Flatterviecher

18 Kommentare12.792 Aufrufe

Es wäre unverantwortlich und kein gutes Vorbild, zu Weihnachten zu Susi und Otto zu fahren, auch wenn wir das eigentlich so verabredet hatten. Auch wenn niemand von uns auf einer Corona-Station arbeitet, ist das Risiko, mit Infizierten Kontakt gehabt zu haben, gerade in der Medizin sehr hoch. Und wer von uns kann schon sicher sagen, wen wir dann noch anstecken und wie schwer unsere Verläufe sind? Nein, nein und nochmals nein. Außerdem wird davon abgeraten. Und selbst wenn es erlaubt wäre, man muss nicht alles ausreizen. Bleiben wir also zu Hause.

Unser direkter Nachbar, der sich immer mal wieder aus der Ferne erkundigt, wie es uns geht, und der auch in der Pandemie regelmäßig von uns ein selbstgebackenes Brot bekommt, bimmelte vor vier Tagen an unserer Haustür: „Ich hab einen Weihnachtsbaum für euch. Jetzt, wo ihr doch hier bleibt. Der lachte mich so an, da habe ich ihn spontan mitgenommen. Hauptsächlich für die Lütte [Helena]. Dann kann sie den schmücken und so … macht ihr bestimmt Freude. Jetzt habe ich also zwei auf dem Anhänger, einen für euch, einen für uns. Wenn ihr wollt. Ist aber nur geliehen, und er muss im Eimer bleiben. Der geht am 6. Januar zu meinem Kumpel. Der musste vier Bäume fällen und hat da jetzt eine riesige Lücke, in die er neue Bäume einpflanzen will.“

So haben wir also jetzt einen Weihnachtsbaum auf der Terrasse. Ganz kurzfristig und ungeplant. Aber schön.

Helena, die sich schon darauf gefreut hatte, über die Festtage mindestens einmal bei Susi und Otto im Garten in die Sauna zu dürfen, hat sich in den letzten Monaten ja aus unserer aller Sicht weiterhin recht gut entwickelt. Sehr unglücklich war eine Mobbing-Attacke mehrerer Mitschüler aus der Parallelklasse. Zuerst hatte jemand ihr den Rucksack entwendet, und, nachdem er ihn durchwühlt hatte und offenbar nichts brauchbares finden konnte, außerhalb des Schulgebäudes in den Müllcontainer geworfen. Hinterher kam heraus, dass mehrere Mitschüler Geld-Wetten darauf abgeschlossen hatten, dass der Diebstahl gelingen würde.

Sehr positiv war, dass mehrere Mitschüler aus Helenas Klasse sofort auf ihrer Seite standen, zwei sogar in den Müllcontainer geklettert sind, um den Rucksack wieder rauszuholen. Wir haben Helena einige Tage aus der Schule genommen, bis sie von sich aus wieder am Unterricht teilnehmen wollte. Ausschlaggebend war ein Brief ihrer Klasse, mit dem ihre Mitschülerinnen und Mitschüler sich ausdrücklich zu ihr bekannt haben, und das Angebot zweier Schüler, sich mit Helena auf dem Schulweg zu treffen, um gemeinsam zur Schule zu gehen und im Wiederholungsfall eingreifen zu können.

Sehr negativ war, dass eine weitere Person aus eben dieser Parallelklasse auch noch eine Webseite über Helena ins Internet gestellt hat, ebenfalls, um sie zu mobben. Darauf waren Bilder und Texte gespeichert. Auf einer Fotomontage sitzt ein Affe auf Helenas Schulter und laust ihre Haare. In einem Text heißt es beispielsweise, Helena habe sich während des Geburtsvorgangs so spastisch und krampfhaft an ihrer Mutter festgehalten, dass diese dabei verstorben sei. Und ähnliches. Die Seite ist inzwischen aus dem Netz verschwunden; angeblich wollte der Ersteller nur sein technisches Können unter Beweis stellen und habe an die Folgen für Helena nicht gedacht. Dass das eine Schutzbehauptung ist, ist spätestens klar, seitdem noch über eine weitere Person eine ähnliche Seite im Netz belassen wurde. Ein Anwalt kümmert sich. Von der Schule gab es bisher gefühlt wenig Unterstützung.

Auch wenn wir viel mit Helena darüber gesprochen haben und sie damit oberflächlich recht cool umgeht, hat das was mit ihr gemacht. „Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich gemobbt werde. Als Mensch mit Behinderung bin ich es gewohnt, Zielscheibe dummer Witze zu sein.“ Aber die Beharrlichkeit, mit der mehrere Täter vorgingen, hatte eine neue Qualität, wie ich ihre anders formulierten Gedanken in Worte fasse. Es ist noch lange nicht alles in Ordnung bei ihr und Marie und ich sind sehr glücklich, dass wir so gut miteinander zurecht kommen. Das war ja keineswegs selbstverständlich; und wir wissen auch, dass sich das jederzeit ändern könnte. Auch wenn wir es nicht hoffen.

Ihre ambulante Psychotherapie ist nicht mehr verlängert worden, obwohl sie dort sehr gut gearbeitet hatte. Widerspruch läuft, Susi hat eine sehr fundierte Begründung geschrieben, aber die Mühlen mahlen halt langsam. Vor drei Tagen kam Helena plötzlich weinend aus ihrem Zimmer, nachdem sie mit einer Mitschülerin gechattet hatte. Wir wussten erst gar nicht, was passiert sein könnte, es dauerte auch einen Moment lang, bis sie ihre Gedanken geordnet hatte, dann meinte sie plötzlich: „Stell dir mal vor, bei […] hat sich die Mutter beschwert, dass sie ihr Weihnachtsgeschenk zu billig und zu oberflächlich findet. Vor Weihnachten. Es ist gar keine Überraschung mehr, weil sie das irgendwo gesehen hat. Das ist so schlimm und das tut mir so leid für […], weil sie sich solche Gedanken gemacht hat und es ehrlich gesagt gar nicht so billig war. Und das wühlt sie total auf.“

Auch wenn ich es natürlich nicht mag, wenn Helena so aufgewühlt ist, so rührt mich der Gedanke irgendwie, dass sich ihre Mitschülerin ausgerechnet Helena ausgesucht hat, um ihr Herz auszuschütten. Wir hatten ein gutes Gespräch über Aufmerksamkeiten. Über Freude machen, über Schleimerei, über Verselbständigung des Themas, über Konsumverhalten – allerdings ohne großartigen Widerspruch durch Helena. Wir haben schon immer die weihnachtliche Geschenke-Kurve mutwillig abgeflacht und alle nötigen Anschaffungen auf Zeiten abseits des Weihnachtsfestes gelegt. Wenn Helena neue Schuhe oder eine neue Hose braucht, gibt es die bewusst nicht zu Weihnachten. Nun ist es bei uns mit dem Geld auch nicht so knapp, dass wir neue Schuhe nur vom Weihnachtsgeld der Oma kaufen könnten; aber selbst wenn, fände ich es erst recht nicht gut, diesen kommerziellen Radau dadurch zu unterstützen. Sondern dann hätte ich vermutlich mit der Oma einen Deal, dem Kind die Schuhe anlasslos zu schenken. Und zu Weihnachten eine Kleinigkeit. Zu sehr nervt mich dieses „weiter, schneller, besser“ unter dem Weihnachtsbaum.

Susi und Otto schenken „ihrer Helena“ sehr gerne etwas zu Weihnachten oder zum Geburtstag und Helenas „materielles Sachvermögen“ profitiert sehr davon. Wobei man dazu sagen muss, dass Helena so gut wie nie materielle Wünsche hat und eigentlich sehr bescheiden ist. Umso mehr schätzt sie diese Geschenke. Susi und Otto sprechen es vorher mit uns (und beiläufig meistens auch mit Helena) ab, geben dann lieber mehr Geld für die Qualität aus, würden aber niemals irgendeinen Quatsch schenken. Beispiel Trampolin: Helena nutzt es auch nach einem Jahr fast täglich. Und unsere Nachbarn und wir profitieren davon, dass es eine gute Qualität hat, weil es quasi lautlos ist. Da klackert, scheppert, klimpert, quietscht und knarzt absolut nichts.

Heute fiel mir Helena um den Hals, als ich nach Hause kam. Ich dachte erst, es sei eine ungewöhnlich herzliche Begrüßung, aber dann merkte ich, dass sie schon wieder weinte. Inzwischen erzählt sie sehr schnell, was sie bedrückt. Was völlig neu ist, und deswegen erwähnte ich die derzeit beendete pausierte Psychotherapie, dass sie mit uns über ihre früheren Pflegeeltern spricht. „Jule, dieses Weihnachtsgedöns triggert mich wahnsinnig. Jetzt auch noch dieser Baum auf der Terrasse. Er ist schön, und es sind viele schöne Gefühle. Aber ich muss auch immer an viele doofe Sachen denken. Was essen wir eigentlich am 1. Weihnachtstag?“ – „Das hast du soeben resettet, wenn es irgendein Essen gibt, was dich aufwühlt.“ – „Ich möchte kein Flatterviech.“ – „Das hatten wir doch aber sowieso nicht vor.“ – „Ich weiß. Aber weißt du, warum? Bei meinen früheren Pflegeeltern gab es am 1. Weihnachtstag immer Gans. Und am 2. Weihnachtstag eine Suppe mit den Resten. Ich bekam am 1. Weihnachtstag immer als Letzte irgendwas Fettes, Ekliges auf den Teller, was die anderen nicht wollten, und was ich nie gegessen habe. Immer mit dem hämischen Kommentar, dass die guten Stücke leider schon alle weg sind. Einmal habe ich mir das so zu Herzen genommen, dass mir richtig übel wurde und mir das danach alles wieder hochgekommen ist. Später habe ich gehört, wie mein Pflegevater zu meiner Pflegemutter vor ihren beiden Kindern in der Küche gesagt hat: Sie weiß solche Kostbarkeiten doch gar nicht zu schätzen. Gans ist eindeutig zu gut für Helena.“

„Was?! Das ist so schlimm, was du durchgemacht hast. Die waren so scheußlich zu dir. Aber hör mal: Es gibt keine Gans zu Weihnachten. Auch kein anderes Tier. Wir wollten doch diese Mini-Burger zusammen machen. So richtig mit Brötchen selbst backen und Salate und so … oder wollen wir lieber gar nichts kochen und uns, wenn wir Hunger haben, ne Pizza auftauen? Ich weiß, dass das immer wieder Flashbacks gibt, gerade wenn es vergleichbare Umstände sind, wie jetzt zur Weihnachtszeit. Aber du kannst Weihnachten nicht abschaffen, sondern du kannst es nur anders machen und deiner Psyche so zeigen, was gut ist und was scheußlich war. Und ich glaube, zu dritt können wir das schaffen. Gerade dieses Jahr.“

„Mein Kopf weiß das ja auch. Aber weißt du, was es für ein verstörendes Gefühl war, als ich zum ersten Mal hier gegessen habe und du zu mir gesagt hast: Fang an, füll dir was auf!? Ich weiß inzwischen, dass das nicht normal war, wie meine früheren Pflegeeltern das gemacht haben. Herr [Therapeut] hat gesagt, das macht man mit Hunden so, wenn es Probleme mit der Rangordnung gibt. Dann fressen die zum Schluss. Die Message dahinter ist klar: Du bist die Unwichtigste hier. Jule, ich weiß das, und ich bin jeden Tag aufs Neue glücklich, dass ich hier bin und dass ich eine neue Chance bekommen habe. Aber meine Psyche glaubt es bis heute noch nicht und klickt ganz plötzlich random irgendwelche alten Videos rein.“ – „Und das Video-Fenster kriegst du dann so schnell nicht zu, oder?“ – „Es ist wie im Netz: Du bist mittendrin und plötzlich zählt irgendwo ein Countdown runter, noch 6 Sekunden, 5, 4, 3, 2, 1 und dann poppt irgendeine Scheiße auf, volle Lautstärke. Die Maus ist gerade nicht in der Nähe und klemmt immer in solchen Situationen, und bevor du wenigstens den Ton abgestellt hast, weiß das ganze Haus, was du gerade machst. Aber klar, die Idee mit den selbstgemachten Mini-Burgern ist gut und ich war ja auch spontan dafür.“

Kurz danach hat eine Freundin sie angerufen und wollte mit ihr über irgendwas mit Pferden sprechen. Zehn Minuten später war Helenas Lachen schon wieder durch das ganze Haus zu hören. Es ist mir bis heute unbegreiflich, wie diese Eltern an Helena oder überhaupt an ein Pflegekind gekommen sind. Vermutlich können sie gut etwas vorspielen. Aber es wird mir unbegreiflich bleiben, warum jemand, wenn die Chemie nicht stimmt, sein Pflegekind nicht abgibt, sondern es psychisch quält. Es bleibt mir wirklich ein Rätsel. Und ich möchte das vermutlich auch gar nicht verstehen.

Marmelade

7 Kommentare5.195 Aufrufe

Eigentlich wollte ich heute ganz viel Positives schreiben, einige schöne Ostseefotos posten … nee. Ich warne schonmal vor: Wer ohnehin schon genervt ist, sollte sich vielleicht vorher und rechtzeitig eine Tischkante zum Reinbeißen suchen. Ich bin auch Tage danach noch schwer genervt. Marie auch. Helena sowieso. Es macht einfach nur fassungslos.

Helena kam am Freitag vom Einkaufen zurück. Es war ihr irgendwie wichtig, das alleine zu machen. Also zum Wochenende noch alles das zu holen, was wir nicht vorher einkaufen konnten. Das Meiste hatten wir schon mit dem Auto geholt, aber Frisches und Vergessenes fehlte noch. Zudem hatten sich Susi und Otto kurzfristig angekündigt. Helena hatte sich einen großen Rucksack geschnappt, ihn an ihren Rolli gehängt und war losgeflitzt.

Sie heulte Rotz und Wasser. Sie war richtig außer sich. Was ich einerseits gut fand, weil sie sich früher auch schnell gleichgültig und distanziert gegeben hat; andererseits möchte ich natürlich nicht, dass es ihr so schlecht geht. „So eine verfluchte Scheiße“, schimpfte sie. Ich bat ihr meinen Schoß an. Sie kam sofort, setzte sich auf mich und drückte ihr Gesicht gegen meine Schulter. Ich streichelte ihr erstmal den Rücken. Fragte nicht, was los war. Sie würde das ohnehin gleich erzählen, wenn sie sich etwas beruhigt hatte.

Ich machte mir so meine Gedanken. Geld vergessen? Dann würde sie nicht so ausrasten. Sondern zurückkommen, einmal erwähnen, dass sie verplant ist, und wieder abhauen. Es musste irgendwas vorgefallen sein. Hatte sie jemand geärgert? Bevor ich weiter überlegen konnte, platzte es aus ihr heraus: „Ich hab voll den Scheiß gemacht! Und bin bei [Supermarkt] rausgeflogen. Die waren so gemein zu mir. Ich habe was runtergeschmissen und dann war da einer vom Personal, der hat erst über mich gelacht und anschließend gesagt, ich soll den Laden verlassen, bevor noch mehr passiert. Ich bin eine Zumutung.“

„Was?! Das hat er gesagt?“ – „Ja.“ – „Das ist ja unglaublich.“ – „Das ist nicht gelogen!“ – „Ich habe es unglücklich ausgedrückt. Ich meinte nicht, dass ich dir nicht glaube, sondern dass das ein unglaublich schlimmes Verhalten ist. Und er hat wirklich darüber gelacht, dass dir was runtergefallen ist?“ – „Nein. Ich hab ihn gefragt, ob er mir ein Glas von oben aus dem Regal holen kann, weil das da so bescheuert gestapelt war. Und da meinte er, ich soll doch das von unten nehmen und ist weggegangen. Aber das war was anderes und das wollte ich nicht. Und dann hab ich mich hingestellt und mich festgehalten und dann kam ich auch da oben ran. Ich hab aber nicht gesehen, dass in der Reihe dahinter auch noch Gläser oben drauf gestapelt waren. Und die kamen dann mit runter. Wie eine Lawine. Ich hab vor Schreck die Hände hochgenommen, konnte mich nicht mehr halten, bin umgekippt, hab mich da voll auf die Fresse gelegt, der ganze Mist ist auf mich drauf gefallen. Und dann kam der Mitarbeiter wieder um die Ecke und hat mich ausgelacht. Und dann bin ich wieder aufgestanden, ein Mann hat mir seine Hand gegeben und gesagt, ich soll mir nichts draus machen, der Supermarkt ist dagegen versichert. Und dann bin ich raus. Und draußen hab ich dann gemerkt, dass ich mich dabei dem Sturz auch noch angepinkelt habe, aber wahrscheinlich hat das in der schwarzen Leggings niemand gesehen.“

„Und dann setzt du dich mit deinem nassen Po auf meinen Schoß?“ – „Ja, das ist jetzt erstmal nicht so wichtig“, weinte sie. Das hat sie also so entschieden. Ich versuchte, sie zu beruhigen: „Helena, hör mir mal zu: Wenn du was kaputt machst, dann können wir das entweder so bezahlen oder wir haben dafür eine Versicherung. Das kann und darf jedem passieren. Das ist überhaupt kein Problem, solange du nichts mutwillig kaputt machst.“ – „War es nicht.“ – „Ich weiß. Und den Rest: Ich fahre da jetzt hin und mach den Typen rund. So geht niemand mit dir um, schon gar keiner, der unser Geld damit verdient. Möchtest du mitkommen oder soll ich alleine fahren?“ – „Ich komme mit. Jetzt sofort?“ – „Erst was Trockenes anziehen. Und dann fahren wir mit unseren Handbikes hin?“ – „Ja. Und du reißt ihm so richtig den Ar*** auf?“ – „So richtig. Sowas geht nicht.“ – Helena holte sich ein Taschentuch, putzte sich die Nase und lächelte vorsichtig.

Marie war arbeiten. Ich hätte sie gerne als moralische Unterstützung dabei gehabt. Wenn das jetzt der Schicht- oder gar Marktleiter war … aber das konnte ich mir nicht vorstellen. Helena und ich kamen in den Markt und steuerten direkt auf eine Situation zu, die dem ganzen Vorfall noch eine Krone aufsetzte. Offensichtlich derjenige, der sich eben schon so unmöglich benommen hatte, ein Jugendlicher, geschätzt 16 Jahre alt, stand mit zwei gleichalten Jungs an einem Getränkeregal und spielte offenbar die Szene mit Helena nach. Die Füße und Knie nach innen gedreht und die Arme wie zur Balance auf einem Drahtseil ausgebreitet, stolperte er durch den Gang und sagte mit verstellter Stimme: „Kannst du mir mal einen runterholen? Warte, ich machs mir selbst.“ Und dann nahm er drei Dosen und begann damit zu jonglieren. Helena guckte ihn mit großen Augen an, er hatte uns noch nicht bemerkt. Ich hatte genug gesehen, fuhr so dicht an ihn heran, dass er bei nächster Bewegung gegen meinen Rollstuhl stoßen würde. Er fing die Dosen auf und ich sagte: „Ich hoffe, du findest neben deinen Privatvorstellungen noch Zeit, mir zu sagen, wo dein Chef sich gerade aufhält.“

Er sah mich, sah Helena, und konnte sich wohl den Rest zusammenreimen. „Dahinten irgendwo“, sagte er kleinlaut. Ich setzte meine ernsteste Miene auf und sagte: „Hättest du dann vielleicht die Güte, mich zu ihm zu bringen?“ – Er trottete vorweg. Der Chef saß in seinem Büro, das sich hinter einer Schiebetür mit ein paar sich anschließenden Stufen befand. Womit er beschäftigt war, konnte ich nicht sehen, aber er kam gleich hinaus. Der merkwürdige Mitarbeiter ging in die Richtung seiner Getränke zurück. „Wie kann ich helfen?“, fragte er mich. Ich antwortete: „Ich bin mit Helena zurückgekommen, um den Schaden von vorhin zu regulieren. Da sind wohl ein paar Marmeladengläser zu Bruch gegangen.“ – „Achso. Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber das wäre nicht nötig gewesen. Das macht ja niemand mit Absicht.“ – „Achso. Also hat sich die Lage wieder beruhigt?“ – „Ich habe das gar nicht mitbekommen, aber hier fällt so viel runter am Tag, das sammeln wir gleich wieder auf und dann ist gut.“ – „Also kein Hausverbot?“ – „Nein, um Himmels Willen. Dann hätten wir ja bald keine Kunden mehr.“

„Ihr Mitarbeiter hat Helena des Ladens verwiesen.“ – „Wann? Heute?“ – „Ja, vor einer Stunde etwa. Der Kollege, der uns gerade zu Ihnen geführt hat. Er meinte, Helenas Anwesenheit sei eine Zumutung für dieses Geschäft.“ – „Nein. Das hat er gesagt?“ – Helena antwortete: „Ja. Und er hat sich über mich lustig gemacht. Weil ich nicht an die Gläser rangekommen bin und mir das alles auf den Kopf gefallen ist.“ – „Haben Sie sich verletzt?“ – „Nein.“ – „Wenn das für Sie zu hoch ist, können Sie auch immer jemanden fragen. Wir helfen Ihnen gerne.“ – Das war die nächste Steilvorlage: „Ihr Kollege soll das abgelehnt und Helena auf ein anderes Produkt unten im Regal verwiesen haben.“ – „Ich werde wahnsinnig“, seufzte der Marktleiter und ging in sein Büro. Der Mitarbeiter wurde ausgerufen und kam kurz danach angetrottet. Inzwischen mit hochroten Ohren.

Eins rechne ich ihm jedoch an. Er sagte: „Chef, kann ich Sie mal kurz unter vier Augen sprechen? Ich habe Mist gebaut.“ – Der Chef sagte: „Ich bin gleich wieder da“, und verschwand mit ihm im Büro. Nach fünf Minuten ging die Schiebetür auf. Der junge Mann kam tränenüberströmt raus, ging auf Helena zu und streckte ihr die Hand hin. „Ich möchte mich entschuldigen“, sagte er. Helena drehte sich weg und sagte: „Nee. Das können Sie sich abschminken. Sie beleidigen mich bis auf die Knochen und jetzt haben Sie Angst um den Job? Vergessen Sie es.“ – „Dann eben nicht“, sagte er und verschwand. Ich musste mich zusammenreißen, nicht mit dem Kopf zu schütteln: Dann eben nicht – genau.

Der Marktleiter kam hinterher und sagte leise: „Herr […] ist eine Aushilfe und packt einmal pro Woche Getränke auf. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, und ich darf im Einzelnen nicht darüber reden, nur soviel: Ich beschäftige ihn, weil ich ihm eine Chance geben möchte. Wie gesagt, Einzelheiten darf ich nicht sagen. Ich habe gewusst, dass das nicht einfach sein wird, als er hier angefangen hat, aber ich vermute, dass er zu Hause … ach, ich weiß es nicht, warum er sowas tut. Es geht auf jeden Fall nicht. Ich hatte ihn zuerst nur im Lager, an zwei Nachmittagen, wenn wir Ware bekommen haben, und dort hatte er mir viel Grund zu Optimismus gegeben, so dass ich ihn zuletzt auch im Laden beschäftigt habe. Das war offensichtlich ein Fehler. Mein Fehler. Ich weiß noch nicht, ob ich ihn jetzt wieder ins Lager zurückversetze oder ob ich mich ganz von ihm trenne. Ich bin wirklich sprachlos. Helena, nehmen Sie denn meine Entschuldigung an?“, sagte er und streckte ihr die Hand aus. Sie guckte mich an, dann gab sie ihm die Hand.

Irgendwas im Rahmen einer Bewährung? Irgendwelche Sozialstunden? Wobei Supermarkt ja nun weniger mit Sozialer Arbeit zu tun hat. Oder schon woanders rausgeflogen. Egal. Ja, ich bin unbedingt dafür, Menschen eine zweite Chance zu geben. Aber ich bin auch der Meinung, dass so ein Verhalten sanktioniert werden muss. Helena hat das mit ihren 13 Jahren schon sehr richtig gesehen, dass er wohl eher deshalb plötzlich so kleinlaut war, weil er Angst um seinen Job hatte, als dass er Reue zeigte. So habe ich das jedenfalls auch wahrgenommen.

Wir waren gerade mal zwei Stunden wieder zu Hause, da klingelte ein Nachbar aus der Parallelstraße an unserer Tür. Ich öffnete. „Ich habe hier was für Helena angenommen. Da kam eben ein Taxi, die Fahrerin stieg aus und fragte, ob ich wüsste, wo hier in der Straße eine Helena im Rollstuhl wohnt. Ich habe es an mich genommen und gesagt, ich liefere es ab. Ich wollte die genaue Adresse nicht rausgeben. Man weiß ja nie.“ – Es war ein in Folie eingewickelter Korb mit jeder Menge Süßigkeiten, Kerzen, Shampoo und in der Mitte einem kleinen Plüsch-Affen. An dem Plüsch-Affen war ein Briefumschlag befestigt, darin eine Postkarte und ein Einkaufsgutschein über 30 Euro. Auf der Postkarte stand: „Liebe Helena, ich wünsche mir, dass Sie trotz allem meine Kundin bleiben, und bitte Sie noch einmal aufrichtig um Entschuldigung für das, was Sie heute in meinem Geschäft erleben mussten. Ich verspreche Ihnen, dass das niemals wieder vorkommt.“

Vom Marktleiter unterschrieben. Ich weiß zwar noch nicht, woher der unsere (ungefähre) Adresse hat, allerdings kennt in einem Dorf immer irgendjemand irgendwen. Wie furchtbar. Ich hoffe nur, dass der doofe Mitarbeiter jetzt nicht auch weiß, wo Helena wohnt. Das macht mir etwas Angst. Immerhin wusste keiner, dass Helena Diabetikerin ist und deshalb die ganzen Süßigkeiten wohl noch drei Jahre vorhalten werden.

Ich vermute sehr stark, dass dieser junge Mitarbeiter sehr viel Dominanz zu Hause erlebt hat. Und sich derzeit nur cool fühlen kann, wenn er andere Menschen dominiert. Ich halte das für sehr gefährlich und würde wohlwollend empfehlen, dem Jungen nicht nur mit einem Arbeitsplatz im Lager helfen zu wollen, sondern ihm mal professionelle Hilfe zukommen zu lassen.

Und Helena? Sah den Korb und fragte zuerst: „Woher haben die unsere Adresse?“ – Ich zuckte mit den Schultern. Und dann: „Ist das alles für mich? Okay, das scheint dem Chef dann aber richtig peinlich gewesen zu sein. Aber richtig so. Ist dir aufgefallen, dass er mich gesiezt hat? Das war richtig komisch. Aber damit ist das jetzt dann auch erledigt. Echt, Jule, als du angefangen hast, wir wollen den Schaden bezahlen, wäre ich fast geplatzt. Aber dann hab auch ich Dussel den Trick verstanden. Jedenfalls danke, Jule.“

Ich bekam einen Kuss auf die Wange. Das war das allererste Mal, dass sie sich bei mir für etwas direkt bedankt hat. Ich sag ja: Unsere Große wird erwachsen.

Elternabend

13 Kommentare5.223 Aufrufe

Ich war kürzlich beim Elternabend. Ich hätte nicht vermutet, dass ich so schnell einmal selbst zum Elternabend gehen würde. Der letzte fiel krankheitsbedingt komplett aus, zum allerersten dieses Schuljahres war Marie dort, da waren allerdings nur fünf weitere Personen vor Ort. Dieses Mal musste Marie arbeiten, also war ich vor Ort. Helena war spürbar verunsichert an dem Nachmittag davor, ich fragte sie noch, ob wir vorher noch über irgendwas reden wollen, aber sie sagte: „Das Schwierige ist, dass ich nie so genau weiß, ob ich alles richtig gemacht habe.“

Ich erklärte ihr dann nochmal, dass sie nicht alles richtig machen muss. Sondern dass sie ein gutes Gewissen und ein gutes Gefühl mit dem haben sollte, was sie tut. Und falls das einmal nicht so ist, sollte sie darüber sprechen und bereit sein, für die Zukunft etwas daran zu ändern. Sie sagte: „Aber manchmal denke ich, es ist alles gut, und dann kommt ganz plötzlich irgendwas auf mich zu, was doch nicht so gut war.“ – „Dass immer alles gut ist, kann dir niemand garantieren. Aber wichtig ist, und das sage ich gerne nochmal, dass du mit dem, was du tust, ein gutes Gefühl hast. Vertraue auf deinen Bauch, höre auf dein Herz, schalte deinen Verstand ein und sei offen für Kritik.“

Der Elternabend selbst war inhaltlich überschaubar. Es steht noch eine Klassenfahrt an. Fünf Tage wollen sie nach Bayern. Ein männliches Elternteil fragte tatsächlich, ob Helena nicht zur Klassenfahrt ihren Rollstuhl zu Hause lassen könnte, weil das doch die Möglichkeiten aller sehr einschränke. Ich musste darauf aber gar nicht reagieren, vor mir platzten schon drei anderen Müttern die Krägen. „Das ist doch nicht Ihr Ernst“, „Habe ich das wirklich gerade gehört?“ und irgendwas mit „Problem erkannt“ riefen sie durcheinander. Der Vater legte noch einmal nach: „Bevor sich alle so aufregen, möchte ich noch die Information liefern, dass das Kind zeitweilig auch ohne Rollstuhl zurecht kommt und damit offensichtlich steuern kann, wann es ihn braucht und wann nicht. Es wäre also für alle anderen 22 Schüler von Vorteil, wenn das eine Kind den während der Klassenfahrt mal nicht bräuchte und im Gegenzug alle 23 Kinder auf Berge klettern, Sommerrodelbahnen herabbrausen, ins Schwimmbad gehen und Sessellift fahren können, statt langweilige Museen anzuschauen und Abende in der Oper zu verbringen.“

Eine der beiden Lehrerinnen meldete sich zu Wort: „Ich bin entsetzt, einen solchen inakzeptablen Vorschlag unterbreitet zu bekommen. Noch dazu in Gegenwart der Pflegemutter, die auch noch selbst im Rollstuhl sitzt.“ – Nun lenkte er vom Thema ab: „Soweit ich weiß, gibt es doch zwei Pflegemütter. Und wenn ich mich richtig erinnere, saß die andere doch auch im Rollstuhl.“ – Ich konnte mich nicht mehr zurück halten und sagte: „Na, das ist ja ein Ding.“ – „Finden Sie auch, oder? Aber ich sage ja gar nichts, jede Zeit bringt ihre Veränderungen, und heute dürfen eben auch zwei Frauen zusammenleben und eigene Kinder haben.“

Okay. Er ist doof und will provozieren. Also lass ich das unkommentiert. Erschreckend finde ich, was solche Haltung der Eltern bei den Kindern auslöst. Oder anders: Kein Wunder, wenn Kinder mobben, wenn die Eltern ihnen eine derartige Intoleranz vorleben. Weil ich nicht antwortete, ergriff ein anderer Vater das Wort. Er sagte: „Selbst meine Eltern hatten noch was gegen Homosexualität. Sie haben die Musik von Elton John gerne gehört, bis sie herausgefunden haben, dass er homosexuell ist. Dann mochten sie ihn nicht mehr, weil er angeblich seine Songs mit schwuler Feder geschrieben hatte. Als meine Eltern so redeten, war mir klar, dass ich eine andere Generation bin. Aber dass Sie jetzt solche Ansichten vertreten, kann ich nicht verstehen. Ich habe nichts gegen Homosexualität und ich finde es toll, dass die beiden Frauen trotz ihrer Behinderung ein Kind aufgenommen haben, das offenbar selbst eine Behinderung hat. Darf ich fragen, wie lange Sie ein Paar sind?“

Ich sagte: „Wir sind seit Jahren sehr eng befreundet. Aber wir haben keine Beziehung miteinander.“ – Darauf fängt doch der Vater, der gerne 23 Kinder beim Bergsteigen hätte, zu lachen an und sagt: „Also die Lüge ist ja inzwischen auch ein legitimes Mittel, sich zu verteidigen.“

Was soll ich darauf erwidern? Die Lehrerin fährt mit ihrem Gesprächsprogramm fort, der Vater grinst sich einen und geht zwischenzeitlich drei oder vier Mal mit dem klingelnden Handy vor die Tür … ich habe selten zuvor jemanden so unsympathisch gefunden.

Am Ende sagte die Lehrerin, dass das Programm, das für die Klassenfahrt geplant sei, mit der Klasse und auch mit Helena besprochen worden sei und Helena offenbar sehr genau wisse, was sie könne und was nicht. Allerdings habe die Lehrerin Bedenken wegen des Diabetes und wünsche sich, dass eine Begleitperson, zum Beispiel Marie oder ich, mitfahren würden. Ich habe allerdings gesagt, dass ich davon ausgehe, dass sie die Woche ohne Hilfe auskommen wird und ich jederzeit bei Problemen erreichbar bin. Wir haben, seit die neue Pumpe da ist und seit sich das einigermaßen eingespielt hat, keine einzige Situation mehr gehabt, in der Marie oder ich irgendetwas unternehmen mussten. Wenn was zu unternehmen war, hat Helena das selbständig und richtig entschieden. Zwar meistens in Abstimmung mit Marie oder mir, aber es gab keine Situation, die Helena, wenn sie auf sich gestellt ist, nicht alleine bewältigt hätte. Von daher möchte ich eigentlich ganz bewusst darauf verzichten, sie zu begleiten.

Spannend fand ich dann noch, dass offenbar vor rund drei Wochen eine Gruppe aus vier oder fünf Schülern ein Video herausgebracht haben soll, in dem es um das Körpergewicht eines wohl übergewichtigen Schülers gehen soll. Es soll damit begonnen haben, dass die Mutter bei der Geburt gestorben sei, weil das Kind zu fett war. Die Eltern dieser Schüler seien mit der Schule im Gespräch, man wolle aber nunmehr alle informieren. Helena hat mir davon gar nichts erzählt. Wie sich später herausstellte, wusste sie davon gar nichts. Vielleicht müssen Marie und ich das positiv sehen, weil sie offenbar nicht mit den falschen Leuten zusammen war. Mich erschreckt aber einmal mehr, welche Übergriffigkeit unter den Jugendlichen stattfindet und scheinbar an der Tagesordnung ist.

Eulenspiegel

23 Kommentare4.532 Aufrufe

„Quäle stets ein Tier mit Schmerz, denn es fühlt wie du den Scherz.“ – Diesen verballhornten Spruch hörte ich kürzlich von Jugendlichen, die versuchten, im Bus eine Fliege mit einem Feuerzeug anzukokeln. Der Busfahrer hat die Jugendlichen auf offener Strecke rausgesetzt, ob wegen der Tierquälerei oder aus Sorge, dass demnächst sein Bus brennt, weiß ich nicht. Vielleicht auch aus beiden Gründen.

Keinen Brummer, sondern einen lebendigen Hund hat der Überlieferung nach Till Eulenspiegel, der vor 700 Jahren lebte und in Mölln in Schleswig-Holstein senkrecht begraben sein soll, beim Bier brauen in einen heißen Kessel geworfen. Der Hund hieß Hopf, und der Bierbrauer hatte Eulenspiegel gebeten, Hopfen in die Braupfanne zu werfen. „Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt“, soll es damals geheißen haben. Eulenspiegel sollte lustig sein und nicht nur Majestät haben darüber gelacht: Der Spruch ist noch heute an der Tagesordnung.

Ich kam kürzlich in den Genuss, die allererste Folge einer Vorabendserie sehen zu dürfen, deren aktuelle Folgen noch heute im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt werden. Als sie gedreht wurde, waren die Charaktere überrascht, dass künftig auch Frauen im Streifendienst eingesetzt werden sollen. Kinder, wie die Zeit vergeht: Meine Halbschwester Emma ist in diesem Jahr zur Oberkommissarin befördert worden und hat damit einen höheren Dienstrang als alle Charaktere dieser Serie vor dreißig Jahren. Wertschätzung und respektvoller Umgang hätten enorm zugenommen, sagt sie. Die älteren Kollegen erzählten oft, dass es früher sogar Prügeleien unter den Beamten gegeben hätte, das Klima sehr viel rauer war. Schimpfworte wie „Arschloch“, „Neger“ und „Penner“ seien an der Tagesordnung gewesen. Das sei heute undenkbar und würde sofort sanktioniert.

Trotzdem gibt es Ausgrenzung und Dummheit noch immer. Es gibt noch immer Menschen, die glauben, Frauen sind nur dumm und können gut backen. Und Kinder gebären. Okay, Männer können meistens weder backen noch Kinder gebären. Irgendwie müssen wir uns ja unterscheiden. Homosexuelle sind eklig. Behinderte sowieso. Vor allem, wenn sie sabbern, brummen und inkontinent sind. Dass mir jemand nicht die Hand gibt, weil er denkt, er könne sich anstecken, kommt auch in 2019 noch vor. Nicht täglich. Und nicht häufig. Aber so etwas gibt es. Und ich muss weiter dagegen kämpfen.

Ich kämpfe. Zum Beispiel mit einem Blog, der über 7 Millionen Mal aufgerufen wurde. Aber ich kämpfe zum Glück nicht alleine gegen die Dummheit.

Anlässlich meiner doch rund umfangreichen Schilderungen über das Krankenkassen-Gutachter-Drama von Helena hatte ich einen recht umfangreichen Dialog mit einem Kumpel, den ich seit meiner Reha, also seit nun schon zehn Jahren kenne. Höheres Tier in einer Sozialbehörde, begleitet ehrenamtlich gerade eine junge Frau, die seit über einem Jahr versucht, einen Schwerbehindertenausweis zu bekommen. Die Frau hat, wie Helena, eine leichte Cerebralparese, also eine Hirnschädigung, die die Motorik (nicht die geistige Leistungsfähigkeit, die junge Dame macht gerade Abitur) einschränkt. Sie benutzt für längere Strecken (so ab 700 Metern) ebenfalls einen Rollstuhl, spricht ein wenig undeutlich und hat erhebliche Schwierigkeiten mit der Feinmotorik, vor allem der der Hände. Sie schreibt in der Schule beispielsweise am Laptop. Ich selbst kenne die Frau nicht persönlich.

Hinzu kommen angeborene Fehlbildungen beider Hüftgelenke und eine Überreaktion auf Wasser: Sobald sie duscht, bilden sich Quaddeln am ganzen Körper. Außerdem reagiert sie allergisch auf Insektengift-Proteine, muss also ständig hochpotente Medikamente injektionsfertig mitführen, falls sie mal von einer Wespe gestochen wird und der Notarzt nicht rechtzeitig kommt.

Behinderung? Nö. Fehlanzeige. Das Versorgungsamt sagt: Das reicht nicht. Sie ist nicht so stark eingeschränkt, dass ihr Zustand in erheblichem Maße von dem eines gesunden Menschen ihres Lebensalters abweicht. Schließlich hat auch nur ihr Kinderarzt was dazu attestiert und kein Neurologe. Unser Haus-Gutachter kommt nach Aktenlage zu dem Ergebnis, es liege auch keine Hirnschädigung, sondern eine Entwicklungsretadierung vor.

Ich weiß noch, wie es mir ging, als mir mitgeteilt wurde, dass ich ein Vollpfosten bin. Wobei man mir ja eher gutmütig die Dinge attestiert hatte, die wirklich vorlagen. Retadiert war ich noch nie. Nicht mal auf dem Papier. Krüppel halt. Aber alleine diese Tatsache schwarz auf weiß zu lesen, hat mir damals schon gereicht.

Die junge Frau legt also Widerspruch ein und lässt sich brandaktuell von einer spezialisierten Kinderneurologin noch einmal von Kopf bis Fuß durchchecken. Legt ihr Hirn in eine bildgebende magnetische Röhre. Mit glasklaren Ergebnissen. Nix retadiert, sondern eine waschechte Cerebralparese. Reichte dem Amt wieder nicht. Dieses Mal sei die Abweichung zwischen dem (oberflächlichen und auf den Alltag bezogenen) Bericht des Kinderarztes und dem (fachlich bis in die tiefste Ebene abgegrenzten) Bericht der Fachärztin zu groß, von daher sei das alles unplausibel. Man setze alles auf Null und beauftrage einen externen Gutachter, einen niedergelassenen Neurologen, damit, das alles einzuschätzen.

Die junge Dame holt sich also schulfrei, muss einen handgeschriebenen Lebenslauf schreiben (kenne ich irgendwoher), taucht dort pünktlich auf und fährt, dem Rat ihres Rechtsanwalts folgend, natürlich nicht alleine dorthin, sondern nimmt eine Vertrauensperson mit. Bevor der Termin starten kann, kommt der Gutachter ins Wartezimmer und blubbert die junge Frau an: Schön, dass Sie eine Begleitperson mitgenommen haben, die bleibt aber draußen. Die Begutachtung führe ich nur unter vier Augen durch. Als die junge Frau darauf besteht, dass die Vertrauensperson sich bei der Untersuchung still in eine Ecke setzt und zuschaut, verweigert der Gutachter die Untersuchung und kündigt an, ihr im Gutachten eine „mangelnde Kompromissbereitschaft“ zu attestieren. Was die Behörde später als mangelnde Mitwirkung auslegen werde, mit dem Ergebnis, dass es weder einen Ausweis, noch eine Gleichstellung gebe.

Ähm ja. Wie, du willst nicht angegrapscht werden? Bist du etwa zu keinen Kompromissen bereit? Ein Totschlag-Argument aus der Sicht jedes Rambos, eine Disqualifikation mit Pauken und Trompeten aus der Sicht all jener, die Machtmissbrauch und Mobbing auch gegen den Wind riechen.

Das Glück der jungen Frau war wohl die Begleitung durch den Sozialrechts-Fuchs. Der hat die junge Frau, die nicht nur wegen der eigentlichen Begutachtungs-Situation unter großer Anspannung stand, sondern mit diesem Benehmen des Gutachters auch völlig überfordert war, ins Auto gepackt und ist mit ihr auf dem direkten Weg zu der Behörde gefahren, die das Gutachten in Auftrag gegeben hat. Frei nach dem Motto: „Hier bin ich. Begutachten Sie. Mitwirkung liegt vor. Maximal. Kopie der Akte, alle Befunde, handgeschriebener Lebenslauf: Alles dabei.“

Die Sachbearbeiterin an der Publikumsfront hat nach zwei Sätzen die Flinte ins Korn geworfen und das Gespann in die Chef-Etage geführt. Die junge Frau durfte daran teilhaben, wie ihr Begleiter und eine ältere Dame aus dem höhere Dienst der Behörde sich über den grundgesetzlich garantierten Anspruch auf rechtliches Gehör und den damit verbundenen Anspruch auf ein faires Verfahren austauschten und sofort derselben Meinung waren. Dass beide der Überzeugung waren, dass insbesondere in einem Widerspruchsverfahren der freie und gleichberechtigte Zugang zur Justiz eher überkorrekt berücksichtigt werden müsse, zumal Deutschland bei der Umsetzung der anerkannten UN-Forderung ohnehin defizitär sei.

Nach kurzer Wartezeit auf dem Behördenflur, in der die Beamtin den Gutachter anfunkte, ließ sie durchblicken, dass sie höchstpersönlich vor Jahren eine Anordnung verfügt hatte, die Begleitpersonen bei Gutachten ausdrücklich zulasse. „Solange die Begleitperson sich nicht ungefragt einmischt oder dort randaliert, sondern der Gutachter seine Arbeit machen kann, soll sie doch still in der Ecke sitzen. Ich würde meinen Mann auch nicht unbegleitet zum Doktor lassen, alleine schon, weil er immer nur die Hälfte versteht.“

Ende vom Lied: Die Frau hat die Antragstellerin im Namen der Behörde ausdrücklich für diesen Vorfall um Entschuldigung gebeten und ihr einen neuen Termin bei einem anderen Gutachter in Aussicht gestellt. Den kenne sie persönlich, dorthin würde sie auch gehen. Und sie habe ihn extra angerufen: Selbstverständlich dürfe jederzeit eine Vertrauensperson dabei sein.

Ich frage mich nun, was wohl passiert wäre, wenn der Sozialrechts-Fuchs nicht dabei gewesen wäre. Dann hätte der Gutachter wohl festgestellt, dass noch immer keine Behinderung vorliege. Wer so drauf ist, ist aus meiner Sicht als Gutachter untauglich. Machtspiele und die damit verbundene Ausgrenzung haben in fairen Verfahren nichts zu suchen!

Fand übrigens damals auch schon Till Eulenspiegel.