeweiligen Bahnhöfe, diese melden dann zurück, ob das benötigte Personal zur Verfügung steht. Und ob alle Aufzüge funktionieren. Anschließend erhält der Rollstuhlfahrer eine Bestätigungsmail oder einen Anruf. Bei kurzfristigen Änderungen sollen die betroffenen Personen eigentlich informiert werden.

Das ist in diesem Fall nicht geschehen. „Es ist Ihre Aufgabe, zu prüfen, ob der Zug wie vorgesehen fährt und sich gegebenenfalls bei uns zu melden“, sagte die Mitarbeiterin am Telefon. Service geht natürlich anders. In diesem Fall versuchte man nun, die vier Sportlerinnen und Sportler aus Hamburg in einen anderen Zug umzubuchen. Ein Zug später ging nicht, weil dann die Ankunft zum Wettkampf nicht mehr sichergestellt wäre. Ein Zug vorher ging nicht, weil der ebenfalls ohne Wagen 9 fuhr. In dem Zug davor waren die beiden Rollstuhlstellplätze bereits durch andere Rollstuhlfahrer belegt, in dem davor auch, in dem davor auch. Also blieb nur eine Umbuchung auf einen Zug, der sechs Stunden vor der eigentlichen Verbindung fahren würde.

Der Versuch, die Jugendlichen sofort aus ihren Schulen zu bekommen, scheiterte. Alle Handys waren natürlich aus. Das war aber auch nicht mehr relevant, denn wie sich bei einem weiteren Telefonat mit der Bahn herausstellte, würde auch diese Verbindung scheitern: In Berlin stünde für diesen Zug kein Personal zur Verfügung, das die Rampe bedienen könnte.

Somit lässt sich zusammenfassen: Nix Bahn. Es mussten kurzfristig Fahrzeuge und Fahrer organisiert werden, die die Sportler zu ihrem internationalen Wettkampf nach Berlin fahren. Das kleinste Problem dürfte dabei gewesen sein, dass die vier Erfrischungsgetränke verfallen sind, die die Bahn den vier Sportlern vor zwei Monaten spendiert hat (Verzehrgutschein), nachdem dort auch bereits alles drunter und drüber ging, und das Team für eine Strecke, die üblicherweise in 1:52 Stunden zurückgelegt wird, mal eben über fünf Stunden (Rückfahrt nur vier Stunden) benötigt hat. Damals auch, weil die barrierefreien Komponenten gar nicht oder zeitlich nicht passend verfügbar waren. Auf die schriftliche Beschwerde ihres Vereins hat sich bis heute niemand gemeldet. Zwar wurden 50% des Fahrpreises inzwischen automatisiert erstattet, aber auf die versprochene Aufarbeitung warten die Jungs und Mädels noch heute.

Nein, die Deutsche Bahn ist nicht entschuldigt. Auch wenn viele motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter engagiert alles versuchen, und auch wenn es unter den Menschen mit Behinderung durchaus auch nervige Zeitgenossen gibt: Es kann nicht sein, dass Menschen mit Behinderung in Deutschland nicht zuverlässig und gleichberechtigt mit der Deutschen Bahn fahren können. Es ist kein Einzelfall, wenn es den ganzen Tag lang effektiv nicht möglich ist, als Rollstuhlfahrer von Hamburg nach Berlin zu fahren. Und darüber diskutiere ich auch nicht.

Wilde Maus

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Ganz lange – drei Jahre, um genau zu sein – war ich nicht mehr auf dem Hamburger Dom. Nee, das ist keine mit dem Rollstuhl erklimmbare Aussichtsplattform auf einer besonders großen oder besonders hübschen Kathedrale der Hansestadt, sondern ein Volksfest unweit der legendären Reeperbahn mit über 200 Schaustellern und mehr als 100 Gastronomiebetrieben. Über 10 Millionen Besucher zählt die Veranstaltung jedes Jahr. Den Namen hat sie aufgrund ihres ursprünglichen Veranstaltungsortes, dem ehemaligen Hamburger Mariendom, der um 1800 abgerissen wurde.

Man könnte vielleicht erwarten, dass mir kurz nach dem Tod meines Vaters der Sinn nicht nach Kirmes steht. Und trotzdem waren wir heute da und hatten viel Spaß. Und ich glaube sogar, dass es angemessen und gut war. Ja, der Tod meines Vaters ist ein emotionaler Moment, auch wenn wir in den letzten beinahe zehn Jahren keinen Kontakt mehr hatten, und er mich zuletzt wie den letzten Dreck behandelt hat. Aber dass ich mir jetzt aus moralischen oder ethischen Gründen eine Trauerzeit aufzwingen lasse, in der ich nicht lachen und keinen Spaß haben dürfte, sehe ich nicht ein.

Marie und ich hatten Helena schon seit Monaten versprochen, heute mit ihr das Volksfest zu besuchen, und sie hat sich bereits sehr darauf gefreut. Mit dabei waren Maries Eltern, bei denen wir vorher zum gemeinsamen Brunch verabredet waren. Helena, die vorher nach eigenen Angaben noch nie auf einem so großen Volksfest war, weil sie den 1,6 Kilometer langen Weg nicht schafft, bekam zum ersten Mal meinen alten Rollstuhl ausgeliehen. Zu Hause lässt sie keine Gelegenheit aus, um sich in Maries oder meinen aktuellen Stuhl zu setzen, sobald ich beispielsweise auf dem Sofa bin. Sie gurkt damit durchs Haus, kippelt damit herum und hat null Berührungsängste. Draußen war sie damit allerdings, von unserer Terrasse abgesehen, noch nie.

Es war proppevoll, was natürlich, weil Menschen nicht geradeaus gehen, sondern immer mal wieder stehen bleiben, rückwärts, seitwärts oder diagonal gehen, eine enorme Herausforderung war. Die Menschen gucken ja nicht, sondern stolpern seitwärts über uns oder springen plötzlich zur Seite, um mitten in einer Menschentraube Platz zu machen, obwohl man sowieso nur zwei Meter weiter kommt und schon seit fünf Minuten demjenigen langsam hinterherfährt. Ich würde behaupten, für Helena war es eine Herausforderung, die sie aber insgesamt sehr gut gemeistert hat. Und während sie zwischenzeitlich immer mal aufstehen konnte, um sich irgendeinem abgefahrenen Fahrgeschäft hinzugeben, musste ich mich von kräftigen Männern hineintragen lassen. In Autoscooter (mir tut noch alles weh), über Kopf drehenden Scheiß (mir dreht sich jetzt noch alles) und eine abgefahrene Geisterbahn, auf deren halber Strecke irgendein blutüberströmter Freak mit Kettensäge hinter uns herlief. Der gehörte aber zum Geschäft.

Marie musste mit Helena in die wilde Maus, eine Achterbahn, auf der einzelne Gondeln eher unsanft um die Kurven heizen. Und in irgendein Dreh-Katapult-Überkopf-Istmirschlecht-Teil, das immerhin so dicht neben der Kinder-Bimmelbahn lag, dass ich mich beim Zuschauen entscheiden konnte, ob ich lieber Awolnation oder den Wildecker Herzbuben zuhören wollte. Am Ende durfte sich unsere kleine wilde Maus noch einen klebrigen Liebes-Apfel mitnehmen und als sie gerade fünf Minuten im Auto saß, schlief sie bereits tief und fest.

Ich bin ganz froh, dass sie auf Wörter wie „Rollstuhl“ oder „behindert“ noch nicht so reagiert. Ich filtere diese und ähnliche Wörter inzwischen aus jeder Unterhaltung heraus. Heute sagte ein Paar, geschätzt um die 60 Jahre alt, während wir auf Marie und Helena warteten, zueinander: „Du, guck mal da! Die Familie da. Drei behinderte Kinder. Ich meine, wenn man eins hat und das zweite schon unterwegs ist, okay. Aber wie kann man mit 10 Jahren Abstand noch eins kriegen, wenn man schon vorher weiß, dass es behindert sein wird? Völlig verantwortungslos, sowas. Die armen Kinder.“

Seine Frau antwortete: „Nicht so laut!“ – Und Maries Mutter murmelte nur trocken: „Weißte Bescheid?!“

Liebend getan

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Vielleicht hat der Eine oder die Andere gedacht, dass ich heute ein Gyrosbaguette essen würde. Und lag damit richtig. Allerdings nicht dort, wo sich die Crew, die mich vor zehn Jahren von der Straße gekratzt hat, am Tag meines Unfalls ihr Gyrosbaguette geholt hat. Denn den griechischen Imbiss gibt es nicht mehr. Und auch „meine“ Notärztin, die mich vor zehn Jahren im Heli begleitete und vermutet hatte, dass ich meine Verletzungen nicht überleben werde, gibt es leider nicht mehr. Sie ist, wie ich gestern erfuhr, im September letzten Jahres verstorben.

Warum, wieso, weshalb, weiß ich nicht. So alt, dass man damit rechnen müsste, war sie noch nicht. Sie hat mich in meinen gesundheitlich schwersten Minuten begleitet und korrekt behandelt. Ohne sie wäre ich vermutlich tot. Und trotzdem kannte ich sie nicht wirklich. Ich habe sie, einerseits aus einer Schüchternheit heraus, andererseits aus großem Interesse mal gefragt, warum sie Ärztin geworden ist. Sie hat geantwortet: „Aus Liebe.“ – Sie war eine „Institution“ für mich, keine Bekannte oder Freundin. Die Nachricht schockt mich, auch noch am heutigen „Tag danach“, extrem. Ich habe mit vielem gerechnet, dass sie mal versetzt werden könnte, inzwischen vielleicht gekündigt hat, woanders arbeitet – aber nicht mit ihrem Tod. Das berührt mich gerade sehr, und das nimmt mich emotional auch gerade sehr mit. Ich habe bereits einige Tränen vergossen. Es kam, zugegebenermaßen, höchst unerwartet.

Zehn Jahre ist der Unfall jetzt her. Zehn Jahre Querschnittlähmung. Sie sind vergangen wie im Flug. Ich hatte überwiegend eine schöne Zeit, wenngleich ich gerade in den letzten drei Jahren einige Erfahrungen gemacht habe, von denen ich noch nicht vollständig verstanden habe, wofür sie gut sein werden. Ich merke aber, dass mich diese Erfahrungen sehr viel gelassener, vorausschauender, kritischer und vor allem selbstbewusster gemacht haben. Und dass ich sehr viel über Menschen gelernt habe. Viele Eigenschaften, die mir bis dahin fremd waren, und die ich an mir sofort ändern würde, sind offenbar sehr verbreitet.

Ich bin früher eher still gewesen. Nicht schüchtern, aber ich mochte es nicht, wenn mich Menschen ansprachen. Wenn mich jemand nach dem Weg fragte, konnte ich darauf reagieren, die Uhrzeit bekam ich auch immer zusammen. Aber mit dummen Sprüchen bin ich früher eher selten konfrontiert worden. Das hat sich, seit ich im Rollstuhl fahre, enorm geändert. Eigentlich täglich sprechen mich in der Öffentlichkeit Menschen an. Gerade heute im Supermarkt wollte ebenfalls eine wildfremde Frau von mir wissen, ob ich eine Querschnittlähmung hätte. Zwischen dem Erdbeerregal und der Salatbar. Und sie erzählte mir, ohne dass ich es wissen wollte und während ich mein Gemüse zusammensuchte, dass sie mit einem sehr berühmten Ernährungsprogramm zwanzig Kilo abgenommen hat und dass sie es nicht mag, wenn Menschen mit ihren Handys laut im Supermarkt telefonieren.

Auch bin ich früher kein großes sportliches Licht gewesen. Heute habe ich eine gewisse Trainingsdisziplin, den Ehrgeiz, etwas schaffen zu wollen, und ich habe auch eine vergleichbar gute Kondition. Oft, wenn ich im Schwimmbad meine Bahnen ziehe, und ja, es können auch mal 100 Stück oder sogar noch mehr in einer Trainingszeit sein, sind Menschen davon fasziniert. Und dann denke ich oft: Leute, wenn ihr zehn Jahre das Schwimmen ohne Beine trainiert, würdet ihr das mindestens genauso gut können. Andererseits ist diese Bewunderung, die diese Menschen dann äußern, auch eine gewisse Motivation für mich. Offenbar trauen sie es sich dann doch nicht zu, sich am Schopf zu packen und sich einfach verbessern zu wollen.

Ich hatte früher, und auch dieses Thema wird oft angesprochen, auch von wildfremden Menschen, die dann aber meistens keine Antwort von mir bekommen, keinen Sex. Vor meinem Unfall habe ich mich nicht einmal selbst befriedigt. Klar, Busen hatte ich schon, Regel auch schon lange, aber sexuelle Bedürfnisse? Die waren einfach nie so ausgeprägt, dass ich sie gezielt befriedigen wollte oder sogar musste. Nach meinem Unfall war ich sehr neugierig, was geht und was ich empfinde. Und vielleicht ist das sogar sehr gut gewesen, weil ich so etwas dazubekommen habe, anstatt dass mir etwas weggenommen wurde.

An anderer Stelle wurde mir sehr viel weggenommen. Meine früheren Freunde, meine Eltern. Aber auch hier habe ich etwas dazu gewonnen: Marie mit ihrer Familie, einzelne Menschen, die ich im Blog nicht (mehr) erwähne, und auf die ich mich verlassen kann.

Ich weiß nicht, wie ich den Kreis schließen soll. Ich könnte jetzt noch ganz viel schreiben, um am Ende dieses Beitrags noch einmal zu meiner Heli-Ärztin zu kommen. Ich habe ihre Traueranzeige im Internet gesucht und gefunden. Ihre Urne wurde weit weg von Hamburg begraben, vermutlich an ihrem Geburtsort. Ihre beiden Eltern haben die Anzeige aufgegeben. Sie trägt einen Trauerspruch von Horatius Bonar (schottischer Geistlicher aus dem 19. Jahrhundert): „Nimmer vergeht, was Du liebend getan.“

Mal wieder Umzug

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Ist ja schon wieder alles mögliche vorbei. Weihnachten vorbei. Silvester vorbei. Jahreswechsel vorbei. Neujahr vorbei. Dritter Praktikumstag in der neuen Klinik vorbei. Dritter Tag des dritten Drittels des praktischen Praktischen Jahres vorbei. Wobei das derselbe dritte Tag war. Und der erste und der zweite sind natürlich auch schon. Vorbei.

Tja. Ich bin ziemlich fertig. Körperlich ausgelaugt. Es waren anstrengende drei Wochen. In denen andere sich erholt haben. In denen ich Weihnachten und Neujahr gefeiert habe. Aber in denen ich auch viel regeln musste, was ich eigentlich schon viel früher geregelt haben wollte. Und nun bin ich bereits wieder Vollzeit beschäftigt, muss nebenbei noch für die letzte Prüfung lernen. Es reicht.

Was sich im letzten Jahr gedanklich verdichtet hat: Ich werde erstmal nicht zu dir zurück kehren. Hamburg, meine hübsche Liebe, du musst in den nächsten Jahren ohne mich auskommen. In dir zu wohnen ist, wenn auch teuer, zwar schön, aber in dir wohnen einfach zu viele Idioten, die mich nicht in Ruhe lassen können. Keine Sorge, ich komme dich sicherlich immer mal wieder besuchen. Und ich werde auch hin und wieder mal in dir schlafen, wenn du erlaubst. Aber mehr ist im Moment nicht drin.

Zum 31.12. musste ich auch meinen Krempel aus meiner Bude am letzten Studienort räumen. Dort hatte sich natürlich mal wieder eine Menge angesammelt. Für das letzte Drittel penne ich anfangs noch in meiner Mini-Ferienwohnung an der Ostsee und pendel täglich mit dem Auto – das passt irgendwie. Während der Prüfungszeit werde ich mir am letzten Studienort ein Hotelzimmer nehmen, das ist günstiger, als die Wohnung noch ein halbes Jahr zu behalten. Am letzten Studienort hält mich nichts. Und ich bin ehrlich gesagt auch froh, dass das Kapitel beendet ist.

Im Moment wohne ich also in meinem gemütlichen Nest an der Ostsee, wo wir auch den Jahreswechsel gefeiert haben. Allerdings sind die Tage in dieser Mietwohnung ebenfalls gezählt, denn auch hier habe ich gekündigt. Ja, großer Umbruch. Hauptsächlich aus steuerlichen Gründen. Und weil die Wohnungsgröße zum dauerhaften Wohnen nicht reicht. Zumindest nicht, wenn frau im Rollstuhl sitzt. Für Ferien, für ein Wochenende oder mal eine Woche im Sommer war es super und die Wohnung ist mir auch sehr ans Herz gewachsen, aber ich brauche etwas, wo ich dauerhaft bequem wohnen kann.

Entscheidend war auch, dass ich mich zum Jahreswechsel um meine Kohle kümmern musste. Bis Ende 2015 profitierte ich noch von einer Geldanlage, die mir aufgrund der langen Laufzeit feste Zinsen in aus heutiger Sicht traumhafter Höhe eingespült hat. Nachdem die aktuelle Zinspolitik aber Vermögen auf Sparkonten verbrennt, habe ich 2015 meine Kohle in physisches Edelmetall und in Aktienfonds deponieren lassen. Das Metall hat in den letzten zwei Jahren jeweils über 6% an Wert gewonnen, die Aktien ziemlich genau 4%. Das Metall fasse ich nicht an, aber einen Teil der Aktiensumme habe ich nun, bevor der nächste Börsencrash kommt, in Wohneigentum verwandelt.

Etwa 10 Kilometer von meinem gemütlichen Nest entfernt hatte jemand barrierearm gebaut, sich dann aus privaten, beruflichen, finanziellen oder whatever Gründen aber anders entschieden. Ich habe keine Ahnung, warum man so etwas macht, vielleicht gab es eine Trennung oder einen Verlust – dieser Mensch wollte nur noch verkaufen. Ich habe diese Information von meiner Bank bekommen, die eigentlich nur nach einer Eigentumswohnung suchen sollte und meinte, barrierefrei finde sich in den nächsten fünf Jahren wohl nix. Eigentlich wollte man mich gar nicht kontaktieren, weil ich nach einer Wohnung gefragt habe… Danach ging alles relativ schnell. Wann bekommt man schonmal ein komplett barrierefreies Haus an der Ostsee angeboten, noch dazu zu einem relativ fairen Preis?

Es handelt sich um einen unterkellerter Bungalow mit ausgebautem Dachboden. Wohnfläche rund 160 m², Grundstücksgröße etwa 700 m², allerdings ist bis auf eine gepflasterte Auffahrt derzeit alles noch Acker. Gut isoliert, Gasheizung mit Brennwerttechnik, ergänzendes Wärmedings auf dem Dach, große Eckbadewanne, Dusche, Gäste-WC, großes Wohnzimmer, alles grau gefliest mit weißen Wänden, Einbauküche fehlt noch. Elektrische Rolläden vor allen Fenstern, hübscher Kamin im Wohnzimmer – was will man mehr? Achso ja, nicht alleine wohnen. Nein, Schatzi zieht nicht mit ein. Aber Marie hat sich dazu entschieden. Soll heißen: Es gibt ein großes Wohnzimmer mit (noch nicht) Küche und jeweils ein eigenes Zimmer für jeden von uns. Wobei sie erst richtig einziehen wird, wenn sie mit ihrer Prüfung fertig ist.

Plus ein Gästezimmer (wer will?). Und einen ausgebauten Dachboden. Der ebenfalls erstmal unbewohnt bleiben wird. Schaun wir mal.

Steuerliche Gründe hatte ich erwähnt. Bis jetzt habe ich nur auf die Zinsen, die ich bis 2015 für meine Sparverträge bekommen habe, kräftig Steuern gezahlt. Worüber ich mich überhaupt nicht beschweren will. In 2016 und in 2017 musste ich überhaupt keine Steuern zahlen, da ich ja kein eigenes Geld verdient habe. Bei der Umwandlung von den Aktien in Kohle für das jetzige Haus habe ich den Jahreswechsel optimal ausnutzen können. Soll heißen: Meine Bank war so freundlich, mir für zwei Wochen eine nicht unerhebliche Summe zu leihen. Das hat mich zwar etwas über 300 € gekostet, allerdings habe ich dadurch rund 7.000 € Steuern gespart, die ich hätte zahlen müssen, wenn ich die ganze benötigte Aktienkohle auf einmal umgewandelt hätte (also innerhalb eines Kalenderjahres, Stichwort: Abgeltungssteuer).

Ein Teil der Kaufsumme wird über einen staatlichen Zuschuss für Niedrigenergiebau finanziert, ein weiterer Teil über einen fast zinslosen Kredit aus dem gleichen Stall. Weil: Es gibt einen Tilgungszuschuss und die jährlichen Zinsen sind deutlich niedriger als die Inflation. Es wäre also ungünstiger, keinen Kredit aufzunehmen, selbst dann, wenn die Kohle vorhanden ist. Klingt verrückt, ist aber so.

Wenn ich jetzt im Sommer einen Job annehme, um damit meine Facharztausbildung zu bekommen, werde ich voraussichtlich unter der Woche wieder woanders wohnen müssen. Und dafür wieder Miete an dem Ort zahlen müssen. Das ist aus steuerlicher Sicht aber günstiger, als wenn ich zwei Wohnungen miete. Eine am Arbeitsplatz und ein kuscheliges Nest an der Ostsee. Klingt auch verrückt, ist aber auch so. Aber wenn ich Marie wieder in meiner Nähe habe, habe ich schon gewonnen.

Was jetzt noch dringend fehlt, ist ein vernünftiger Zaun um das Grundstück, ein gepflasterter Carport und ein Treppenlift im Haus. Der Häuslebauer hatte wohl geplant, den Dachboden für sich zu nutzen und seinen behinderten Angehörigen nur ins Erdgeschoss zu lassen, aber das ist nichts für mich. Ich muss auch in das Obergeschoss kommen. Allerdings nehmen Plattformlifte, auf die man mit dem Rollstuhl drauf fahren kann, zu viel Platz weg und sind zu teuer. Vermutlich wird es also ein einfacher Treppenlift – und oben steht dann ein zweiter Rollstuhl. In den Keller muss ich hingegen nicht unbedingt. Angesichts des Preises (wird fünfstellig), überlegt man sich schon zwei Mal, ob man einen oder zwei Lifte einbauen lässt. Und nach unten und nach oben sind halt zwei Lifte.

Und dann freue ich mich auf den nächsten Sommer. Wenn ich mit dem Handbike zehn Minuten zum Strand brauche.