Immenhof

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Inzwischen hat es Zeugnisse gegeben. Ich bin ganz überrascht, wie groß das Interesse unter meinen Leserinnen und Lesern ist. Diverse Nachfragen habe ich dazu bekommen. Maries und mein Interesse war natürlich auch sehr groß. Und Helena war, obwohl wir keinen Druck gemacht haben, so aufgeregt, dass sie morgens überhaupt nichts essen wollte. Zum Glück hat sie das nicht erst nach den ersten zwei Bissen gemerkt, sondern vorher, so dass wir die Insulindosis anpassen konnten. Und dabei waren die Noten eigentlich alle halbwegs bekannt.

Ich hatte an dem Tag frei, war morgens zwei Stunden zusammen mit Marie schwimmen. Als Helena mittags von der Schule kam, verschwand sie zunächst ohne ein Wort zu sagen in ihrem Zimmer. Kam dann aber mit ihrer Zeugnismappe in die Küche, legte sie aufgeschlagen auf den Tisch und setzte sich wortlos daneben. Aus ihrem Gesicht waren keine Emotionen abzulesen. Ich wusste nicht, wie ich das einordnen sollte. Ich bekam aber ein unmissverständliches Bild davon, welche Bedeutung der Zeugnistag bei ihren vorherigen Pflege-Eltern gehabt haben musste.

Ich rollte zum Tisch. Sie guckte mich nicht an, sondern starrte auf das Zeugnis. Ich klappte die Zeugnismappe zu, ohne irgendwas gesehen zu haben. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie guckte mich an. Ich fragte: „Möchtest du jetzt darüber sprechen?“ – Sie zuckte mit den Schultern. Ich fragte: „Wie fühlst du dich denn überhaupt? Du musst doch Hunger haben, wenn du heute morgen schon so gut wie nichts gegessen hast.“ – „Nö. Ich möchte das hier möglichst schnell hinter mich bringen, okay?“ – „Helena, setz dich doch nicht so unter Druck. Wegen so einem blöden Zettel!“

Marie holte Luft, aber Helena sagte: „Okay. Ihr bestraft mich ja nicht. Das hab ich ja inzwischen gelernt. Folgendes: Es gibt eine Sache, die ist ganz kacke, eine ist doof und vier sind so naja.“ – Marie fragte: „Und der Rest?“ – Helena lächelte. Marie sagte: „Die guten Dinge darfst du auch gerne erzählen, junge Frau.“ – Helena sagte: „Ich bin gespannt, wie ihr das findet. Bei meinem letzten Zeugnis hat es von meinem Pflegevater richtig Dresche gegeben. Und da war im Zeugnis eigentlich nix Kacke. Sondern nur ‚doof‘ und ’naja‘.“ – Marie antwortete: „Helena, …“ – Helena unterbrach: „Ja, ich weiß, ihr seid nicht mein Pflegevater.“

Ich blätterte die Mappe wieder auf. Deutsch 3, Mathematik 2, Englisch 4, Biologie 2, Physik 2, Geschichte 1, Geographie 3, Religion 3, Kunst 3, Musik 2, Sport 1, Spanisch 2. Noten auf der gymnasialen Anforderungsebene. Allgemeines Lernverhalten (Raster): Arbeitsorganisation und Selbstständigkeit stark, Methodik im Mittelfeld, Konzentration und Engagement gut. Sozialverhalten in Team- und Konfliktfähigkeit: Vorbildlich.

Helena guckte mich mit großen Augen an. Marie schaute mir über die Schulter und las mit. Was sollte hieran nun „Kacke“ sein? Die Vier in Englisch? Hab ich andere Maßstäbe? Ich fand das Zeugnis toll. Sie hatte in einer Klassenarbeit in Englisch eine Fünf. In der zweiten eine Drei. Von einem fragwürdigen Test in Erdkunde abgesehen, war alles andere gut oder zumindest okay. Marie kam mir zuvor: „Kannst du mir mal bitte erklären, was du an diesem Zeugnis doof findest?“ – „Die Vier in Englisch.“ – „Und was ist ‚ganz kacke‘?“ – Sie deutete auf zehn unentschuldigte Fehlstunden. Marie sagte: „Das stimmt. Das ist Kacke. War das dein Strandausflug?“ – „Ja.“ – „Und was noch?“ – „Darf ich das bitte verschweigen?“

Ich sagte: „Ich geb dir mal einen Tipp, Helena. So von Schulschwänzerin zu Schulschwänzerin. Okay?“ – Sie guckte mich mit großen Augen an. „Melde dich beim Lehrer ab. Geh nicht einfach so weg.“ – „Nee, die unentschuldigten Stunden kommen davon, wenn ich von zu Hause keine Entschuldigung mitbringe.“ – „So ein Eintrag im Zeugnis ist wirklich unnötig, Helena. Er dient dazu, dass wir das erfahren. Er macht aber gleichzeitig einen schlechten Eindruck, wenn du dich mal bewerben musst. Und beim Jugendamt. Marie und ich erfahren es sowieso. Dann kannst du auch gleich zu uns kommen und nimmst eine Entschuldigung mit.“ – „Fürs Schwänzen?“ – „Ja.“ – „Häh? Wo bleibt denn da die Erziehung?“ – „Was brauchst du denn da, als Erziehung?“ – „Das klingt ja fast so, als wenn ihr keine Ideen mehr habt. Kapitulation? So schnell?“ – „Sei bitte nicht so frech, Helena. Ideen haben wir genug, aber wir sind hier auch nicht im Kasperle-Theater. Du weißt, wie es läuft, du bist alt und schlau genug. Marie und ich möchten unsere Zeit mit dir gerne anders verbringen, als dir zu erklären, warum du nicht schwänzen darfst.“ – „Zum Beispiel?“

Marie sagte: „Eigentlich wollten wir mit dir in die Stadt fahren und dich heute abend ins Kino einladen. Und anschließend mit dir zusammen nett essen gehen und danach bei [meinen Eltern] schlafen. Aber wir können auch gerne übers Schwänzen philosophieren und uns gemeinsam Erziehungsmethoden überlegen. Wenn du das lieber möchtest.“

Helena guckte einen Moment auf das Zeugnis, dann sagte sie: „Das mit dem Kino, meint ihr das ernst?“ – „Na sicher.“ – „Und das mit der Entschuldigung meint ihr auch ernst?“ – „Ja. Wenn es sich im Rahmen hält.“ – „Was ist der Rahmen?“ – „Zehn Stunden im nächsten Halbjahr.“ – „Und wenn ich weniger als 10 Stunden schwänze, bekomme ich dann für jede nicht geschwänzte Stunde eine Prämie oder was? Ich finde zwei Tage im Halbjahr voll im Rahmen. Und mehr werden es nicht. Versprochen.“

Damit können wir wohl alle leben. Wenn sie diesen einen Tag der Regelübertretung pro Quartal so unbedingt braucht, dann soll sie den bekommen, ohne dass wir das immer wieder ausdiskutieren müssen. Ihr ist es wohl enorm wichtig. Insofern haben wir das Thema abgehakt und sie ausgiebig gelobt. Das Zeugnis zeigt nämlich nicht nur, dass sie zwei Tage geschwänzt hat, sondern vor allem, dass sie 100 Tage lang dort war und einen sehr guten Job gemacht hat.

Wir haben uns „Immenhof“ im Kino angeschaut. Ich meine … was auch sonst?! Es war unterhaltsam. Viele Pferde, hübsche Mädchen, … Zu Maries Eltern hat Helena ihr Zeugnis auch mitgenommen. Maries Mutter hat nicht danach gefragt. Nach dem Abendessen kam Helena damit an. „Möchtest du mal gucken?“, hat sie sie gefragt und sich bei ihr auf den Schoß gesetzt. Ganz anders als bei uns. Maries Mama hat den Arm um sie gelegt. Und dann gefragt: „Geschichte ne Eins? Sport auch eine Eins? Und dazu fünf Zweier? Das ist doch klasse! Da siehst du mich wirklich positiv überrascht.“ – Helena deutete mit dem Finger auf die zehn unentschuldigten Fehlstunden. Maries Mutter guckte sie an und flüsterte ihr ins Ohr: „Geschwänzt?“ – Helena nickte und flüsterte zurück: „Zwei Mal. Mit Absicht. Das musste sein.“ – „Gab es Ärger?“, flüsterte Maries Mutter weiter. Helena antwortete: „Richtigen Ärger nicht. Den bekomme ich von Jule und Marie nicht. Also wirklich nicht. Und für nächstes Halbjahr haben wir heute einen Deal ausgemacht.“

Maries Hündin lag die ganze Zeit bei Helena. Ließ sich kraulen und konnte gar nicht eng genug an ihr dran sein. Helena setzte sich extra auf den Fußboden, um besser mit ihr kuscheln zu können. Und Helena krault sie dann auch eine Stunde lang. Hin und wieder dreht die Hündin sich von der linken Seite auf die rechte Seite oder umgekehrt, streckt Helena ihren Bauch hin und schaut entsetzt auf, wenn Helena aufhört. Ansonsten ist die Hündin tiefenentspannt und lässt sich von ihr überall anfassen.

Am nächsten Morgen waren Helena, Marie und ich in der Sauna. Pool gibt es wegen der kalten Außentemperaturen nicht mehr, sondern nur noch eine Dusche und ein paar Liegen, auf denen man sich in eine Art Schlafsack einwickeln und an der frischen Luft, bei Schnee oder Regen auch unter einem Vordach, ruhen oder schlafen kann. Die Sauna war auf 60 Grad eingestellt und Helena genießt das. Sie sitzt zwar ganz unten und schwitzt meistens erst beim dritten Saunagang richtig, aber wir müssen sie vom fünften Saunagang abhalten. Sie würde dieses Rein und Raus und dampfend nackt bei Schneefall durch den Garten gehen am liebsten den ganzen Tag machen.

Außerdem haben wir an diesem Wochenende endlich ihre Insulinpumpe in Betrieb nehmen können. Nach der Sauna, versteht sich. Es ist für sie ein wenig ungewohnt, weil neu und völlig anders, aber sie ist sehr interessiert und lernt sehr schnell. Wir haben ausgenutzt, dass einerseits Maries Mutter als erfahrene Ärztin vor Ort ist, andererseits wir dort zu dritt in einem Zimmer schlafen, so dass wir mitbekommen, falls nachts irgendwas los ist, und quasi auch im Halbschlaf den Blutzucker bestimmen können. Es hat aber alles gut funktioniert bislang.

Honig im Kopf

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Manche Menschen schwärmen für den nuschelnden Tilman. Manche konnten kaum erwarten, bis sein neuer Film in die Kinos kam. Ausgerechnet am ersten Weihnachtstag, am Fest der Liebe und der Familien, läuft „Honig im Kopf“ an. Wenn das mal kein Zufall ist…

Ich selbst bin weder pro noch contra Schweiger. Beim Tatort geht er mir regelmäßig auf den Keks, kürzlich bei Inas Nacht fand ich ihn zu hochnäsig, was vielleicht an seiner akuten Erkältung gelegen hat – in seinen Kinofilmen ist mir manches zu übertrieben, manches zu einfach durchschaubar und zu konstruiert. Aber „Wo ist Fred?“ hat mir sehr gut gefallen, nicht zuletzt wegen der einschlägigen Thematik, und auch Zweiohrküken und Kokowääh fand ich durchaus sehenswert.

Etwas schade ist, dass der Film in Hamburg in den Abendvorstellungen der großen Kinos aktuell nur in Sälen gespielt wird, die für Rollstuhlfahrer nicht erreichbar sind. So haben Marie und ich uns zusammen mit Maries Eltern, die den Streifen auch sehen wollten, in einen für den Andrang viel zu kleinen Kinosaal gesetzt und versucht, uns berieseln lassen.

Berieselt hat allerdings nur die Werbung. Sobald der Film startete, ging es zur Sache. Mehr als drei Sekunden durfte der Blick nicht in die Popcorntüte wandern, sonst lief man Gefahr, irgendeine Pointe zu verpassen. Was nicht gerade entspannend ist; aber immerhin war auch niemand eingeschlafen. Der Streifen enthielt den üblichen Klamauk, die Handlung war mir teilweise zu stark konstruiert. Damit meine ich weniger die Darstellung der Krankheit „Alzheimer“, sondern mehr die viel zu lässigen und oft für mich persönlich nicht realistischen Reaktionen aus der Umwelt.

Wie schon in den letzten Streifen durften natürlich auch diesmal Pinkelszenen und gecrashte Oberklassefahrzeuge sowie das Feuer in der Küche nicht fehlen. Wenn man das aber als schweigertypisch abhaken konnte, bleibt etwas sehr, sehr schönes übrig: Ein wunderbarer Film über eine fiese und weit verbreitete Krankheit, über die Fachleute viel forschen, die aus dem Alltag aber lieber verdrängt wird. Und nachdem ich täglich selbst erlebe, vor welche Herausforderungen ich als Rollstuhlfahrerin meine Mitmenschen oft nur durch meine bloße Anwesenheit stelle, möchte ich gar nicht darüber nachdenken, wie schwierig doch Begegnungen zwischen sich für normal haltenden Menschen und jenen sein können, in deren Köpfen die Gedanken so zäh „wie durch Honig fließen“.

Dieter Hallervorden, der in diesem Film den an Alzheimer erkrankten Opa spielt, läuft zur Höchstform auf. Eine so glaubwürdige Vorstellung hätte ich ihm, ehrlich gesagt, nicht zugetraut. Was vielleicht daran liegen könnte, dass ich den Fernseher eher selten einschalte und wenn, dann meistens, um Entspannung zu suchen. Entspannend fand ich dabei Didis Witze allerdings nie, eher habe ich immer ziemlich zeitnah ein anderes Programm gewählt. So war er mir bisher mehr als alberner Komiker und weniger als großartiger Filmschauspieler bekannt. Begeistert hat mich auch Emma, die 11jährige Schweiger-Tochter.

Trotz der mit sehr viel Humor verfeinerten ernsthaften Handlung finde ich den Film sehr gelungen und bereue nicht, ihn mir am heutigen zweiten Weihnachtstag angesehen zu haben. Für einen familienfreundlichen Unterhaltungsfilm bekommt er von mir als Mensch mit – derzeit zum Glück nur körperlichen – Beeinträchtigungen viereinhalb Sterne. Ich kann nur hoffen, dass der Streifen die öffentliche Debatte über den gesellschaftlichen Umgang mit beeinträchtigten Menschen weiter anfeuert, und dass wir alle uns darauf besinnen, dass die kognitive Leistungsfähigkeit eines Menschens kein Qualitätsmerkmal ist.

Männerhort

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Ich war mindestens ein halbes Jahr nicht mehr im Kino. Viel zu lange. „Männerhort soll gut sein“, hörte ich. Vielleicht hätte ich mehr auf die Formulierung achten sollen. Wenn etwas gut sein soll, heißt das: Mach dir selbst ein Bild. Habe ich gemacht.

Marie und ich, dazu noch zwei Freundinnen aus Hamburg, bekamen vier der zehn letzten Plätze der Vorstellung. Und zum Glück waren diese Plätze in räumlicher Nähe zu den bereits belegten Rollstuhl-Stellplätzen, so dass unsere laufenden Freundinnen uns nicht allzu weit tragen mussten. Genauer gesagt: Nur über eine Stufe und drei Plätze. Ein Mann: „Können die nicht gehen?“ – „Wir sind verliebt, deswegen trage ich sie auf Händen“, war die spontane Antwort. Er hatte vermutlich die beiden Rollstühle nicht gesehen, die nach unserem Sitplatzwechsel im Flur abgestellt wurden. „Hoffentlich sind die nachher noch da und hoffentlich kippt keiner sein Bier drüber“, meinte Marie.

Wie habe ich ihn vermisst, den Geruch nach den Kartoffelchips mit Käsesoße und Oliven. Wie habe ich die umherfliegenden Popcorn, das unter den Sitzen über die Teppiche laufende Bier und die kreischenden Teenies in der letzten Reihe vermisst. Und die Mädchen mit Konfirmandenblase, die während 108 Minuten Film jeweils drei Mal nach draußen mussten. Und natürlich alle in der Mitte der Reihen saßen. Zum Glück war im Kinosaal kein Handyempfang, so dass uns wenigstens das erspart blieb. Der Ton war auch so laut eingestellt, dass ein Unterhalten nicht mehr möglich war, nach immerhin 45 Minuten Werbung konnte der Film ja beginnen. Zum Glück ist noch niemand auf die Idee gekommen, den Film selbst mit den von den Privatsendern bekannten Werbepausen zu unterbrechen.

Die ersten zehn Minuten des Films, in denen die drei Paare vorgestellt wurden, fand ich noch recht lustig. In der Zeit kam auch der bereits im Trailer verratene beste Witz vor: „Im Einkaufscenter shoppen gegen im Internet einkaufen ist wie Sex gegen onanieren.“ – Ja prima. Ansonsten wurden 90 Minuten lang nur Klischees bedient. Immerhin wurden Menschen mit Behinderungen nicht ausgelassen, so dass der Film ein Sternchen von mir bekommt. Die Frage, welche Behinderung vorliege, so dass er mit seinem fetten Porsche auf einem Rolliparkplatz parke, wurde mit „Tourette, du Fo**e. Funktioniert immer wieder.“ beantwortet. Die paralympischen Spiele bekamen auch nochmal ihr Fett weg.

Und ansonsten handelte der Streifen von rülpsenden Typen, die sich einen Heizungskeller teilten, Chips und Bier konsumierten und ihr Refugium gegen einen türkischen Hausmeister verteidigen mussten. Der beruflich erfolgreichste der drei Männer verkaufte Dixi-Toiletten und hatte natürlich auch so eins vor sein Einfamilienhaus gestellt. Klar, dass das nicht nur ein Musterklo war, sondern auch benutzt wurde, und irgendwie auch klar, dass irgendwann der Hausmeister die Dixitoilette unfreiwillig mit seinem Rasenmäher an den Haken nahm und kilometerweit durch die Straßen zog. Und während drinnen weiter gekackt wurde, zerlegte sich die Kabine in ihre Einzelteile und alle Bewohner der Schickimicki-Siedlung konnten sich davon überzeugen, wie der erfolgreichste Toilettenverkäufer der Welt mit heruntergelassener Hose aussieht. Silikon-Vaginas, Sexdating über das Internet, ein Hausmeister, der den Kloverkäufer erst mit einer Flex von seinen Handschellen, anschließend von dem Staubsauger im Schritt befreit und dabei auch noch zufällig gefilmt wird, runden das Bild ab. Und die Frauen? Eine ist schwanger, die zweite ist nicht nur dauershopping sondern auch dauergeil und täuscht irgendwann mit Vitaminpillen einen Suizid vor – und die dritte ist ein Er und sucht nachts halbnackt Nacktschnecken im garteneigenen Biotop.

Ich will nicht zuviel verraten. Mein Fazit: Ich habe vorher zu wenig getrunken. Und ich hatte nach einem halben Jahr Kino-Abstinenz überzogene Erwartungen, die dieser Film leider nicht erfüllen konnte.

Mobbing wie aus dem Buch

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Das war ein Wochenende, das so schnell nicht wiederholt werden muss. Begonnen hatte der Samstag sehr nett mit langem Ausschlafen und abendlichem Kinobesuch. Wir waren mit Nadine, Marie, Cathleen und mir, also vier Rollstuhlfahrerinnen vom Sport, dort und haben uns „Fack Ju Göhte“ reingezogen. Naja, die Feuerzangenbowle hatte mehr Niveau, ist aber nicht so modern und hatte einen anderen Humor. Vergleichen kann man die beiden Filme nicht, trotzdem finde ich, man sollte beide gesehen haben. Die Ideen sind schon nicht schlecht und es werden, was mir ja immer recht gut gefällt, mal wieder jede Menge Klischees bedient.

Anschließend waren wir in der Sternschanze noch etwas essen. Wir sind keiner Demo begegnet und auch nicht verkloppt worden. Dafür aber auf der Straße dem Pärchen, das Marie am 2. Weihnachtstag rausgeworfen hatte, begegnet. Es begann damit, dass der Sprücheklopfer sich bei Marie entschuldigte. Ich muss das nicht lange ausführen, er hat sich von seinem damaligen Verhalten distanziert und Marie hat ihm verziehen. Mir steht es nicht zu, darüber zu urteilen, das ist Maries Ding. Ich habe mir entsprechend keine Gedanken gemacht, wie ich mich verhalten hätte.

Die beiden schlossen sich uns an, setzten sich mit uns an den Tisch und waren zunächst mal ganz nett. Leider blieb das nicht lange so: Keine halbe Stunde war vergangen, da gab es bereits wieder die ersten Sprüche über den Hut eines Gastes, über die Beine der Bedienung, über potentielle Geschmacksverstärker und billige Fette im Essen. „In der Küche arbeiten nur Schwarzarbeiter mit ungewaschenen Händen, die regelmäßig ins Essen spucken.“ – Ich hatte keine Lust, mich schon wieder zu streiten, deshalb habe ich meine Klappe gehalten. Marie und ich waren uns aber bereits einig, dass das vorerst das letzte Mal gewesen ist, dass wir etwas mit den beiden zusammen unternommen haben. Wir verabschiedeten uns und machten uns auf den Weg nach Hause.

Auf dem Rückweg standen wir mit vier Leuten in der S-Bahn. Während Marie und Nadine in eine Richtung fuhren, fuhren Cathleen und ich mit dem Paar in die andere. Er habe sein Auto am Bahnhof stehen, meinte er. Er hoffe, dass sein Auto noch kratzerfrei dort stünde, denn er habe vorhin einen anderen Wagen eingeparkt, der verbotenerweise auf dem Behindertenparkplatz stand. Ich hatte keine Lust, das zu kommentieren. Einen Moment später kamen mehrere Fahrkartenkontrolleure in den Wagen. Ich kramte meinen Ausweis raus, Cathleen ebenfalls, seine Freundin hatte ihren Ausweis vergessen und er meinte plötzlich, er fahre als Begleitperson bei mir mit.

Daraufhin sagte der Kontrolleur: „Junger Mann, das geht nicht. Sie können als jemand, der selbst eine Begleitperson frei mitnehmen kann, nicht selbst Begleitperson sein.“ – Dann gab es eine Diskussion, die von dem Kontrolleur sehr sachlich, von unserem Schwarzfahrer beleidigend geführt wurde. „Wieviele Ausbildungen muss man abgebrochen haben, um Fahrausweise kontrollieren zu dürfen?“

Als erstes wollten sie meine Personalien haben. Da habe ich nur mit dem Kopf geschüttelt: „Ich sehe keinen Grund. Ich habe einen gültigen Fahrausweis, mehr muss ich Ihnen nicht zeigen.“ – „Naja, Sie leisten Beihilfe zu einem Leistungsmissbrauch.“ – „Durch meine Anwesenheit? Das ist nicht Ihr Ernst. Ich habe nicht gesagt, dass er meine Begleitperson ist.“ – „Ist er es denn nicht?“ – „Nein.“ – „Tja, was nun? Ihre Freundin hat Sie hängen gelassen. Das kann ich gut verstehen, auch ohne abgebrochene Ausbildung.“ – „Ich bin nicht die Freundin, wir kennen uns nur vom Sehen.“ – „Du bist ein dummes Arschgesicht. Komm du mir nochmal in meine Nähe.“

Die beiden Schwarzfahrer mussten aussteigen, Cathleen und ich fuhren weiter. Als wir ausstiegen, trafen wir auf eine Horde Fußgänger, die wir ebenfalls vom Training kennen. Sie wollten in eine Cocktailbar und haben uns spontan eingeladen. „Warum eigentlich nicht?“, fragte ich Cathleen. Cathleen klatschte begeistert in die Hände und krähte lachend: „Cathleen und Jule gehen mit einer Horde heißer Typen Cocktails trinken!“ – Na das konnte ja heiter werden…

Während wir darauf warteten, dass sich ein Teil der Gruppe von einer nahe gelegenen Tankstelle noch etwas zum Vorglühen kaufte, sahen wir aus einiger Entfernung die beiden Schwarzfahrer aus der nächsten Bahn aussteigen. Zum Glück achteten die anderen nicht darauf, denn dass die beiden sich nun auch noch anschlossen, darauf hatte ich so gar keine Lust. Die beiden verschwanden in Richtung Parkplatz, dann gingen wir schonmal vor zur Bahn. In 12 Minuten sollte sie kommen, die Tankstellen-Plünderer bekamen eine SMS, sich zu beeilen, und als der Zug einfuhr, kamen sie die Treppe heraufgestürmt. In der Bahn sagten sie dann zu uns: „Wir haben eben eure beiden Kollegen vom Rollisport getroffen. Denen haben sie das Auto abgeschleppt. Jedenfalls ist es nicht mehr da. Er hat geschimpft wie ein Rohrspatz, weil die Polizei wohl seinen Ausweis im Auto übersehen hat.“

Ich antwortete: „Oder er hat jemanden zugeparkt.“ – „Meinst du? Das glaube ich nicht. Jenachdem, wie schnell sie ihr Auto wiederkriegen, kommen sie eventuell noch nach.“

Ich bekam eine SMS von Marie, die wissen wollte, ob wir gut nach Hause gekommen seien. Ich antwortete ihr: „Wir haben es uns gerade anders überlegt und gehen spontan noch ein paar Cocktails trinken. Wir wollen ins …“ – Dann war mein Akku leer, allerdings war Cathleen noch erreichbar. Falls Marie also auch noch nachkommen wollte, wüsste sie ja den Ort und würde es wohl irgendwann bei Cathleen probieren, wenn sie merkt, dass ich nicht mehr antworte beziehungsweise nicht mehr ans Handy gehe.

Die erste halbe Stunde in der Bar war sehr lustig. Ich habe mir erstmal keine alkoholischen Cocktails bestellt, denn das Angebot an alkoholfreien Cocktails war zur Happy Hour verlockender und ich bin auch kein Promillefan. Die Jungs waren allesamt sehr nett, da das Klo im Keller war, trugen sie uns zwischendurch mal nach unten. Sie waren interessiert, wir quatschten viel, es wurde gerade richtig schön, als die beiden Nervensägen auftauchten. Ja, man habe ihm das Auto abgeschleppt, sagte die Polizei, es koste um die 280 € für 24 Stunden. Da er getrunken habe, könne er sein Auto nicht selbst abholen. „Die Bullen haben schon gleich gefragt, ob ich getrunken habe. Ich habe dann gesagt, dann gehe ich eben noch ein wenig feiern und hole das Auto morgen. Ich will an einem Abend ja nicht nur dumme Arschgesichter sehen“, grinste er mich blöde an. Ich grinste blöde zurück und setzte mich an einen anderen Tisch.

An dieser Stelle muss ich mich entscheiden. Entweder einen Cliffhanger oder einen Schnitt. Ene mene muh … Schnitt.

Ich war wieder zu Hause, steckte mein Ladekabel ins Handy und bekam mehrere SMS von Marie, drei oder vier Anrufversuche, eine SMS von Maries Mutter. Marie wollte wissen, ob wir zu viert los sind, obwohl die sich so benommen haben. Und eine Stunde später meinte sie: „Das hast du nicht gerade wirklich zu Cathleen gesagt, oder? Bitte sag, dass das nicht stimmt.“ – „Warum meldest du dich nicht? Bitte ruf mich an. Jetzt sofort. Ich liege hier und heul mir die Seele aus dem Leib.“ – Die nächste SMS kam von ihrer Mutter, noch eine Stunde später: „Jule, hör mal, Marie geht es schlecht. Ich weiß nicht, was bei Euch los ist, es geht mich auch nichts an. Ich möchte mich in Euren Streit auch nicht einmischen, was Inhalte angeht. Aber entweder Cathleen oder Du, eine von Euch verhält sich gerade extrem widerlich und ich lege Dir als in mein Herz geschlossenen Menschen sehr nahe, Dich schnellstmöglich klar zu positionieren. Am besten wirst Du vorher nüchtern.“ – Geschrieben vor einer Stunde, gegen 2.20 Uhr. Ich konnte da jetzt unmöglich anrufen.

Ich rollte zu Cathleen. Sie war schon fast im Bett. Ich zeigte ihr mein Handy und fragte: „Darf ich die SMS sehen, die du an Marie geschrieben hast, während wir in der Cocktailbar waren?“ – „Ich habe keine SMS geschrieben.“ – „Sie bezieht sich auf irgendeine Nachricht und ich möchte wissen, was du da gemacht hast.“ – „Ich habe keine Nachricht geschrieben!“ – „Darf ich dein Handy sehen?“ – „Glaubst du mir nicht?“ – „Doch. Aber ich glaube Marie auch. Und beides passt nicht zusammen. Und da wäre es am einfachsten, das hier an Ort und Stelle zu klären. Du hast mein Handy auch in der Hand.“

Die letzte Nachricht, die Cathleen an Marie geschickt hatte, war tatsächlich: „Wir gehen schon rein!“ – Das war vor der Kinovorstellung. Ich fragte sie: „Hattest du dein Handy die ganze Zeit in der Hand?“ – „In der Tasche, auf dem Schoß oder in der Hand, außerdem kann man das nur mit Passwort entsperren. Da war kein anderer dran, falls du das meinst, auch nicht, als ich auf Klo war. Ich weiß wirklich nicht, was Marie da gelesen haben will.“

Da in dem einen Cocktail Alkohol war, rief ich mir ein Taxi und ließ mich zu Marie bringen. In ihrem Zimmer brannte Licht. Es war wenige Minuten nach vier. Ich schrieb ihr eine SMS: „Ich stehe vor deiner Tür. Ich bin nüchtern und ich habe nichts gemacht. Lediglich mein Akku war leer. Ich weiß nicht, was da schreckliches passiert ist, ich kann mir nicht erklären, was bei dir los ist. Bitte lass mich zu dir.“

Zwei Minuten später ging die Tür auf. Marie sah schrecklich aus. Völlig verheult, blass. Ich wollte sie umarmen, aber sie rollte zurück. „Erst möchte ich wissen, was los ist, vorher fasst du mich nicht mehr an.“

Ich mache noch einen Schnitt. Auch Maries Mutter war wach, kochte uns einen warmen Kakao und setzte sich zu uns in die Küche. Ich las mit Schrecken zwei Mails von Cathleen, in denen sie schrieb, dass ich in der Bar voll über Marie ablästern würde und froh sei, dass Marie nicht dabei wäre. Ob Marie nicht gewusst habe, dass schon während des Essens geplant war, dass wir hinterher mit den beiden noch Cocktails trinken. Ich hätte gesagt, Marie sei zu dumm dazu, sowas zu merken. Und dass Cathleen glaube, der unmögliche Typ wolle was von mir und riskiert für mich die Beziehung zu seiner Freundin. Wir würden unter dem Tisch fummeln und seine Freundin säße daneben. Cathleen hoffe, dass das nur der Alkohol ist, der mich gerade so verändert. Ich hätte außerdem gesagt, ich wäre mit Marie nur befreundet, weil Marie ein Dummchen sei und nicht merke, wenn man sie ausnutzt. Also ein liebenswertes Dummchen. Cathleen fühle sich verpflichtet, Marie das zu erzählen.

Mir rollten die Tränen über die Wangen. Ich konnte vor Fassungslosigkeit kaum einen klaren Gedanken fassen. Mein Herz raste, mein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment wie eine überreife Melone platzen. Cathleens Mails habe ich mir auf ihrem Handy nicht anzeigen lassen. Sollte sie wirklich so dreist sein und mir die SMS präsentieren, während sie per Mail so einen Mist schrieb? Das war wirklich nur schwer zu glauben. Außerdem war es völlig unüblich, dass Cathleen Mails schrieb.

„Warum hast du Cathleen denn nicht angerufen und nach mir verlangt, als du bei mir nicht durchkamst?“, fragte ich sie. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe gedacht, du wirst Gründe haben, wenn du dein Handy ausschaltest. Und ich habe gehofft, dass das alles nicht stimmt und Cathleen lügt.“

Ich kann nicht beweisen, wer, aber irgendwer hat sich, während wir in der Bar saßen, ein Mailkonto bei einem kostenlosen Anbieter völlig neu auf Cathleens Namen eingerichtet und von dort Mails verschickt. Als ich nämlich auf „Eigenschaften“ klickte, wurde mir eine völlig unbekannte Mailadresse angezeigt. In der Vorschau war natürlich Cathleens richtiger Name. Da hat sich also jemand tatsächlich die Mühe gemacht, sich eine falsche Mailadresse einzurichten, um Marie und mich zu mobben. Jemand, der wusste, dass wir vorher zusammen essen waren und der auch wusste, dass mein Handyakku leer war. Ich habe zwar (noch) keine Beweise dafür, aber für mich ist klar, wer dahinter steckt. Ich fragte: „Was hätte der gemacht, wenn du da plötzlich aufgetaucht wärest, um mir ein paar in die Fresse zu hauen? Oder wenn du Cathleen auf dem Handy angerufen hättest?“ – „Bezahlt und schonmal nach Hause gefahren“, sagte Maries Mutter. Das ist Mobbing wie es im Buche steht. Ich denke, da werden wir uns mal anwaltlich beraten lassen.“

Marie konnte nicht oft genug hören, wie lieb ich sie habe. Ich habe ihr eingebläut, dass sie nie wieder so etwas glauben soll, bevor sie es nicht aus meinem Mund live hört. Ich habe, ich finde auch zurecht, ein wenig sauer darauf reagiert, dass sie das überhaupt für möglich gehalten hat. Aber ich muss gestehen, ich weiß nicht, wie ich selbst reagiert hätte. Vermutlich wäre ich tatsächlich vorbei gefahren und hätte sie zur Rede gestellt.

Marie nahm gegen ihren Dröhschädel eine Kopfschmerztablette. „Bitte schlaf heute nacht bei mir“, bat sie mich. Als wir endlich beide im Bett lagen, nahm sie mich in den Arm, drückte mich ganz fest an sich heran und wollte mich nicht mehr loslassen. Als ich ihr den Kopf gestreichelt habe, fing sie wieder an zu weinen. Kurz danach wurde ich darauf aufmerksam, dass ich mein Handy noch nicht lautlos gestellt hatte. Cathleen wollte wissen: „Was ist denn nun mit Marie??? Geht es ihr gut? Ich mache mir Sorgen!“ – So eine Aufregung brauche ich nicht noch einmal.