Open Water III

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An Christins Wettkampftag war es bewölkt. Die Lufttemperatur, die vorher noch über 30 Grad hatte, war auf angenehme 21 Grad gefallen. Fast optimale Bedingungen für einen Wettkampf. Wir fuhren rund 30 Kilometer zu einem Süßwasser-Binnensee, in dem die Wettkämpfe stattfinden sollten. Ich fasse es kurz zusammen: Durch einen heftigen Regenfall zwischendrin war es kurz davor, dass die Veranstalter das Rennen unterbrechen. Christin konnte zwar ihre 10 Kilometer durchschwimmen, war aber fast zehn Minuten langsamer als noch vor einer Woche und entsprechend unzufrieden. „Die ganze Woche brennt die Sonne und in den zwei Stunden, in denen ich schwimme, bricht ein Unwetter über uns herein, dass alle meterweit von der Strecke gepustet werden.“

Immerhin konnte ich mir in der Zeit schon die Startunterlagen für meinen Wettkampf am nächsten Tag abholen. Ich musste vor Ort noch Startgelder entrichten und eine Tageslizenz kaufen, wieder alles mit Kreditkarte, ich wurde darauf hingewiesen, dass ich jede Sonderregel vorher zur Prüfung anmelden müsse, sonst würde ich disqualifiziert, wenn ich beispielsweise statt aus dem Stand im Sitzen starten würde. Persönliches Begleitboot war nicht zugelassen, es würde zwei Runden zu je 2,5 Kilometer geben und nach 2,5 Kilometer könnten mir Getränke und Suppe angereicht werden. Die normalen Begleitboote mit den Lifeguards wären aber immer dabei. Es gebe ein 67 Personen starkes Feld aus Teilnehmenden und darunter seien mit mir fünf Personen mit Handicap. Ich sei aber die Einzige mit Rollstuhl und die am schwersten eingeschränkte Teilnehmerin. Meine Assistenz dürfe mich in den Callroom begleiten und mich bis zum Start bringen und nach dem Ziel auch aus dem Wasser holen. Wenn ich direkt beim Start Assistenz benötigte, müsste ich das vorher angeben. „Nö, auf dem Po von der Stegkante ins Wasser rutschen, bekomme ich hin.“ – „Dann schreibst du bei ‚Start Assistance required‘ ein ‚No‘ und bei ‚Assistance to get off the water‘ ein ‚Yes‘.“

„Die Startplätze werden nach Meldezeit vergeben. Der schnellste Schwimmer darf als erstes auf den Steg und sich frei entscheiden, von welchem der 75 Startplätze er ins Wasser springt. Der zweitschnellste kommt als zweites auf den Steg und so weiter. Die fünf Handicapped-Schwimmer dürfen ihre Plätze frei wählen, bevor der Schwimmer mit der schnellsten Meldezeit den Steg betritt und sich dort auch schon positionieren. Wenn du nicht solange sitzen kannst, kannst du dem Startordner auch die Nummer sagen, dann wird dieser eine Slot mit einem Hütchen für dich gesperrt. Du hast keine besondere Badekappe, die dich als Handicapped Swimmer erkennbar macht, es müssen alle auf alle Rücksicht nehmen. Wer einen anderen Schwimmer überschwimmt, fliegt raus. Das gilt für Menschen mit und ohne Handicap. Du darfst einen Bikini oder einen herkömmlichen Badeanzug ohne Bein benutzen. Neopren ist nicht zugelassen. Die Arme müssen immer frei sein. Wenn du einen Badeanzug mit Beinansatz oder mit langem Bein trägst, muss das Modell von der Weltorganisation abgenommen sein und eine Zulassungsnummer tragen, sonst darfst du es hier nicht verwenden. Du musst beim Abgeben deiner Startkarte morgen auch eine ärztliche Bescheinigung auf Englisch vorweisen, dass du sportgesund bist. Viel Glück.“

Muss ich nochmal vorwarnen, dass mein Wettkampfbericht, wie immer, TMI enthält? Also zu viele Informationen einschließlich der unappetitlichen Details. Wer also zart besaitet ist und gerade frühstückt, liest vielleicht erstmal anderswo weiter.

Ich habe in der Nacht kaum geschlafen. War immer wieder wach, obwohl ich eigentlich überhaupt nicht aufgeregt war. Es ging für mich um nichts. Im schlimmsten Fall zieht mich irgendein Boot aus dem Wasser. Wenngleich ich natürlich ankommen wollte. Gegen fünf Uhr schlief ich ein und war völlig gerädert, als um kurz nach sechs Uhr der Wecker klingelte. Frühstücken? Nee. Ich würde nichts runterbekommen. Nicht mal irgendeinen Keks. Ich wollte nur so schnell wie möglich zum Start und losschwimmen. Es war bewölkt, es waren 24 Grad angesagt, somit waren Luft und Wasser etwa gleich warm. Kein Wind, kein Regen: Eigentlich beste Bedingungen. Christin holte mir eine Kanne lauwarmen Kamillentee aufs Zimmer. Duschen, Beine rasieren, am Ende doch zum Frühstück rollen und eine Schale mit Müsli essen. „Am besten wird sein, wenn ich dir deine Wettkampfbekleidung hier auf dem Bett liegend anziehe. Da auf dem Acker oder im Auto werden wir das nicht hinbekommen.“ – „Um 11 geht das los. Wir sollen um 10 im Call-Room sein, vorher noch eingecheckt haben, vorher noch dorthin fahren…“ – „Um 9 fahren wir ab.“ – „Zwei Stunden lang in dem engen Ding?“ – „Zweieinhalb, um 8.30 Uhr fangen wir mit dem Anziehen an. Plus die zwei Stunden für deinen Wettkampf, macht viereinhalb Stunden. Wirst du überleben. Stell dich nicht so an, wenn ich 25 Kilometer schwimme, überlebe ich die Zeit auch.“ – „Die Frau an der Anmeldung faselte gestern was davon, dass mein pinker Anzug von der Weltorganisation abgenommen sein muss. Ist er das?“ – „Guckst du hier, die Nummer, die später auf deinem Arsch ist, ist die Zulassungsnummer.“

Sollte ich mir das alles nicht doch nochmal überlegen? Ach nee, das denke ich jedes Mal. Um 8.25 Uhr ging ich nochmal aufs Klo, um halb neun lag ich nackt auf dem Bett und ließ mir von Christin meinen Wettkampfanzug anziehen. Bis zum Knie ging es schnell. Ab da reden wir über zwei Zentimeter pro Minute. Der Stoff dehnt sich so gut wie überhaupt nicht, sondern stattdessen muss die Haut in das Teil reingequetscht werden. Der Anzug, den mir Christin beim letzten Mal geliehen hatte, war bereits etwas ausgeleiert, diesen hatte noch niemand vorher getragen. Zentimeter um Zentimeter. Bloß nicht mit dem Fingernagel in den Stoff fassen, dann würde er sofort reißen. Wieder von unten eine Falte erzeugen, und nach oben schieben. Noch zwei Zentimeter. Die schlimmste Stelle war, den Oberkörperbereich des Anzugs über meinen Po zu bekommen. Als das endlich nach rund fünfzehn Minuten soweit war, ging es relativ schnell. Bis zum Bauchnabel, Arme durch die Träger, langsam hochziehen. Ein wenig links zupfen, ein wenig rechts, … „Sitzt er gut im Schritt?“, fragte Christin und fasste mir dorthin. Bevor ich etwas sagen konnte, warf sie mich aus meiner sitzenden Position im Bett um, legte sich auf mich drauf und küsste mich. „Wenn es nicht so mühsam wäre, würde ich dich jetzt sofort auspacken“, sagte sie.

Ich zog mir eine Leggings und einen Hoody drüber, setzte mich in meinen Rollstuhl und verspürte sofort Blasendruck. „Das kann ja nun nicht sein, du warst vor nicht mal 30 Minuten. Du bist nervös, das ist alles.“ – Ich hoffte, Christin würde recht behalten. Sie schob mich einfach aus dem Zimmer. Tür zu, zum Auto, umsetzen, Rollstuhl in den Kofferraum, los. Ich hoffte immernoch, das meine Blase sich nicht selbständig machen würde. Ohne Pampers würde das eine riesige Sauerei geben und wir haben noch rund 30 Kilometer zu fahren. Christin meinte: „Sind Kunstledersitze. Wenn du schwimmst, habe ich zwei Stunden Zeit, sie abzuwischen. Willst du dich vorsorglich auf ein Handtuch setzen?“ – Besser bei 24 Grad kein großes Handtuch zu haben als dass hier irgendwas plätschert, dachte ich mir. Es passierte aber nichts.

Christin zog meinen wasserdichten Bezug auf mein Rollstuhl-Sitzkissen und hängte ein Handtuch über die Rückenlehne, ich zog meine Leggings aus und rollte mit allen Unterlagen zum Check-In. Es war alles vollständig, ich bekam mehrere Klebe-Tatoos mit meiner Startnummer ausgehändigt, dazu eine Anleitung, wohin das alles geklebt werden müsse. Erneut kein Wort über meine Behinderung. Auffallend. Zurück bei Christin, drückte sie mir eine Flasche Wasser in die Hand. „Trinken, sonst dehydrierst du später.“ – „Ich muss seit dem Hotel dringend aufs Klo. Ich muss erstmal gucken, wie und wo ich das erledige.“ – „Du setzt sich jetzt ins Gras und ich klebe dir die Tatoos auf und schmiere dich mit Sonnencreme und Fett ein. Und währenddessen wässerst du bitte den Rasen, der ist sehr trocken.“

Ich war die Nummer 141. Und bekam diese Nummer auf beide Oberarme und auf beide Handrücken. Christin cremte mich mit Sonnencreme ein, richtig dick, am Hals und an den Schultern bekam ich zusätzlich noch eine Fettcreme aufgetragen, ich bekam meine Haare zusammengebunden, bekam meine erste Badekappe auf, meine Schwimmbrille, die zweite Badekappe, alles festkleben … Christin war in Action. Und ich versuchte, gleichzeitig zu trinken und mich zu entspannen. Klappte nicht. Ich setzte mich wieder in meinen Rollstuhl, fuhr zum Callroom. Ich war eine der ersten. Bekamen wir noch eine Einweisung? Wir saßen in einem Zelt, drinnen knapp 70 Plastik-Klappstühle. Ich parkte mich neben einen und setzte mich wieder ins Gras. Irgendwann müsste es ja mal klappen, zumal es schon anfing, weh zu tun. Mit gestreckten Beinen ging es nicht, mit angewinkelten Beinen ging es nicht, im Schneidersitz ging es auch nicht. Keine Chance. Ich hörte aufmerksam der Einweisung zu, dann hieß es: „Die Nummer 141 kann auf den Steg oder kann sich einen Slot reservieren lassen.“ – „Auf den Steg“, sagte ich. Christin setzte mir eine Basecap auf. „Da ist pralle Sonne. Kühl dir bloß ab und zu mal den Kopf mit Wasser. Notfalls gehst du einmal komplett rein und kommst wieder raus. Das ist erlaubt. Die Mütze setzt du kurz vor dem Start ab und lässt sie einfach auf dem Steg liegen. Ich sammel sie später ein.“

Wenn es nun die Regel gab, dass niemand über den anderen absichtlich überschwimmen dürfe, dann könnte ich mich ja an der strategisch günstigsten Stelle platzieren, also auf dem Slot 75. Machte ich auch. Christin schob mich auf die Hinterräder gekippt über die doch recht unebene Rampe zum Steg, ich setzte mich auf die Stegkante, Füße ins Wasser, Rollstuhl hinter mich, Bremsen fest, so konnte ich mich noch eine Zeitlang anlehnen. Christin versorgte mich mit zwei weiteren Literflaschen Wasser, dazu noch drei Fruchtsäfte zu je 200 ml in Tüten, die ich mir später am Rücken in den Badeanzug stecken konnte. Christin stellte sich so neben mich, dass ich einigermaßen im Schatten saß. Ich schob den Rollstuhl ein paar Zentimeter weiter zurück, damit ich bequemer sitzen konnte. Nach und nach kamen die anderen Athletinnen die Rampe herunter. Der Steg schaukelte.

Welche anderen Handicaps die anderen vier behinderten Athleten hatten, konnte ich nicht sehen. Neben mich stellte sich eine junge Frau, etwas jünger als ich, begrüßte mich. Kurz darauf setzte sie sich auf die 74 und fing an, ihren Oberkörper mit Seewasser zu bespritzen. Ich bekam einige Tropfen ab und plötzlich funktionierte das, worauf ich seit Stunden wartete. Ich traute mich nicht, nach unten zu schauen und hoffte nur, es würde nach vorne direkt in den See laufen und nicht nach hinten oder zur Seite. In erster Linie hatte ich aber das Gefühl, es lief im Anzug nach oben. Aber glücklicherweise nicht nur, denn es begann unter mir im Wasser zu plätschern. Die Frau neben mir musste das mitbekommen. Ich sah im Augenwinkel, dass sie mich plötzlich anschaute. Ich hoffte nur, es lief nicht auch zur Seite weg und sie bekam nicht noch was davon ab. Das wäre der größte Gau. Sie hörte nicht auf, mich anzugucken. Irgendwann drehte ich meinen Kopf zu ihr und guckte zurück. Sie grinste mich an und sagte: „We are real nasties.“

Es war 10:30 Uhr. Es ging mir sehr viel besser. Ich versuchte, möglichst viel von dem Wasser vorab zu trinken, um für die nächsten zwei Stunden in praller Sonne genügend hydriert zu sein. Es war zwar nicht so warm wie an den ersten Tagen, aber inzwischen war keine Wolke mehr am Himmel. Der Steg füllte sich immer mehr. Ich konnte langsam nicht mehr sitzen. Christin hatte mir ihre Uhr geliehen. Noch 8 Minuten bis zum Start. Es plätscherte noch einmal unter mir. Ich war froh, dass das so klappte. Die Frau neben mir guckte mich schon wieder grinsend an. Dann wurden alle zunehmend unruhiger, hampelten und sprangen auf dem wackeligen Steg auf und ab und irgendwann durften wir los. Ich ließ die Leute, die springen können, vor mir ins Wasser springen. Der Steg schaukelte wie ein Frachter nach einem Seitwärts-Stapellauf. Dann drückte ich mich hoch und ließ mich vorwärts ins Wasser fallen. Das Wasser war genauso warm wie die Luft, allerdings fühlt sich Wasser ja immer kälter an als Luft.

Ich konnte mich gut bewegen, ich bekam eine gute Wasserlage, es war kein Wind, das Atmen klappte gut. Einmal bekam ich den Fuß einer anderen Athletin gegen meine Hand, einmal bekam ich die Bugwelle einer anderen Athletin direkt in den Mund, als sie mich überholte, das Wasser schmeckte eklig. Etwas sandig. Ich versuchte, mich ein wenig zu bremsen, um die fünf Kilometer durchhalten zu können. Es schwamm sich gerade besser als erwartet. Ich hatte ein gutes Tempo drauf und war nicht die Letzte. Es waren sogar mehr als vier Personen hinter mir, so dass ich nicht nur Menschen mit Handicap hinter mir haben konnte.

Ich war gerade 20 Minuten unterwegs, als das Schwimmen zunehmend schwieriger wurde. Ich bekam Bauchweh. Nein, Bauchkrämpfe. Richtig starke Bauchkrämpfe. Was war das jetzt? Aufregung? Psyche? Zuviel getrunken? Zuviel Sonne? Ich drehte mich auf den Rücken und entspannte mich. Es gelang mir, ein weiteres Mal zu pinkeln. Ich hoffte, dass das die Ursache war und versuchte, keine Zeit zu verlieren. Nach zwei Minuten drehte ich mich erneut auf den Rücken. Richtig heftige Bauchkrämpfe. Ein Paddelboot mit einem Lifeguard kam auf mich zu. Ich schloss für einen Moment die Augen. Entweder geht das jetzt in den nächsten Minuten vorbei oder ich müsste den Wettkampf abbrechen. Ich versuchte mich zu entspannen. Plötzlich, ich erschrak mich fast, musste ich pupsen. Ich liebe meine Querschnittlähmung. Mein erster Gedanke war: Bitte keine große Sauerei jetzt. Der Lifeguard war auf meiner Höhe und fragte: „Any problems?“ – „No, I’m only a little bit gassy.“ – „Oh, you are trying to fart? I better keep some distance when you butter the biscuit.“

Na, der hatte ja Humor. Ich schwamm weiter. Nein, es schien wirklich nur zu viel Gas gewesen zu sein. Es ging mir bereits wesentlich besser. Während der nächsten Minuten pupste ich noch ein paar Mal mitten beim Schwimmen, und ja, ich weiß, es ist eklig, aber ich fasste mit meiner Hand einmal an meinen Po, um festzustellen, dass das wirklich nur Gas war. War es. Ich musste mir also keine Gedanken darum machen, ob ich noch ein paar Kilometer vollgeschissen weiterschwimmen möchte, denn ich war nicht vollgeschissen. Nachdem das auch geklärt war, hatte ich den Anschluss zu der Gruppe verloren und schwamm alleine hinter ihr her. Der Lifeguard hatte mich aus einiger Entfernung stets im Blick, aber mehr passierte nicht. Ich erreichte die Bojen, um die ich schwimmen müsste, um das zweieinhalb Kilometer lange Dreieck zu absolvieren, als ich um die zweite Boje herum war, nuckelte ich mir meinen ersten Apfelsaft aus meiner Trinkpackung in den Mund, um 12.06 Uhr kam ich als letzte am Steg an. Wohlgemerkt nach der ersten Runde, während einige Teilnehmer schon fast mit ihrer zweiten Runde fertig waren. Christin wartete auf dem Steg und hatte an einer langen Angel eine Flasche Wasser für mich, ich nahm sie mir, drehte mich auf den Rücken, füllte oben einen halben Liter nach, ließ unten gleichzeitig gefühlt einen halben Liter raus.

Zweite Runde. Große Lust hatte ich nicht mehr, aber ich wollte ankommen. Nach etwa einem Kilometer, also kurz nach der ersten Boje, zog sich schlagartig der Himmel mit Wolken zu. Die Sonne war verschwunden, Wind kam auf. Wie aus dem Nichts. Einzelne Regentropfen fielen vom Himmel. Ich schwamm weiter. Und schwamm, und schwamm, und schwamm, manchmal hatte ich das Gefühl, der Wind drückt mich zurück, aber ich schwamm, und schwamm, trank einen weiteren Apfelsaft, pullerte um 12.42 Uhr plötzlich mitten im Schwimmen, also ohne Pause zu machen und mich dazu auf den Rücken zu drehen und meine Blase zu bestreichen, schwamm, schwamm, schwamm, irgendwann kam ein Motorboot, auf das der Kayakfahrer neben mir wechselte und um 13.21 Uhr mit einer Zeit von 2:20 Stunden und ein paar zerdrückten Sekunden war ich in der Zielzone. Christin kam ins Wasser, hatte einen Badeanzug an, umarmte mich, gab mir einen Kuss auf den Mund, hielt mich fest, während sie im brusttiefen Wasser fest mit den Füßen am Boden stand. „Du hast es geschafft!“

Christin trug mich aus dem Wasser, setzte mich in meinen Rollstuhl. Meine Beine spielten verrückt. Spastik ohne Ende, sie zitterten als würde ich an einer Nähmaschine sitzen. Das musste an dem ganzen Adrenalin liegen, das auch in meinem Kopf wummerte. Ich sollte direkt zur Siegerehrung kommen. Ich bekam mit der Zeit natürlich keinen Preis, aber ich bekam ein T-Shirt und ein Handtuch sowie eine Teilnehmermedaille überreicht. Nein, erneut kein Hinweis darauf, dass ich ja trotz meiner Behinderung die fünf Kilometer geschafft hatte. Stattdessen baute sich die junge Frau, die auf der 74 gesessen hat, vor mir auf. Inzwischen frisch geduscht reichte sie mir ihre rechte Hand zum Highfive und meinte: „Hey, wir haben es geschafft!“

Die Rückreise nach Deutschland am zweiten Tag nach dem Wettkampf war unspektakulär. Allerdings waren wir gerade wieder im Lande, als der erste einen dummen Spruch machte. Wie habe ich es vermisst! Wir saßen im ICE, ich auf dem Rollstuhlplatz, Christin auf dem Begleiterplatz, als eine Frau sich uns gegenüber auf den für Schwerbehinderte reservierten Sitz setzte und uns fragte, ob wir dort sitzen möchten. Was ja ziemlich unsinnig ist, wenn wir bereits einen Sitzplatz haben, aber: „Ich bin zwar nicht schwerbehindert“, meinte sie, „aber wenn jemand angehumpelt kommt, mache ich Platz. Die meisten Behinderten fahren ja sowieso nicht Bahn.“ – Danke fürs Gespräch. Ja, ich habe es vermisst. Wirklich.

WC oder nicht WC?

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Ich weiß, dass es ein Thema ist, dass erfahrungsgemäß viele Fetischisten anzieht. Genau aus dem Grund habe ich es, wie die älteren Häsinnen und Hasen unter meinen Leserinnen und Lesern sicherlich mitbekommen haben, zuletzt bewusst vermieden. Es ist nervig, wenn ich merke, dass meine Herausforderungen zur Luststeigerung anderer beitragen; die sich dann noch nicht einmal klar dazu bekennen können, sondern dann noch unter abenteuerlichen Geschichten einschlägige Fragen stellen. Insofern seht es mir bitte nach, dass ich die Kommentare unter diesem Beitrag noch strenger moderieren lasse, als ich es ohnehin schon mit Bezug auf das Thema mache.

Darüber schreiben muss ich aber. Für mich. Und auch für alle die, die sich nicht trauen, dieses Tabuthema anzusprechen. Den Anlass lieferten zwei aktuelle Social-Media-Beiträge von anderen Menschen, die im Rollstuhl sitzen. Und ich muss sagen: Ich erlebe ja viel, aber ich habe echt mal wieder mit dem Kopf schütteln müssen.

Bei einem ging es um ein defektes Klo im Zug, über das sich offiziell beschwert wurde, und wo dann der offizielle Ratschlag ausgeteilt wurde, man hätte ja vorher pullern gehen können. Was genauso diskriminierend ist wie die regelmäßige Weigerung eines Zugverkehrsunternehmens, Menschen mit Behinderung mitzunehmen, wenn das oftmals einzige barrierefreie WC im Zug defekt ist.

Dazu möchte ich mal meine Sichtweise anmerken: Wann jemand pullern geht, ob zu Hause, im dreckigen Bahnhof oder im dreckigen Zug, ist seine Entscheidung. Lenkt also nicht davon ab, dass ihr es nicht schafft, Zugmaterial einzusetzen, das den allgemeinen Anforderungen an die Barrierefreiheit genügt. Und wenn ihr das schon macht, dann hängt gefälligst ein Schild an den oft einzigen barrierefreien Eingang, dass das Klo defekt ist. Dann kann ich nämlich für mich entscheiden, ob ich mitfahren möchte oder nicht. Die Entscheidung kann ich aber alleine treffen. Das muss mir das Zugverkehrsunternehmen nicht abnehmen – schon gar nicht in Hörweite anderer Leute.

Das Argument, ihr könntet ja verklagt werden, wenn ihr mich mitnehmt, obwohl das WC defekt ist, das sei auch schon so geschehen, lasse ich nicht gelten. Die Lösung, die der Richter im Kopf hatte, war sicherlich nicht diejenige, dass künftig Menschen mit Behinderung nicht mehr Zug fahren können. Sondern die, dass das zu funktionieren hat. Und wenn nicht, müsst ihr das rechtzeitig mitteilen und im Bedarfsfall denjenigen rauslassen. Wisst ihr aber eigentlich auch. Und wenn ihr dann doch verklagt werdet und unterliegt, dann ist das wohl nicht anders, als wenn ich mit einem Auto ohne Scheinwerfer am öffentlichen Straßenverkehr teilnehme, frei nach eurem Motto: Solange die Sonne scheint, besteht nur ein geringes Risiko.

In einem anderen Social-Media-Beitrag ging es um einen abgelehnten Rollstuhl. Oder einen zumindest teilweise abgelehnten Rollstuhl. Die junge Dame mit fortgeschrittener Muskeldystrophie ist motorisch sehr stark eingeschränkt, fährt im Elektrorollstuhl und profitiert von einer (zugegebenermaßen nicht ganz günstigen) Funktion, die sie aus der Sitz- in die Stehposition bringt. Künftig zu teuer für die Krankenkasse, zumindest solange, wie sich die junge Dame nicht lautstark zu Wort meldet. Als die junge Frau der Krankenkasse erklärte, dass ihr dadurch auch das Übersetzen auf eine Toilette unterwegs erleichtert werde, soll die Mitarbeiterin der Krankenkasse geantwortet haben, sie könne sich ja Windeln anziehen.

Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wer da was geraucht hatte, aber es dürfte doch eigentlich keine zwei Meinungen darüber geben, dass es meine höchstpersönliche Entscheidung ist, ob und wann ich mit eine Windel anziehe, oder? Was für eine Grenzüberschreitung ist dieser Ratschlag bitte? Und, was noch hinzu kommt, soll die Versicherte etwa ihre Windeln selbst einkaufen, weil die Krankenkasse keine entsprechende Funktion des Rollstuhls bezahlen möchte? Ja, ich weiß, Windeln können auch „zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“ verordnungsfähig sein. Aber bezahlt die Krankenkasse sie dann auch? Nein. Zumindest keine, mit denen man wirklich an der Gesellschaft teilnehmen könnte.

Fast alle Krankenkassen haben seit Jahren Verträge mit einem (oder mehreren) Anbietern. Diese verpflichten sich (vereinfacht ausgedrückt), an die Patienten der Kasse zu einem bestimmten Preis zu liefern. Und damit da der bestmögliche Gewinn abfällt, macht man einfach Folgendes: Man schränkt die Produktauswahl auf ein, zwei, wenige (günstige und den Mindeststandards genügenden) Noname-Produkte ein, begrenzt die Anzahl der monatlich ausgegebenen Artikel auf ein bis drei pro Tag und macht eine Mischkalkulation, bei der auch diejenigen Versicherten berücksichtigt werden, die nur eine kleine Vorlage brauchen, weil höchstens mal ein paar Tröpfchen abgehen, wenn sie niesen. Also die, die für 4 Euro im Monat optimal versorgt werden können (weil sie zudem meistens noch schnell in der Drogerie ein Päckchen für 7 Euro dazu kaufen).

Nachdem es davon ein paar Millionen Menschen deutschlandweit gibt, fallen natürlich diejenigen auf, die saugendes Inkontinenzmaterial für 100 Euro pro Monat gebrauchen könnten. Wenn man ein sinnvolles Produkt in ausreichender Menge bereitstellt. Die Krankenkassen zucken die Schultern und verweisen auf die Verträge, die Vertragspartner sagen: Ihre Kasse zahlt nur 10 Euro pro Monat. Die anderen 90 Euro müssen Sie selbst zahlen. Was falsch ist, denn der Händler hat sich bei der Erstellung der Mischkalkulation verpflichtet, auch die teuren Fälle einzubeziehen und diese dann auch optimal zu beliefern. Was natürlich nur in der Gesamtschau ein Gewinn sein kann und nicht auf den Einzelfall bezogen.

Aber unabhängig davon, dass adäquate aufsaugende Inkontinenzmittel über die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland kaum zu bekommen sind, ist es doch wohl auch hier ein absolut übergriffiges Verhalten, Menschen offiziell anzuraten, sich doch eine Windel anzuziehen, weil so Gelder für eine bessere Ausstattung eines Rollstuhls gespart werden können. Wenn überhaupt kein Sparzwang besteht und an anderer Stelle viel Geld für wesentlich fragwürdigere Dinge ausgegeben wird.

Ja, Windeln sind ein Thema bei vielen Menschen mit Behinderung. Auch für jene Menschen darunter, die eigentlich aufs Klo kämen. Es aber nicht können, weil entweder kein Klo da ist oder weil vorhandene öffentliche Toiletten defekt, verdreckt oder nicht barrierefrei erreichbar sind. Als bekennende Teilzeit-Pamperspisserin bin ich einerseits froh, dass es wirklich gute Produkte gibt, die diesen Umstand aus der öffentlichen Wahrnehmung heraushalten. Und die inzwischen so gut sind, dass zumindest ich damit locker umgehen kann und mich nicht erniedrigt fühle. Es ist aber trotzdem eigentlich ein absolutes Unding, dass unsere Gesellschaft es in der heutigen Zeit nicht schafft, adäquat Barrieren abzubauen.

Ich habe gerade mal mein Adressbuch durchgeblättert. Ich bin aktuell mit 32 Rollstuhlfahrerinnen befreundet. Bei 18 von ihnen weiß ich, dass sie regelmäßig prophylaktisch auf aufsaugendes Inkontinenzmaterial zurückgreifen, weil sie es sonst nicht zuverlässig bis zum Klo schaffen. In fast allen Fällen ist das zu Hause, wenn ein Klo in unmittelbarer Nähe ist, nicht nötig. Sicherlich kann man nicht alle körperlichen Einschränkungen adäquat ausgleichen und sicherlich bleiben in der Öffentlichkeit gewisse Wege bis zur nächsten Toilette. Aber regelmäßig defekte Zugtoiletten (ja, ich weiß worüber ich schreibe) und der Verweis auf Windeln zur Einsparung bei techischen Hilfsmitteln sind inakzeptabel.

Bleibt nur noch zu erwähnen, dass die junge Frau inzwischen ihren Rollstuhl vollständig bewilligt bekommen hat. Ob das am öffentlichen Druck lag oder an der verspäteten Einsicht, lasse ich mal dahingestellt.

Wert des Menschen

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Vier Nachtschichten bringen eigentlich alles durcheinander. Eine geht noch, finde ich, wenn ich dann morgens schlafen kann bis mittags, komme ich relativ gut wieder in meinen Rhythmus hinein. Aber vier am Stück machen mindestens eine relativ schlaflose Folgenacht. Und wenn ich dann am Tag auf diese Folgenacht wieder mit Frühdienst beginnen soll, fällt es mir wirklich sehr schwer, morgens um 4.00 Uhr aufzustehen.

Noch größere Bauchschmerzen macht mir allerdings die momentane Personalsituation bei meinem Arbeitgeber. Ich werde fast täglich gefragt, ob ich noch eine andere Schicht zumindest zur Hälfte zusätzlich übernehmen könne. Wenn ich „nein“ sage, wird noch einmal moralischer Druck aufgebaut. Nicht nur unter vier Augen, sondern auch durch fragwürdige Darstellungen gegenüber Dritten. Ich habe nicht live mitbekommen, dass jemand über mich abgelästert hat, weil ich nicht (ausreichend oft) einspringen würde; aber ich habe live mitbekommen, wie ein Vorgesetzter sich mir gegenüber über eine Kollegin ausgelassen hat, die ein kleines Kind zu Hause hat und deshalb weitere Schichten abgelehnt hat. Wer über andere lästert, lästert auch über mich. Widerlich sowas, weil es eben immer nur die halbe Wahrheit oder zumindest nicht überprüfbar ist. Leider ist die Hoffnung, dass Menschen fundierte Informationen von dämlichem Geläster abgrenzen können und wollen, erfahrungsgemäß vergeblich. So bleibt mir nur: Ein dickes Fell und zwei Ohren.

Meine Kollegen wissen nicht, wann ich Geburtstag habe. Mit Ausnahme derjenigen, zu denen ich ein engeres Verhältnis habe. Von denen war nachts niemand da, so dass ich nur einige Kurznachrichten um Mitternacht auf mein Handy bekam. Um halb drei war es so ruhig, dass ich mich einen Moment im Bereitschaftszimmer hinlegen wollte, aber noch nicht mal lag, als ich schon wieder angepiept wurde. Stichwort Atemnot. Socke flitzte, am Ende war nichts los, wofür man mich gebraucht hätte. Ein Kind, das mit bekanntem Asthma und einer chirurgischen Sache bei uns war, hatte ein vergleichsweise harmloses asthmatisches Geschehen und brauchte sein Spray.

„Wo Sie schonmal hier sind, im Zimmer 5 der junge Privatpatient ist noch immer wach und kann nicht einschlafen. Kann der was bekommen?“ – „Ja, einen warmen Tee.“ – „Ob er davon schläft…“ – „Werden wir sehen. Ich kümmere mich mal.“ – Ich klopfte vorsichtig und schaute um die Ecke. Der junge Mann, acht Jahre alt, saß in seinem Einzelzimmer, auf das die Eltern bestanden haben, im Dunkeln auf dem Bett und guckte aus dem Fenster. Er drehte sich nicht um, als ich reinrollte. Vermutlich hatte er mein Spiegelbild im Fenster gesehen. Als ich an der dem Fenster zugewandten Bettkante stand, merkte ich, dass er weinte. Nicht aufgeregt, sondern sehr entspannt. Traurig. „Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte ich ihn. Er nickte und zuckte mit den Schultern. Gleichzeitig.

Also hat sich Socke nachts um kurz vor drei Uhr auf das Bett gesetzt und einen Moment lang stumm mit dem jungen Mann in die dunkle Nacht hinausgeschaut. Ein paar Bäume bewegten sich im Wind, einige Lampen leuchteten, die Wege waren menschenleer. Ich habe nichts gesagt. Nach drei Minuten fragte er mich: „Was ist eigentlich jemand wert, der Asthma hat?“ – Ach, daher wehte der Wind. Srichwörtlich. Ich wartete einen Moment ab, aber er wollte wohl eine Antwort auf seine Frage bekommen. Ich antwortete mit einer Gegenfrage: „Was ist das denn überhaupt, der Wert eines Menschen?“

Ich merkte, wie er nachdachte. Bevor er antwortete: „Naja, wie andere einen finden und so. Ob andere einen als Freund haben wollen zum Beispiel.“ – „Würdest du denn jemanden zum Freund haben wollen, der Asthma hat?“ – „Ich ja.“ – „Und glaubst du, dass andere Menschen anders denken?“ – „Ich weiß es. Wir haben ein Mädchen mit halben Armen und ohne Finger in der Schule. Die ist auch (!) immer alleine.“ – „Dann quatsch doch mal mit ihr. Vielleicht versteht ihr euch ja gut. Ich glaube übrigens, dass der Wert eines Menschen nicht dadurch bemessen wird, wieviele Freunde er hat. Natürlich ist es wichtig und ein gutes Zeichen dafür, ob jemand gut ankommt. Aber ich finde, jeder Mensch ist gleich viel wert. Und alles andere sind Sympathiepunkte. Und die kannst du auch mit Asthma bekommen. Vielleicht sind einige deiner jetzigen Freunde nicht die richtigen. Vielleicht bist du ihnen durch dein Asthma aber auch schon einen Schritt voraus, weil du mehr über dich nachdenkst als die anderen über sich.“

Am Ende trank er seinen Tee und wurde müde. Ich bin dann aus seinem Zimmer, habe noch etwas schlafen können und bin bei mir zu Hause gerade noch angekommen, bevor Helena eigentlich zur Schule los musste. Marie war schon zum Frühdienst weg und wir hatten abgesprochen, dass sie ihr alles für das Frühstück hinstellt. Stattdessen hatte Helena uns beiden einen Geburtstags-Frühstückstisch gezaubert, mit einem selbstgebackenem Topfkuchen mit Kerzen drauf, Brötchen vom Bäcker geholt … so lieb! „Ich muss erst zur zweiten Stunde, erste fällt heute aus.“

Endlich mal wieder gemeinsam ausgiebig frühstücken und quatschen. Als Helena aus dem Haus war, habe ich mich einen Moment lang hingelegt. Aber so wirklich lange schlafen konnte ich nicht. Immerhin konnte ich während meiner nächtlichen Bereitschaftszeit schon einige Zeit meine Augen schließen. Am Mittag habe ich einen Kartoffelauflauf vorbereitet, gegen 14 Uhr haben wir dann zu dritt gemeinsam gegessen und sind dann bei schönem Sommerwetter alle gemeinsam fast drei Stunden lang mit unseren Handbikes an der Ostsee entlang gefahren. Haben viel gequatscht, endlich mal wieder Zeit für uns gehabt, bevor abends mein nächster Nachtdienst losging.

Am nächsten Mittag stand Christin plötzlich bei mir vor der Haustür. Wollte was abgeben. „Eigentlich wollte ich das gestern schon vorbei bringen, aber da warst du nicht da. Ich habe ein Geburtstagsgeschenk für dich, aber du musst versprechen, dass du es mir nicht übel nimmst. Du brauchst ganz viel Humor. Aber es hat mich so angelacht, dass ich dem nicht widerstehen konnte.“

Ich rechnete schon mit einer Barbie im Rollstuhl oder einem Shirt mit dem Aufdruck „Hauptsache, die Haare liegen“ oder ähnliches. Nein: Pampers. Sie schenkte mir zu meinem 27. Geburtstag ernsthaft mehrere Probierpackungen Windeln. Wobei das keine kostenlosen Testpackungen waren, sondern käuflich erworbene Einzelstücke, immer zu viert eingeschweißt. Was das sollte? Nun: „Ich dachte mir, immer nur weiß mit Zahlen und Buchstaben drauf, ist auf die Dauer ein wenig langweilig. Also ich trag ja auch nicht nur weiße Baumwollslips. Und die haben mich angelacht.“

Eine amerikanische Firma bringt ihre Produkte auch in bunt und mit aufgedruckten Comic-Motiven auf den Markt. Katzencomics, Einhörner, Schmetterlinge, Kühe, Regenbögen, alles mögliche. Aber auch: Piraten-Outfit (mit Totenköpfen) oder komplett schwarz, komplett pink. Wahnsinn. Weg von dem medizinisch-sterilen Design, hin zu ganz bunt und schräg. Für Erwachsene. Vermutlich mehr als Spielzeug für die Adult-Baby-Szene (ja, es gibt Menschen, die finden die Dinger erotisch oder zum Spiel dazugehörig), aber ich fand das auch so megalustig und eine schöne Idee. Leider kosten sie pro Stück deutlich über zwei Euro, was natürlich heftig ist. Aber für besondere Anlässe, zum Beispiel beim nächsten Besuch bei meiner Gynäkologin, hab ich wohl den Lacher auf meiner Seite.

Kein Triathlon IV

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Hier kommt nun der letzte Teil meines mal wieder ausführlich beschriebenen Erlebnisses. Und ich warne vor: Es wird exkrementlastig. Wer da empfindlich ist, liest vielleicht lieber ein wenig im Telefonbuch.

An meinem „großen Tag“ weckte mich der Wecker. Nicht die Enten. Als ich nach dem Duschen wieder im Zelt war, sagte Christin: „Ziehe ich dir das Ding jetzt im Zelt im Liegen an oder legen wir drüben eine Decke auf die Wiese? Im Sitzen wirst du es nicht über den Hintern kriegen.“ – Gemeint war ihre Ersatz-Hightech-Schwimmkleidung, die sie bereits ausrangiert und nur für den Notfall noch dabei hatte. Oder für Stinkesocken, die ziemlich genau die gleichen Körperproportionen haben. Ich antwortete: „Ich lege mich nicht nackt vor den Augen anderer auf eine Decke.“ – „Dann hier. Danach nur noch Zelt abbauen, das mache ich, alles ins Auto, Klappe zu, rüberrollen.“

Ich habe noch nie in meinem Leben so ein enges Teil angezogen. Christin meinte die ganze Zeit, dass das so eng sein müsse. Ich dachte, ich implodiere gleich. Über die Beine ging es in etwa zehn Minuten. Das war wie eine superenge Feinstrumpfhose. Stück für Stück. So stelle ich es mir vor, Kompressionsstrümpfe anzuziehen. Dann über den Hintern. Was an sich kein Problem wäre, müsste nicht der ganze Stoff, der später den Oberkörper bedeckt, auch mit drüber. Der Stoff erinnerte mich irgendwie an Butterbrotpapier. Ich war in erster Linie damit beschäftigt, nicht wegzurutschen. Aber Christin war völlig ruhig. Nach weiteren zehn Minuten hatte sie das Ding über meinen Popo bekommen. Dann nochmal überall etwas nachziehen, dann bis zur Brust hochziehen und wieder runterschieben. „Oben ziehst du dir jetzt ein Shirt drüber, das machen wir erst kurz vor dem Start, sonst schneidet es später an den Schultern so in die Haut ein.“ – „Darf ich atmen?“ – „Wenn es noch geht, gerne. Unten ziehst du dir eine lange Sporthose drüber, damit du nirgendwo hängen bleibst und ein Loch reinreißt. Du siehst klasse aus.“

Hatte schonmal irgendwer so ein Teil an und weiß, wovon ich schreibe? Ich fürchte: Nein. Während ich mich schonmal auf den Weg zum Call-Tent machte, wo sich alle Schwimmerinnen eine halbe Stunde vor dem Start zu letzten Anweisungen einfinden sollte, baute Christin unser Zelt ab. Eigentlich wollte ich mich nochmal einschwimmen. Aber das würde ich zeitlich nicht mehr schaffen. Egal, es ging um nichts. Außer ankommen. Ein Mensch vom Orgateam kam auf mich zu und sprach mich in gebrochenem Deutsch an. „Mein Name ist Freddi und ich bin für ihre persönliche Assistenz zuständig. Wenn Sie Hilfe benötigen, rufen und winken Sie bitte nach mir. Ich bin immer auf dieser Wiese oder auf dem Steg.“ – „Dankeschön.“

Ich war so aufgeregt. Meine Badekappe hatte ich irgendwo. Meine Schwimmbrille auch. Christin kam zu mir. „Ich habe das gerade noch mit dem Kajak geklärt. Ich helfe dir auf den Steg und beim Start, dann komme ich im Kajak hinter dir her und begleite dich bis zum Ziel. Die ersten fünf bis zehn Minuten müsstest du alleine schaffen. Ich habe mir schon eine Schirmmütze organisiert gegen die Sonne. Eincremen mache ich, wenn ich dir den Anzug hochgezogen habe, sonst habe ich keine Kraft. Und dann geht es los. Bist du aufgeregt?“ – „Wahnsinnig.“ – „Hör gleich gut zu beim Briefing. Nicht dass du die Bojen falsch anschwimmst und disqualifiziert wirst. Ich würde deinen Rollstuhl auch gerne ins Auto werfen. Zum Steg kommen wir damit eh nicht runter, das Ding versandet unterwegs. Ist es okay, wenn ich dich auf den Arm nehme?“ – „Meinetwegen ja, aber bin ich dir nicht zu schwer?“ – „Das kriege ich hin.“

Sie war sehr fürsorglich. Was ich sonst nicht so mag. Aber irgendwie konnte sie es so gut abgrenzen. Verstand, wo es mir half und wo es unangebracht war. Bis das Briefing startete, dauerte es gefühlt endlos. Ich saß zusammen mit Christin in der letzten von fünf Klappstuhlreihen in einem großen weißen Zelt. Mein Herz raste vor Aufregung. Ich versuchte, mich zu entspannen. Christin drückte mir erneut meine Trinkflasche in die Hand und brachte erstmal meinen Rollstuhl ins Auto, während ich auf einem wackeligen Holzklappstuhl saß. Neben mir saßen rund dreißig Frauen, wenige ein paar Jahre jünger als ich, etliche ein paar Jahre älter als ich. Durchschnittlich wohl um die 30. Als Christin wieder da war und sich neben mich setzte, fing endlich jemand mit der Begrüßung an. Der Zeitplan war schon nicht mehr zu halten. In zwei Minuten sollte der Start sein. Die Männer waren schon lange im See. Es begann damit, dass die Windstärke unter drei sei, die Wassertemperatur 23,6 Grad und die Luft bereits 25 Grad hätte. Alles auf Englisch. Was wichtig sei, wenn jemand einen Krampf bekäme. Dass man sich nirgendwo festhalten dürfe, auch nicht am Begleitboot. Dass die Strecke amtlich vermessen sei und zur Qualifikation für höhere Leistungsstufen geeignet sei. Mein größtes Problem war (wie könnte es auch anders sein) mal wieder meine Blase. Das würde nicht mehr lange gut gehen. Und er hörte einfach nicht auf zu sabbeln. Noch eine Regel, noch ein Hinweis. Die junge Frau neben mir war auch schon ganz nervös und wippte die ganze Zeit mit ihren Beinen. Ich flüsterte Christin ins Ohr: „Wenn der noch lange labert, geht hier was schief.“ – Christin sagte: „Ist Rasen unterm Stuhl. Merkt keiner.“

Nö, das würde ja auch gar nicht plätschern. Ich überlegte, ob ich mich lieber auf den Boden setzen sollte. Dann endlich war er fertig. „Wenn keine weiteren Fragen mehr sind, begeben Sie sich bitte direkt bis vor den Steg. Sie werden einzeln aufgerufen.“ – Christin nahm mich auf den Arm. Einen Arm unter meine Knie, einen Arm hinter meinen Rücken und unter meine Schultern, ich hielt mich mit einem Arm an ihren Schultern fest. Sie trug mich nach draußen und setzte mich auf den Rasen vor den Steg. Wahnsinn, wie kräftig sie war. Es machte ihr scheinbar überhaupt nichts aus. Ich bin nun auch nicht sehr schwer, aber ich bin auch kein Kind mehr. Ein herumstehendes älteres Paar, er mit einem Wanderstock in der Hand, tuschelte hörbar: „Ach, die ist behindert. Ich wundere mich schon, warum sie getragen wird. Schwimmt die auch mit? Nicht, dass die untergeht.“ – Christin murmelte leise: „Fresse.“

Vorsichtig mein T-Shirt ausziehen und vor die Brust halten, während Christin mir die Träger über die Schultern zog. Das war nochmal ein Akt. Und ich weiß, too much information, aber es blieb uns nichts erspart: „Ich piss jetzt echt hierhin“, sagte ich. Christin meinte: „Ja schön. So trocken, wie das Gras ist, versickert das an Ort und Stelle.“ – Ich war froh, es zumindest bis hierhin geschafft zu haben. Christin schmierte mich an den Schultern und am Hals fett mit Sonnencreme und Vaseline ein. Eine Badekappe auf den Kopf, Schwimmbrille drüber, zweite Badekappe, festkleben. An der Stirn, an den Wangen. Ich bekam meinen Transponder ums Handgelenk. Auch festkleben. Mit wasserfestem Klebeband. „Der rödelt sich sonst los in den nächsten Stunden“, wusste Christin. Hätte ich alles nicht auf dem Schirm gehabt. Nun kam endlich die Frau mit dem dicken schwarzen Fasermaler und schrieb mir meine Startnummer auf die Oberarme und auf die Hände. Christin gab mir drei Squeez-Trinkbeutel für unterwegs. „Steck sie dir hinten rein.“ – „Was?“ – „Am Hintern oben in den Badeanzug. Dann hast du was mit Zucker, wenn du schnelle Energie brauchst. Wasser bekommst du an der Verpflegungsstation, das hat er ja eben erklärt. Gesalzene Suppe gibt es heute nicht.“ – „Haha.“

Dann durfte Christin mich endlich auf den Steg bringen. Ich saß am äußersten linken Ende. Man rechnete wohl damit, dass ich die langsamste sein würde. Ich saß auf Christins Handtuch. Mit meinem angepinkelten Hintern. Es dauerte nochmal rund fünf Minuten, dann hob ein Mensch auf einem Motorboot endlich seine Fahne. „Take your marks …“ – Mit dem lauten Hupen aus einer Druckluft-Tröte sollte es losgehen. Ich war durch das lange Sitzen außerhalb des Wassers richtig aufgeheizt und dachte für einen Moment, ich bekäme Kreislauf, als ich in das kalte Wasser fiel. Ich schwamm einfach. Christin hatte Recht. Die optimierte Wasserlage durch den geringfügigen zusätzlichen Beinauftrieb in dem langen Schwimmanzug war vorteilhaft. Und die Gleit-Eigenschaften auch. Ich kraulte. Ich suchte eine Geschwindigkeit, die ich möglichst eine lange Zeit durchhalten könnte. Ohne dass ich heute abend noch beschäftigt wäre. Die ersten hundert Meter liefen gut. Ich war nicht die letzte, sondern hatte bereits zwei Frauen überholt. Ohne mich angestrengt zu haben. Ich versuchte eine lockere Armfrequenz und eine ganz ruhige Sechser-Atmung. Klappte. Allerdings nicht immer, manchmal wollte ich atmen und bekam wegen einer Miniwelle den Mund nicht aus dem Wasser. Dann zur anderen Seite … klappte. Doch, es lief besser als gedacht. Schon zweihundert Meter? Und noch immer zwei Leute hinter mir. Gut.

Ich versuchte, abzuschalten. Sechser-Atmung. Ganz ruhige und lange Züge. Ellenbogen weit aus dem Wasser raus. Schön den letzten Druckpunkt noch mitnehmen. Kopf konkret zum Atmen hochdrehen und nach dem Einatmen zackig wieder ins Wasser zurück. Finger zusammen. Sauber eintauchen, Arme weit vorstrecken. Lief. Um Christin zu entdecken, atmete ich jetzt zur anderen Seite. Nein, sie war noch nicht da. Oder? Egal. Sie würde mich schon entdecken und im Moment brauchte ich sie nicht. Richtiger Kurs? Ja. Die nächste Boje liegt vor mir. Die beiden Frauen waren weiterhin hinter mir. Nicht ablenken lassen. Schwimmen.

So schwamm ich. Und schwamm. Und schwamm. Irgendwann sah ich Christin. Ihr Kajak fuhr etwa zehn Meter neben mir. Tipps dürfte sie mir nicht geben. Aber falls irgendwas schief gehen würde, wäre sie da. Ich schwamm. Und schwamm. Das Tempo schien okay zu sein. Das würde ich durchhalten können. Vermutlich. Habe ich es auf Anhieb richtig gewählt? Wahnsinn. Das ist das erste Mal, dass ich eine so lange Strecke im See schwimme. Die beiden Frauen sind noch immer hinter mir. Die erste Boje würde bei 1,5 Kilometern kommen. Da war ich noch lange nicht. Obwohl … Konzentration. Nicht so viele Gedanken machen, sondern sauber schwimmen.

Plötzlich war sie da. Wenn ich nach vorne schaute, konnte ich sie sehen. Die erste rote Boje. Alles lief gut. Wenn es so weitergehen würde, würde ich es schaffen. Die erste Wasserstation war in einem Kilometer. Ich griff nach einem Trinkbeutel. Ein Plastikverschluss. Ich legte mich auf den Rücken, bekam den Verschluss geöffnet und kippte das Zeug in mich rein. Apfelsaft. Geschätzt 200 Milliliter. Christin kam dicht an mich heran. „Schwimm du weiter, ich fische den Müll gleich aus dem Wasser“, rief sie mir zu. Das Trinken muss ich noch üben. Ich hatte dabei Luft geschluckt. Hat schonmal jemand unter Wasser gerülpst? Nee? Mahlzeit. Weiter im Text. Sechser-Atmung. Ging noch immer. Nochmal, nochmal, und Zack! Hatte ich eine Welle im Mund und verschluckt. Bäh. Ich musste husten. Heftig husten. Und kotzte dabei den Apfelsaft wieder aus. Boa, wie widerlich. Ich hustete nochmal. Und kotzte. Unter Wasser. Schwallweise. Ich drehte mich auf den Rücken. Nochmal husten. Nicht mehr kotzen. Und atmen. Atmen. Husten. Atmen. Ich drehte mich wieder in Bauchlage. Und musste wieder husten. Wieder zurück in Rückenlage. Eine Frau zog an mir vorbei. Ich hoffe, sie hatte nichts von meinem Apfelsaft abbekommen. Christin rief: „Was ist los? Verschluckt? Einmal aufrichten, abhusten, weitermachen!“ – Ich versuchte, meinen Oberkörper in eine senkrechte Position zu bekommen. Ich hatte noch mehr Luft im Magen, die jetzt rauskam. Danach war auch der Hustenreiz weg. „Weiter!“, brüllte Christin. Ist ja gut.

Weiter. Trinken will gelernt sein. Ich schwamm wieder. Vierer-Atmung. Irgendwann wieder Sechser-Atmung. Schwimmen, schwimmen, schwimmen. Meine Arme wurden schwer. Zuckermangel? Noch einen Versuch mit dem Apfelsaft starten? Wäre wohl besser. Wieder auf den Rücken drehen. Dieses Mal klappte es besser. Ich ging gleich nach dem Trinken einmal in die Horizontale, rülpste die Luft aus dem Magen, und schwamm weiter. So oft und so laut habe ich das wohl noch nie in meinem Leben gemacht. Aber wie sagte Christin? Ich bräuchte mich nicht zu genieren. Meine Blase war ruhig, mein Darm war ruhig, mein Magen war ruhig. Die schweren Arme wurden wieder leichter. Die Wasserstation kam in Sichtweite. Eigentlich hatte ich keinen Durst. Aber besser wäre es wohl. Die Wasserstation bedeutete auch, dass ich die Hälfte gleich geschafft hätte. Ich bekam eine Trinkflasche gereicht. Öffnete sie auf dem Rücken liegend und soff. Doch, ich hatte Durst. Zum Glück war es Wasser ohne Gas. Ich sah, dass inzwischen drei Leute hinter mir waren. Und ich konnte mich nicht erinnern, zwei überholt zu haben. War ich so konzentriert?

Einmal in die Horizontale. Nee, keine Luft im Bauch. Das lag wohl an diesen komischen Trink-Squeeze-Beuteln. Ich schwamm und schwamm. Und überholte tatsächlich noch eine Frau. Jetzt hatte mich der Ehrgeiz gepackt. Vier Schwimmerinnen hinter mir, obwohl sie mit Armen und Beinen schwammen? War ich so gut oder konnten die nur ihre Kräfte besser einteilen und würden mich auf dem letzten Kilometer überholen, während ich auf den Seegrund absinke? Schwimmen. Nicht so viel denken. Auch nicht darüber nachdenken, dass ich heute noch mit dem Auto wieder nach Hause fahren musste. Oder was wohl Helena macht, ob es ihr gut geht. Wie es Marie geht. Hallo, Kopf! Schwimmen!

Irgendwann war die nächste Boje in Sicht. Schon dreieinhalb Kilometer geschafft. Aber noch 1.500 Meter. Soviel wie 60 kurze Bahnen. Nach der Boje kamen die Wellen eklig von der Seite. Ich atmete zur anderen Seite. Und sah jetzt Christin ständig neben mir. Die Arme wurden schwer. Fühlte ich sie überhaupt noch? Halte ich das durch? Eigentlich nicht. Aber durchbeißen ist jetzt angesagt. Konzentrieren. Es war die letzte Boje. Und ich bin nicht die letzte Schwimmerin. Noch immer waren vier Schwimmerinnen hinter mir. Bei jedem dritten Versuch, zu atmen, bekam ich jetzt eine Welle ab. Und immer, wenn ich Seewasser in den Mund bekam, versuchte ich, es wieder auszuspucken. Was mir nicht immer gelang. Aber zum Glück verschluckte ich es nicht. Ich bekam Bauchweh. Das war auch keine Luft im Bauch, das war der Darm. Den ich eigentlich heute morgen entleert hatte. Würde ich am Ende auch so eine tolle Story erzählen können? Bitte. Nicht.

Nochmal Apfelsaft. Christin fischte den Müll aus dem Wasser. Nochmal rülpsen. Das ist nicht der Darm. Das ist die Blase, die da Theater macht. Als ich kurz in der Horizontalen war, fasste ich mir an den Bauch. Das war die Blase. Warum entleerte die sich nicht? Sonst tut sie das zu den unmöglichsten Momenten, und jetzt, wo sie es dürfte, macht sie es nicht? Soll das jemand verstehen? Ich versuchte, sie zu triggern. Unterleib beklopfen, an den Oberschenkelinnenseiten kratzen. Nö. Interessierte sie nicht. Ich bekam Gänsehaut. Könnte sie sich bitte entleeren?

Sie dachte nicht dran. Weiter im Text. Christin kam zu mir. „Was ist los? Nicht so lange unterbrechen, sonst kommst du raus. Es läuft so gut für dich.“ – „Ich muss dringend pissen und kann nicht.“ – Sie lachte. „Dreh dich auf den Rücken und versuch nochmal.“ – Ich drehte mich auf den Rücken. Kratzte nochmal an meinen Beinen. Nichts. Keine Chance. Die vierte Schwimmerin kam gefährlich nahe. Weiterschwimmen. Bevor ich aus dem Rhythmus kam. Der Ehrgeiz packte mich. Ich wollte es durchziehen. Und vor den vier anderen ins Ziel kommen. Ich schwamm zügig weiter und konnte auch wieder ein wenig größere Distanz zu der gefährlich nahe gekommenen Schwimmerin aufbauen. Ich schaute einmal nach vorne. Die nächste Schwimmerin war sehr weit weg. Die würde ich nicht mehr einholen. Das Ziel ist noch etwa einen Kilometer entfernt. Das würde ich schaffen.

Dann spielte doch tatsächlich noch mein Kreislauf verrückt. Mein Herz raste. Das war die Blase, die hier so extrem auf mein Nervensystem drückte. Einen Moment später hörte ich ein Rauschen in meinen Ohren, mir wurde schwindelig. Nicht lustig. Ich schwamm weiter. Drei, vier Sekunden später ging es wieder. Jetzt durchhalten bis zum Ende. Kreislauf, Kreislauf, Kreislauf. Abwechselnd Herzrasen und dann Blutdruckabfall. Rauschen in den Ohren, schwindelig. Aber immer nur Sekunden. Ich konnte dabei aber weiter schwimmen. Übel war mir. Nochmal spucken? Bitte nicht. Jetzt so kurz vor Ende aufgeben? Bitte auch nicht. Ich schwamm näher an Christin heran. Drehte mich auf den Rücken. Sagte zu ihr: „Ich hab Kreislaufprobleme. Bleib mal bitte in meiner Nähe.“ – Und schwamm weiter. Viereratmung. Die Atmung wurde immer flacher. Am Ende schwamm ich immer langsamer, aber mit Zweieratmung. Übel war mir. Egal jetzt, die Anschlagbrücke, unter der ich durchschwimmen müsste, ist da vorne. Sichtbar. Durchziehen jetzt. Endspurt? Daran war nicht zu denken. Ich könnte froh sein, wenn ich da ohne Abzusaufen ankomme. Kreislauf grüßt erneut. Nie so, dass es unbeherrschbar wurde, aber doch deutlich merkbar. Dann endlich: Das Ende ist keine 50 Meter mehr weg. Und die vier Schwimmerinnen sind noch hinter mir. Eine ist sehr nah dran, aber ich würde das durchziehen. Komme ich mit meiner Hand überhaupt an diese Brücke? Ja, mit den Fingerspitzen. Weiterschwimmen, weiterschwimmen. Ins flache Wasser. Ich kann nicht mehr.

Christin musste um die Anschlagbrücke herum paddeln, fuhr mit dem Kajak auf den Strand, sprang heraus und kam zu mir gelaufen. „Du bist fertig, Jule, du hast es geschafft! Superklasse! Ganz ruhig, leg dich auf den Rücken. Atme ganz ruhig weiter. Alles ist gut. Versuche, auf dem Rücken etwas weiter zu schwimmen. Du bist im flachen Wasser, ich kann hier stehen und passe auf dich auf. Leg dich auf den Rücken. Ganz ruhig.“ – Sie hielt mich fest. Das tat gut. Ich hatte Unterleibsschmerzen, das war unbeschreiblich. Blase und Nieren. Gar nicht gut. Wenn sich das jetzt nicht sofort regulieren würde, müsste ich mich sofort kathetern. Ich wusste nicht, ob sie das auf dem Schirm hatte. Ich sagte: „Ich muss so extrem dringend, dass es schon weh tut, und kann aber nicht. Das macht auch die Kreislaufprobleme, schätze ich.“ – Ich war richtig kurzatmig. Christin nahm mich auf den Arm und ging mit mir noch ein Stück tiefer ins Wasser. „Versuche, dich zu entspannen.“ – Sie drehte mich so, dass ich auf den See hinaus gucken konnte. Hielt mich unter meinen Knien fest. Wie man ein kleines Mädchen abhalten würde. Nur im Wasser. Ich kratzte erneut an den Innenseiten meiner Oberschenkel. Nichts. „Entspann dich. Guck in die Ferne. Bleib ganz ruhig.“ – Meine Güte, tat das weh. Das war so gemein und sicherlich nicht gesund. Dann plötzlich klappte es. Zuerst spürte ich nur die Wärme, dann ließen die Schmerzen langsam nach. Es schien gar nicht mehr aufzuhören. „Es klappt, oder?“, fragte Christin. Ich nickte. Sie hielt mich weiter fest. Was um mich herum passierte, bekam ich nicht mit. Christin sagte: „Gut, dass niemand so genau weiß, was wir hier tun.“

Das war mir so egal. Es waren gefühlt schon zwei Minuten vergangen. Irgendwann ließ Christin meine Beine los. Ich konnte wieder atmen. Die Schmerzen waren weg. Ich fühlte mich so erleichtert. Sowas hatte ich noch nie. So extrem. Ich atmete mehrmals ganz tief ein und aus. Dann begann ich zu frieren. Und gleichzeitig zu lachen. Ich hatte so eine Euphorie in mir, dass ich lachen musste, ob ich wollte oder nicht. Und nicht mehr aufhören konnte. In den ersten Momenten lachte Christin mit. Dann realisierte sie aufgrund ihrer Wettkampferfahrung, was mit mir los war. Und schien zu wissen, dass das nicht angenehm ist. „Du hast einen Flash, oder? Versuche, ruhig zu atmen. Ich bin bei dir. Das ist gleich vorbei. Einfach nur ruhig atmen.“ – Christin trug mich aus dem Wasser und setzte mich auf die Wiese ins Gras. „Ich hole dir dein Handtuch.“

Meine Zeit: Ich war schneller als Christin. Während sie 2:15 Stunden gebraucht hatte, war meine Zeit 2:09:33 Stunden. Okay, ich gebe zu, sie ist die doppelte Strecke geschwommen. Meine Durchschnittsgeschwindigkeit waren damit etwa 2,3 km/h. Das ist nun wirklich nicht schnell, aber: Schwimme du mal 5 Kilometer am Stück ohne Beine. Und dann reden wir nochmal. Und für ein allererstes Mal ist die Zeit gut. Basta. Christin fand sie super. Und immerhin waren noch vier Leute langsamer als ich. Okay, die waren schon über 60. Aber sie waren langsamer.

Christin trug mich unter eine nicht barrierefreie Dusche. Sie hatte einen Gartenstuhl dort hineingestellt, auf den ich mich setzen konnte. Das Ausziehen dieses Schwimmanzugs ging bedeutend schneller als das Anziehen. Christin und ich duschten in derselben Kabine. Sie seifte mich mit ein. Es war einiges an Shampoo und mechanischer Arbeit nötig, um die Vaseline-Reste und die Reste der Startnummern von der Haut zu bekommen. Ich war völlig platt. „Wenn es für dich okay ist, fahre ich“, sagte Christin. „Dann kannst du schlafen. Du siehst sehr kaputt aus.“

Geschlafen habe ich im Auto zwar nicht, aber es war gut, dass sie gefahren ist. Sie ist sehr gut und aufmerksam gefahren. Wieder zu Hause, empfingen mich bereits Helena und Marie. Sie wollten als Erstes meine Urkunde sehen. Marie fand meine Zeit gut. Und dann erzählte ich von Christin und unseren beiden Nächten. Bevor Marie oder Helena das in meinem Blog lesen. Helena: „Hattet ihr Se* miteinander?“ – „Nein, wir haben nur ein wenig gekuschelt.“ – „Aber nackt?!“, fragte Helena. Ich antwortete: „Ja.“ – Sie überlegte einen Moment und sagte dann: „Das muss so schön sein.“ – „Wir haben nur ein wenig gekuschelt. Den Rücken gekrault und sowas. Aber es war schön.“ – „Aber du kraulst mich doch trotzdem auch noch, oder?“

Na sicher, Helena. Sicher.