Garantie und so

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Siebenundneunzig Mal (mindestens) bin ich schon gefragt worden, warum ich so lange nicht gebloggt habe. Warum? Ganz einfach: Arbeiten! Immer arbeiten! Das letzte halbe Jahr hat vor allem wegen der Pandemie ganz schön reingehauen. Weiterbildung Pädiatrie. Und ganz vorneweg natürlich Helena. Und Sport. Und andere Prioritäten. Und so.

Hinzu kam aber auch, dass ich ja Anfang 2018 in dieses Haus an die Ostsee gezogen bin. Damit war eben auch nachträglich noch viel Arbeit verbunden. Leute, baut bloß kein Haus. Die Anzahl derer, die dich verarschen und auf deine Kosten sich die Taschen vollstopfen wollen, ist enorm hoch.

Nein, es sind nicht alle so. Ich habe das Haus ja mitten im Bau übernommen. Ein Ehepaar, Frau im Rollstuhl, hatte es bauen lassen und dann plötzlich verkaufen wollen, noch vor Bezugsfertigkeit. Ob nun das Geld ausgegangen ist, die beiden sich getrennt haben oder andere schlimme Dinge passiert sind, spielt keine Rolle. Für mich war es nicht nur finanziell ein Glücksgriff.

Es gibt viele Dinge, die wirklich super sind. Gasheizung mit Brennwerttechnik zum Beispiel. Dazu Solarmodul auf dem Dach. Ein traumhafter Verbrauch. Immer warme Hütte. Immer warmes Wasser. Kein einziges Mal ausgefallen seit drei Jahren. Die Fußbodenheizung macht ein absolut angenehmes Raumklima. Lautlos, gleichmäßig, mit Thermostat und Zeitschaltung in jedem Raum genau geregelt. Ließe sich sogar übers Internet steuern. Ich bin begeistert.

Fenster und Türen. Dreifachverglasung mit elektrischen Rolläden. Man hört nichts. Es zieht nicht. Die Kälte bleibt draußen, die Wärme im Sommer aber auch. Badeinrichtung. Sanitär. Schnitt und Aufteilung. Elektro- und Netzwerk-Installation. Bodenfliesen. Automatische Belüftung. Kamin. Dach. Alles super.

Es gibt aber auch viele Dinge, die mich und uns über Wochen den letzten Nerv gekostet haben. Der Fußboden im Wohnzimmer beispielsweise. Völlig schief. Für Rollstuhlfahrer absolut nervig. In der Raummitte war der Fußboden wesentlich höher als an den Seiten. So extrem, dass ein auf dem Boden platzierter Basketball weggerollt ist. In der Raummitte ging es noch, aber auf dem letzten Meter waren auf allen Seiten zwischen achtzehn und achtundzwanzig Millimeter Höhenunterschied. Zum Vergleich: Eine ebenerdige Dusche soll zwanzig Millimeter Gefälle haben. Im Vertrag war eine Abweichung von höchstens drei Millimetern pro Meter vereinbart. Und zur Terrassentür war eine Schwelle von höchstens zehn Millimetern vereinbart. Abgeliefert wurden aber 96 Millimeter. Mit dem Rollstuhl nicht mehr überwindbar. Also: Die komplette Terrasse mit Sockel musste wieder hochgenommen werden, das Fenster- und Türelement entfernt und neu wieder eingesetzt werden, der Fußboden im Wohnzimmer musste sowieso neu verlegt werden. Hurra. Bis die Firma dann endlich mit der Nachbesserung begann, war es 2020. Und quasi die letzte Möglichkeit, bevor wir das bei einer anderen Firma in Auftrag gegeben und vom Verursacher eingeklagt hätten.

Einbauküche. War noch nicht drin. Ich hatte mich für eine robuste Küche mit großer Arbeitsplatte und ohne Oberschränke entschlossen. Markenprodukt aus dem gehobenen Preissegment, teilweise besondere Arbeitshöhe wegen Rollstuhl. Wir vereinbarten schriftlich, mit welchen Einbaugeräten die Küche geliefert wird. Die Küche wird aufgebaut. Währenddessen kann ich als Rollstuhlfahrerin natürlich nicht ständig im Weg herumstehen. Zwei Tage sind sie mit zwei Personen beschäftigt. Als letztes kommen die Geräte dran. Als erstes fällt mir auf, dass der Herd nicht der ist, den wir vereinbart hatten. Die Einbauer wissen von nichts. Der Chef: „Das ist ein gebrauchtes Ceran-Feld, das bekommen Sie von uns kostenlos geliehen, bis Ihr bestelltes Induktionsfeld geliefert wurde.“

Backofen: Ebenfalls ein anderes Gerät. Bestellter Backofen angeblich auch nicht kurzfristig lieferbar. Kühlschrank: Eine Billigmarke. Ich rufe zum dritten Mal den Chef an: „Das ist tatsächlich mein Fehler. Ich schlage vor, ich schreibe Ihnen Ihren Kühlschrank wieder gut und berechne Ihnen für diesen nichts. Den bekommen Sie zur Küche kostenlos dazu, die war ja teuer genug. Probieren Sie den aus, und wenn Sie den wirklich nicht wollen, können Sie Ihren immernoch mal nachbestellen.“

Und was Otto beim ersten Besuch in der Woche danach sofort gesehen hat: Über der Kochstelle ist bauseitig eine Öffnung in der Decke, die im Rohr nach draußen führt. Für die Dunstabzugshaube. Bestellt hatte die Küchenfirma die gewünschte Abzugshaube doch tatsächlich als Umluftgerät. Schließt das Rohr nach draußen mit einem Plastikdeckel. Ohne was zu sagen. Und installiert darunter, quasi verdeckend, die Umluft-Haube. Und als wäre das nicht genug, fast hätte ich es vergessen: Beim zweiten Montagetermin sind sie mit ihrem Lkw noch gegen das elektrische Tor im Gartenzaun gefahren. Was dann auch nochmal vier Wochen defekt war.

Der Kühlschrank knackt in einer Tour und pfeift im Betrieb. Der Ofen scheppert. Das Ceranfeld braucht, um einen Liter Wasser in einem Minitopf zum Kochen zu bringen, auf höchster Stufe über fünfzehn Minuten. Ein Vierteljahr und etliche Anrufe später regelt meine Anwältin schriftlich, dass die Leihgeräte (und der Kühlschrank) abgeholt werden müssen. Inzwischen habe ich von einer anderen Firma endlich die gewünschten Geräte bekommen. Die andere Firma stellt dann auch aus Kulanz die Schubladen und Türen richtig ein, was die vorherige Firma auch nicht geschafft hatte.

Nee, ich habe extra keine billige Küche genommen. Und auch keine unbekannte Aufbaufirma. Weil ich eigentlich nicht so ein Theater wollte. Gleiches Thema: Waschmaschine. Steht im Hauswirtschaftsraum. Nagelneues Gerät einer Premium-Marke. Wird von einem Vertragshändler angeliefert. Das Bull-Auge vorne ist gesprungen, woraufhin ich die Annahme verweigere. Wer weiß, was mit dem Gerät passiert ist. Zweite Lieferung nach zwei Wochen. Das Gerät wird aufgebaut. Nach vier Wochen kommt zum ersten Mal der Kundendienst, weil das Gerät im Betrieb laut knackt und knarzt. Stellt fest, dass eine Schweißnaht mangelhaft ist. Das Gerät wird getauscht. Nach vier Wochen kommt wieder der Kundendienst, weil das Türgummi undicht ist und immer ein Schnapsglas voll Wasser unter der Tür herausläuft. Ich bekomme die dritte Maschine. Diese Maschine macht nach zwei Monaten bei jedem Anschleudern laute Geräusche, als würde jemand bei jeder Trommeldrehung einen lauten Gong betätigen. Dong Dong Dong Dong Dong, im ganzen Haus zu hören. Der Kundendienst kommt zum nächsten Mal und tauscht die komplette Aufhängung der Trommel. Zwei weitere Monate später klackert das Gerät bei jeder Trommeldrehung, und beim Schleudern dröhnt es so laut, dass das vor der Haustür zu hören ist. Der Kundendienst kommt und stellt fest, dass die hinteren unteren Stoßdämpfer defekt sind. Braucht aber zwei weitere Termine, um sie zu tauschen, weil er zwei Mal die falschen Ersatzteile dabei hat.

Es wurde dann auch noch ein neues Betriebssystem aufgespielt, weil sich mit dem alten der Kurzwaschgang nur dann anwählen ließ, wenn man vorher entweder den Öko-Waschgang an- und wieder abgewählt hatte oder den Temperaturregler einmal verstellt hatte. Also beispielsweise von 30 auf 40 und wieder zurück auf 30 Grad. Wenngleich die Geräusche jetzt weg sind, der Programmfehler konnte leider trotz Update nicht behoben werden. Aber bei der Gelegenheit wurde dann auch die Dosiereinheit der Spülmaschine (gleiche Premiummarke) getauscht, die ebenfalls in der Garantiezeit kaputt gegangen war und keinen Klarspüler mehr in den letzten Spülgang abgab.

Noch was zum Wäschetrockner? Gleiche Premiummarke. Sobald ein Spannbettlaken in der Trommel ist, wickelt er alle Kleinteile im Spannbettlaken ein, trocknet dieses von außen und alle Kleinteile drinnen bleiben feucht. Kundendienst: „Jepp. Das ist ein bekanntes Problem. Das liegt an der Energie-Einstufung. Wenn der Trockner so wenig Strom verbrauchen soll, wie auf dem Label steht, dreht sich die Trommel nur noch in eine Richtung und wickelt dabei dann die kleine Wäsche in großen Laken ein. Wenn Sie häufig große Laken trocknen, stelle ich Ihnen ein, dass die Trommel sich abwechselnd links- und rechtsrum dreht. Dann wickelt sich nichts ein und alles wird trocken, aber dafür stimmt der Energieverbrauch nicht mehr.“ – Tja. Tatsächlich. Jetzt ist die Wäsche trocken.

Reicht? Ja, mir auch. Bevor jetzt alle meine Leserinnen und Leser kommentieren, dass der Text einen verbitterten Eindruck macht: Nein, das täuscht. Ich bin nicht verbittert. Ich bin fröhlich. Ich wollte nur mal loswerden und aufschreiben, was sich hier so abgespielt hat, als ich nicht bloggte. Damit ich das in zwei Jahren nochmal nachlesen und jetzt endlich verdrängen kann.

Flatterviecher

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Es wäre unverantwortlich und kein gutes Vorbild, zu Weihnachten zu Susi und Otto zu fahren, auch wenn wir das eigentlich so verabredet hatten. Auch wenn niemand von uns auf einer Corona-Station arbeitet, ist das Risiko, mit Infizierten Kontakt gehabt zu haben, gerade in der Medizin sehr hoch. Und wer von uns kann schon sicher sagen, wen wir dann noch anstecken und wie schwer unsere Verläufe sind? Nein, nein und nochmals nein. Außerdem wird davon abgeraten. Und selbst wenn es erlaubt wäre, man muss nicht alles ausreizen. Bleiben wir also zu Hause.

Unser direkter Nachbar, der sich immer mal wieder aus der Ferne erkundigt, wie es uns geht, und der auch in der Pandemie regelmäßig von uns ein selbstgebackenes Brot bekommt, bimmelte vor vier Tagen an unserer Haustür: „Ich hab einen Weihnachtsbaum für euch. Jetzt, wo ihr doch hier bleibt. Der lachte mich so an, da habe ich ihn spontan mitgenommen. Hauptsächlich für die Lütte [Helena]. Dann kann sie den schmücken und so … macht ihr bestimmt Freude. Jetzt habe ich also zwei auf dem Anhänger, einen für euch, einen für uns. Wenn ihr wollt. Ist aber nur geliehen, und er muss im Eimer bleiben. Der geht am 6. Januar zu meinem Kumpel. Der musste vier Bäume fällen und hat da jetzt eine riesige Lücke, in die er neue Bäume einpflanzen will.“

So haben wir also jetzt einen Weihnachtsbaum auf der Terrasse. Ganz kurzfristig und ungeplant. Aber schön.

Helena, die sich schon darauf gefreut hatte, über die Festtage mindestens einmal bei Susi und Otto im Garten in die Sauna zu dürfen, hat sich in den letzten Monaten ja aus unserer aller Sicht weiterhin recht gut entwickelt. Sehr unglücklich war eine Mobbing-Attacke mehrerer Mitschüler aus der Parallelklasse. Zuerst hatte jemand ihr den Rucksack entwendet, und, nachdem er ihn durchwühlt hatte und offenbar nichts brauchbares finden konnte, außerhalb des Schulgebäudes in den Müllcontainer geworfen. Hinterher kam heraus, dass mehrere Mitschüler Geld-Wetten darauf abgeschlossen hatten, dass der Diebstahl gelingen würde.

Sehr positiv war, dass mehrere Mitschüler aus Helenas Klasse sofort auf ihrer Seite standen, zwei sogar in den Müllcontainer geklettert sind, um den Rucksack wieder rauszuholen. Wir haben Helena einige Tage aus der Schule genommen, bis sie von sich aus wieder am Unterricht teilnehmen wollte. Ausschlaggebend war ein Brief ihrer Klasse, mit dem ihre Mitschülerinnen und Mitschüler sich ausdrücklich zu ihr bekannt haben, und das Angebot zweier Schüler, sich mit Helena auf dem Schulweg zu treffen, um gemeinsam zur Schule zu gehen und im Wiederholungsfall eingreifen zu können.

Sehr negativ war, dass eine weitere Person aus eben dieser Parallelklasse auch noch eine Webseite über Helena ins Internet gestellt hat, ebenfalls, um sie zu mobben. Darauf waren Bilder und Texte gespeichert. Auf einer Fotomontage sitzt ein Affe auf Helenas Schulter und laust ihre Haare. In einem Text heißt es beispielsweise, Helena habe sich während des Geburtsvorgangs so spastisch und krampfhaft an ihrer Mutter festgehalten, dass diese dabei verstorben sei. Und ähnliches. Die Seite ist inzwischen aus dem Netz verschwunden; angeblich wollte der Ersteller nur sein technisches Können unter Beweis stellen und habe an die Folgen für Helena nicht gedacht. Dass das eine Schutzbehauptung ist, ist spätestens klar, seitdem noch über eine weitere Person eine ähnliche Seite im Netz belassen wurde. Ein Anwalt kümmert sich. Von der Schule gab es bisher gefühlt wenig Unterstützung.

Auch wenn wir viel mit Helena darüber gesprochen haben und sie damit oberflächlich recht cool umgeht, hat das was mit ihr gemacht. „Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich gemobbt werde. Als Mensch mit Behinderung bin ich es gewohnt, Zielscheibe dummer Witze zu sein.“ Aber die Beharrlichkeit, mit der mehrere Täter vorgingen, hatte eine neue Qualität, wie ich ihre anders formulierten Gedanken in Worte fasse. Es ist noch lange nicht alles in Ordnung bei ihr und Marie und ich sind sehr glücklich, dass wir so gut miteinander zurecht kommen. Das war ja keineswegs selbstverständlich; und wir wissen auch, dass sich das jederzeit ändern könnte. Auch wenn wir es nicht hoffen.

Ihre ambulante Psychotherapie ist nicht mehr verlängert worden, obwohl sie dort sehr gut gearbeitet hatte. Widerspruch läuft, Susi hat eine sehr fundierte Begründung geschrieben, aber die Mühlen mahlen halt langsam. Vor drei Tagen kam Helena plötzlich weinend aus ihrem Zimmer, nachdem sie mit einer Mitschülerin gechattet hatte. Wir wussten erst gar nicht, was passiert sein könnte, es dauerte auch einen Moment lang, bis sie ihre Gedanken geordnet hatte, dann meinte sie plötzlich: „Stell dir mal vor, bei […] hat sich die Mutter beschwert, dass sie ihr Weihnachtsgeschenk zu billig und zu oberflächlich findet. Vor Weihnachten. Es ist gar keine Überraschung mehr, weil sie das irgendwo gesehen hat. Das ist so schlimm und das tut mir so leid für […], weil sie sich solche Gedanken gemacht hat und es ehrlich gesagt gar nicht so billig war. Und das wühlt sie total auf.“

Auch wenn ich es natürlich nicht mag, wenn Helena so aufgewühlt ist, so rührt mich der Gedanke irgendwie, dass sich ihre Mitschülerin ausgerechnet Helena ausgesucht hat, um ihr Herz auszuschütten. Wir hatten ein gutes Gespräch über Aufmerksamkeiten. Über Freude machen, über Schleimerei, über Verselbständigung des Themas, über Konsumverhalten – allerdings ohne großartigen Widerspruch durch Helena. Wir haben schon immer die weihnachtliche Geschenke-Kurve mutwillig abgeflacht und alle nötigen Anschaffungen auf Zeiten abseits des Weihnachtsfestes gelegt. Wenn Helena neue Schuhe oder eine neue Hose braucht, gibt es die bewusst nicht zu Weihnachten. Nun ist es bei uns mit dem Geld auch nicht so knapp, dass wir neue Schuhe nur vom Weihnachtsgeld der Oma kaufen könnten; aber selbst wenn, fände ich es erst recht nicht gut, diesen kommerziellen Radau dadurch zu unterstützen. Sondern dann hätte ich vermutlich mit der Oma einen Deal, dem Kind die Schuhe anlasslos zu schenken. Und zu Weihnachten eine Kleinigkeit. Zu sehr nervt mich dieses „weiter, schneller, besser“ unter dem Weihnachtsbaum.

Susi und Otto schenken „ihrer Helena“ sehr gerne etwas zu Weihnachten oder zum Geburtstag und Helenas „materielles Sachvermögen“ profitiert sehr davon. Wobei man dazu sagen muss, dass Helena so gut wie nie materielle Wünsche hat und eigentlich sehr bescheiden ist. Umso mehr schätzt sie diese Geschenke. Susi und Otto sprechen es vorher mit uns (und beiläufig meistens auch mit Helena) ab, geben dann lieber mehr Geld für die Qualität aus, würden aber niemals irgendeinen Quatsch schenken. Beispiel Trampolin: Helena nutzt es auch nach einem Jahr fast täglich. Und unsere Nachbarn und wir profitieren davon, dass es eine gute Qualität hat, weil es quasi lautlos ist. Da klackert, scheppert, klimpert, quietscht und knarzt absolut nichts.

Heute fiel mir Helena um den Hals, als ich nach Hause kam. Ich dachte erst, es sei eine ungewöhnlich herzliche Begrüßung, aber dann merkte ich, dass sie schon wieder weinte. Inzwischen erzählt sie sehr schnell, was sie bedrückt. Was völlig neu ist, und deswegen erwähnte ich die derzeit beendete pausierte Psychotherapie, dass sie mit uns über ihre früheren Pflegeeltern spricht. „Jule, dieses Weihnachtsgedöns triggert mich wahnsinnig. Jetzt auch noch dieser Baum auf der Terrasse. Er ist schön, und es sind viele schöne Gefühle. Aber ich muss auch immer an viele doofe Sachen denken. Was essen wir eigentlich am 1. Weihnachtstag?“ – „Das hast du soeben resettet, wenn es irgendein Essen gibt, was dich aufwühlt.“ – „Ich möchte kein Flatterviech.“ – „Das hatten wir doch aber sowieso nicht vor.“ – „Ich weiß. Aber weißt du, warum? Bei meinen früheren Pflegeeltern gab es am 1. Weihnachtstag immer Gans. Und am 2. Weihnachtstag eine Suppe mit den Resten. Ich bekam am 1. Weihnachtstag immer als Letzte irgendwas Fettes, Ekliges auf den Teller, was die anderen nicht wollten, und was ich nie gegessen habe. Immer mit dem hämischen Kommentar, dass die guten Stücke leider schon alle weg sind. Einmal habe ich mir das so zu Herzen genommen, dass mir richtig übel wurde und mir das danach alles wieder hochgekommen ist. Später habe ich gehört, wie mein Pflegevater zu meiner Pflegemutter vor ihren beiden Kindern in der Küche gesagt hat: Sie weiß solche Kostbarkeiten doch gar nicht zu schätzen. Gans ist eindeutig zu gut für Helena.“

„Was?! Das ist so schlimm, was du durchgemacht hast. Die waren so scheußlich zu dir. Aber hör mal: Es gibt keine Gans zu Weihnachten. Auch kein anderes Tier. Wir wollten doch diese Mini-Burger zusammen machen. So richtig mit Brötchen selbst backen und Salate und so … oder wollen wir lieber gar nichts kochen und uns, wenn wir Hunger haben, ne Pizza auftauen? Ich weiß, dass das immer wieder Flashbacks gibt, gerade wenn es vergleichbare Umstände sind, wie jetzt zur Weihnachtszeit. Aber du kannst Weihnachten nicht abschaffen, sondern du kannst es nur anders machen und deiner Psyche so zeigen, was gut ist und was scheußlich war. Und ich glaube, zu dritt können wir das schaffen. Gerade dieses Jahr.“

„Mein Kopf weiß das ja auch. Aber weißt du, was es für ein verstörendes Gefühl war, als ich zum ersten Mal hier gegessen habe und du zu mir gesagt hast: Fang an, füll dir was auf!? Ich weiß inzwischen, dass das nicht normal war, wie meine früheren Pflegeeltern das gemacht haben. Herr [Therapeut] hat gesagt, das macht man mit Hunden so, wenn es Probleme mit der Rangordnung gibt. Dann fressen die zum Schluss. Die Message dahinter ist klar: Du bist die Unwichtigste hier. Jule, ich weiß das, und ich bin jeden Tag aufs Neue glücklich, dass ich hier bin und dass ich eine neue Chance bekommen habe. Aber meine Psyche glaubt es bis heute noch nicht und klickt ganz plötzlich random irgendwelche alten Videos rein.“ – „Und das Video-Fenster kriegst du dann so schnell nicht zu, oder?“ – „Es ist wie im Netz: Du bist mittendrin und plötzlich zählt irgendwo ein Countdown runter, noch 6 Sekunden, 5, 4, 3, 2, 1 und dann poppt irgendeine Scheiße auf, volle Lautstärke. Die Maus ist gerade nicht in der Nähe und klemmt immer in solchen Situationen, und bevor du wenigstens den Ton abgestellt hast, weiß das ganze Haus, was du gerade machst. Aber klar, die Idee mit den selbstgemachten Mini-Burgern ist gut und ich war ja auch spontan dafür.“

Kurz danach hat eine Freundin sie angerufen und wollte mit ihr über irgendwas mit Pferden sprechen. Zehn Minuten später war Helenas Lachen schon wieder durch das ganze Haus zu hören. Es ist mir bis heute unbegreiflich, wie diese Eltern an Helena oder überhaupt an ein Pflegekind gekommen sind. Vermutlich können sie gut etwas vorspielen. Aber es wird mir unbegreiflich bleiben, warum jemand, wenn die Chemie nicht stimmt, sein Pflegekind nicht abgibt, sondern es psychisch quält. Es bleibt mir wirklich ein Rätsel. Und ich möchte das vermutlich auch gar nicht verstehen.

Laktat und Glucagon

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Ab morgen wird uns der Alltag wiederhaben. Marie und ich müssen wieder arbeiten, Helena muss in dieser Woche wieder zur Schule und es wird nicht mehr lange dauern, bis der letzte Weihnachtsschmuck aus den Vorgärten verschwunden ist. Wir haben den Heiligabend mit Susi und Otto bei uns zu Hause an der Ostsee verbracht. Wir waren gemeinsam in der Kirche, wo eine Schulfreundin von Helena ein Solo gesungen hat. Was sie echt toll hinbekommen hat.

Helena hat zu Weihnachten ihr erstes vernünftiges Smartphone bekommen, nachdem sie ein Jahr lang mit einem sehr einfachen Jugend-Smartphone sehr gut zurechtgekommen ist und sich überraschend gut an unsere Vereinbarung gehalten hat. Vereinbarung darüber, wie häufig das Ding genutzt wird. Sie spielt überhaupt nicht, nutzt es ausschließlich für Soziale Medien und zur Kommunikation. Wenn ich mitbekomme, was da in ihrer Klasse bei Gleichaltrigen passiert, können wir uns wirklich nicht beklagen.

Seit einem Jahr hat Helena ein eigenes Taschengeld-Girokonto. Auch das funktioniert erstaunlich gut. Sie bekommt derzeit noch 20 Euro im Monat (mit 13 Jahren), in Kürze hat sie Geburtstag, ab dann werden wir es auf 30 Euro im Monat erhöhen. Sie hat ein zweites Konto, auf das die Reste ihrer Unterhaltsleistung vom Jugendamt gehen, also Geld für Schulsachen, Klamotten und ähnliche einmalige Anschaffungen. Die Karte war anfangs bei Marie oder bei mir und die bekam sie einst nur, wenn wir gemeinsam etwas für sie einkaufen. Im Sommer habe ich Helena mit der Karte zum Schulsachen einkaufen geschickt, auch das hat geklappt. Sie kam mit Bon und Karte zu mir und alles war gut. Seit Dezember hat sie die Karte ständig in ihrer Geldbörse. Sie genießt sehr großes Vertrauen – wenngleich das Tageslimit stark begrenzt ist und Marie und ich eine Mail bekommen, wenn jemand mit der Karte verfügt.

Ein Geschenk, über das sie sich ebenfalls sehr gefreut hat, ist ein langer Neoprenanzug zum Schwimmen, den sie von Otto und Susi bekommen hat. Ja genau, jenes Kind, das vor zwei Jahren nicht ins Wasser wollte, weil alle ihr eingeredet haben, sie könne wegen ihrer Behinderung nicht schwimmen. Und es darf geraten werden, wer am zweiten Weihnachtstag nicht mehr aus dem eiskalten Gartenpool herauszulösen war. Wir waren am 1. Weihnachtag mit Susi und Otto nach Hamburg gefahren.

Und während wir den Jahreswechsel ohne großes Theater bei einer Runde Monopoly zu Hause verbracht haben (zu Mitternacht sind wir drei mit unseren Handbikes an die Ostsee geradelt, bei eiskaltem Wind aber guter Sicht haben wir einen Moment dem Feuerwerk zugeschaut, sind anschließend ins Bett), ging es pünktlich am Neujahrsmorgen für uns drei in ein (kommerzielles) Trainings-Camp nach Niedersachsen.

Wir haben uns schon zwei Mal von diesem Anbieter schinden lassen. Fünf Tage für 250 Euro pro Person sind zwar viel Geld, sind aber angemessen. Vollpension wohlgemerkt. Die Unterkunft mit Zwei- oder Vierbettzimmern war für mich okay, da ich mit Marie in ein Zimmer kam. Helena schlief mit drei gleichaltrigen Sportlerinnen in einem Zimmer. Mit Marie und mir hatten sich insgesamt 16 Leute zum Schwimmtraining angemeldet, es gab eine Jugendgruppe für Leichtathletik und eine noch wesentlich größere Gruppe, die Kampfsport trainierte. Gegessen und übernachtet wurde im selben Haus, die Trainingseinheiten waren halt getrennt.

Wir waren die einzigen Menschen mit Behinderung, aber der Veranstalter betonte, dass das kein Problem sei. Ebenso war es kein Problem, dass Helena mit schwamm, statt Leichtathletik zu trainieren – rennen und springen sind nun wirklich nicht ihre Disziplinen. Natürlich konnte sie nicht mit den Schwimmerinnen und Schwimmern mithalten, die das täglich machen, aber sie hatte zusammen mit einer angemeldeten Seniorin ihre eigene Bahn und bekam vom Trainer regelmäßig Aufgaben und Tipps – sie war Feuer und Flamme.

Insgesamt waren viele spannende und sehr freundliche Leute dabei, mit denen jede Unterhaltung Spaß machte. Aber drei Leute schossen natürlich wieder den Vogel ab. Die erste kam mit Fieber und fettem Atemwegsinfekt und wurde quasi noch auf der Türschwelle wieder nach Hause geschickt. Was ich sehr gut fand, denn ich bin dorthin gefahren, um meinem Körper etwas Gutes zu tun und nicht, um krank zu werden. Die zweite wusste genau, wie man „mit Behinderten umgeht“, weil ihr Vater auch mal im Rollstuhl saß. Und so wurde sie regelmäßig übergriffig. Räumte ungefragt unseren Teller weg (obwohl wir nochmal Nachschlag wollten), brachte uns Getränke mit zum Essen (zum Beispiel Kirschsaft aus Pulver angerührt, ohne vorher zu fragen). Sowohl Marie als auch ich haben beide unabhängig freundlich mit ihr geredet, dass das nicht erwünscht ist und wir alleine für uns sorgen können – und bei Bedarf fragen.

Puls bekam Marie, als die Dame ihr im Vorbeigehen in der Schwimmhalle, beim Aufwärmtraining an Land, plötzlich unvermittelt den Kragen vom Poloshirt richtete. Sie grabbelte Marie einfach so an und faltete da am Hemdkragen rum. Marie sagte: „Lass es, ich möchte nicht andauernd angefasst werden.“ – Sie meinte es natürlich nur gut. Wie immer. Als die Dame mir unter Wasser an den Po fasste, um diesen Waschzettel, also dieses eingenähte Etikett, wo draufsteht, wie man etwas waschen kann, wieder in meinen Badeanzug zu stecken, habe ich ihr Schläge angedroht. Wirklich, sowas mache ich normalerweise nicht. Aber wenn es inzwischen drei ganz deutliche Ansagen gegeben hat, muss das wohl sein, um noch klarer zum Ausdruck zu bringen, dass ich es nicht möchte, dass mir jemand ungefragt an den Po greift.

Und der Hammer war auch eine andere Dame, in den Vierzigern, wie ich schätze. Bei einigen Sportlern, die wirklich sehr gut waren und sich auch entsprechend für ein teures Einzeltraining angemeldet hatten, wurde der Laktatspiegel im Blut gemessen. Damit kann man salopp gesagt die Fitness und die Belastbarkeit eines Sportlers messen (und später den Trainingserfolg). Laktat steigt im Blutkreislauf an, wenn die von den Muskeln verwertete Energie nicht vollständig verbrannt wird, also salopp gesagt nach einer Überlastung. Ziel eines solchen Trainings unter Bestimmung des Laktatgehalts im Blut ist es, diese Schwelle, ab der der Körper beginnt, wegen Überlastung die Energie nur noch unvollständig zu verheizen, zu verschieben.

Die Dame behauptete nun ernsthaft, Laktat sei ein Glückshormon, das bei intensivem Training ausgeschüttet würde und für das Glücksgefühl nach einem Ausdauertraining verantwortlich sei. Sie vertiefte das immer weiter und immer abenteuerlicher. Ich habe sie reden lassen. Sie brauchte vermutlich Aufmerksamkeit. Als sie Helena ansprach, dass der frühere Handelsname des synthetisch hergestellten, therapeutisch verwendeten Insulins „Glucagon“ sei, antwortete Helena, sie habe in der Diabetes-Schulung gelernt, dass Glucagon ein Gegenspieler zum Insulin sei – es sei doch fatal, wenn zwei so unterschiedliche Dinge denselben Namen trügen. Ich habe dann gesagt, dass ich vermute, dass die Dame etwas verwechselt. Da war ja was los. Es gibt eben Menschen, die keine Kritik vertragen – und ich hatte das schon befürchtet.

Alles in allem war das aber eine sehr tolle, wenn auch anstrengende Urlaubswoche.

Dickes Brett

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Ich erinnere mich noch gut an meine eigene Schulzeit. Als ich so alt war wie Helena und die 8. Klasse besuchte, war ich, genauso wie sie mit ihren 13 Jahren, ganz oft im Reitstall. Ich habe mich damals, genauso wie Helena heute, mit noch zwei anderen Mädchen um ein wunderschönes Pferd gekümmert, dass einer Reiterin gehörte, die nur am Wochenende Zeit hatte. Sie hatte noch ein zweites Pferd, das wir regelmäßig reiten durften. Ich erinnere mich gut, dass ich meistens um 15 Uhr, selten erst um 15.30 Uhr dorthin gefahren bin. Ich hatte meine Hausaufgaben fertig. Vielleicht musste ich abends vor dem Einschlafen hin und wieder nochmal ein paar Vokabeln wiederholen. Aber das war es.

Helenas Schule hat ein Ganztagsprogramm, das täglich Mittagstisch sowie bis 16.00 Uhr Unterricht und Hausaufgabenbetreuung anbietet. An inzwischen vier Wochentagen gibt es darüber hinaus noch ein offenes Programm bis 20.00 Uhr, am Freitag sogar bis 21.00 Uhr. So etwas gab es bei mir früher nicht. Die Teilnahme bis 16.00 Uhr ist verpflichtend, wobei für die letzte Doppelstunde eine sogenannte „vereinfachte Freistellung“ beantragt werden kann. Mit Unterschrift der Eltern kann das Kind einmalig um 14.15 Uhr die Schule verlassen, ohne dass Gründe angegeben oder eine Genehmigung abgewartet werden müssen. Es reicht die Bitte, freizustellen. Allerdings ist so eine Freistellung immer nur einen Tag lang gültig. Helena, die an einem Tag früh zur Physiotherapie soll, muss jede Woche so einen Zettel vorlegen. Aber es ist okay.

Helena fährt meistens um 16.00 Uhr direkt weiter zum Reitstall, ist dann mit ihren Hausaufgaben bereits fertig. Wenn sie abends nach Hause kommt, essen wir noch was zusammen und dann fällt sie ins Bett. Nun schreibt Helena in den Wochen bis Weihnachten noch insgesamt sechs Klassenarbeiten, für die sie lernen muss. Während es mir in dem Alter für Klassenarbeiten oft gereicht hat, den Stoff am Vorabend noch einmal durchzulesen, möchte Helena gerne abgefragt werden und intensiv üben. Das geht während der Hausaufgabenzeit nicht, das müssen wir zu Hause machen. Nach dem Abendessen ist sie nicht mehr aufnahmefähig, also fällt das Reiten aus. Wohlgemerkt: Das ist keine Auflage von Marie und mir, sondern ihre freiwillige Entscheidung. Bei neun Klassenarbeiten oder Tests alleine im Dezember ist klar, dass sie theoretisch einen ganzen Monat lang nicht mehr in den Reitstall kann.

Und als würde das noch nicht ausreichen, haben zwei Lehrkräfte ihr noch eine Vorbereitungsarbeit für die Weihnachtsferien aufgedrückt. Am zweiten Schultag nach den Ferien wird eine Deutscharbeit geschrieben, dafür soll sie sich „Kassandra“ von Christa Wolf reinziehen und interpretieren. Ich kenne das Werk nicht, aber Susi hat mir erzählt, dass sie das im Leistungskurs Deutsch in der 12. Klasse hatte. Sie sagte, dass sie damals selbst mit Grundkenntnissen der griechischen Mythologie nur deshalb durchgestiegen ist, weil sie parallel einen Zeitstrahl und ein Beziehungsgeflecht gemalt hatte. Die Klassensprecherin in Helenas Klasse habe bereits protestiert, darauf vom Deutschlehrer aber nur gehört: „Natürlich ist das über die Ferien freiwillig. Wer es nicht liest, ist dann zur Klassenarbeit eben schlecht vorbereitet.“

Die Englischlehrerin kam noch mit dem Wunsch daher, ein Buch anzuschaffen. 118 Seiten in A6, nur Englisch. Bitte eine schriftliche Zusammenfassung verfassen, acht Fragen beantworten (zum Beispiel Frage 1, auf Englisch wohlgemerkt: „Wie beurteilst du das Verhältnis von … und … zueinander, an welches berühmte Werk erinnert dich dieses Verhältnis und welche Gefahr birgt sich in ihm?“)

Helena macht das alles ohne Murren und Knurren. Aber ich finde das nicht gut. Ein knapp 14 Jahre altes Kind muss auch Freizeit haben. Es kann nicht sein, dass sich alles nur noch um Schule, Physiotherapie, Ergotherapie, Psychotherapie und Schlafen dreht, der Sport (eigentlich schwimmt sie noch neben dem Freizeitreiten) gar nicht mehr stattfinden kann, sie abends um acht von sich aus ins Bett geht, an den Wochenenden nicht vor 12 Uhr mittags aus dem Bett kommt und so weiter. Ich sehe langsam das Burnout auf uns zukommen. Zumal Helena ja ohnehin sehr viel langsamer schreibt.

Womit ich beim nächsten Thema bin: Sie hat, wegen ihrer Behinderung, eine Zeitverlängerung bei Klassenarbeiten und Tests. Aktuell liegt sie bei 30 Prozent und mindestens fünf Minuten. Schreibt die Klasse also eine Klassenarbeit über zwei Schulstunden, also 90 Minuten, darf Helena 117 Minuten lang Zeit beanspruchen. Darüber gibt es einen schriftlichen Bescheid, den alle Lehrkräfte kennen.

Wenn eine Doppelstunde lang geschrieben wird, dann ist nach den 90 Minuten in der Regel die große Pause. Helena darf also die große Pause (15 Minuten) sowie 12 Minuten der nächsten Stunde noch für ihre Klassenarbeit nutzen, während alle anderen spätestens zu Beginn der großen Pause abgeben mussten.

Ich möchte unbedingt vorweg schicken, dass die große Mehrzahl der Lehrkräfte an der Schule Helena vollkommen korrekt, verständnisvoll und gerecht behandelt und benotet. Viele machen sich einen Kopf, überlegen sich, wie sie Helena gut teilhaben lassen. Viele erkennen an, dass Helena fleißig ist und genauso viel versteht wie die anderen Kinder auch – oft sogar mehr. Dass das Mitschreiben oder das Aufschreiben aber etwas länger dauert, dass sie in Bewegung und Koordination eingeschränkt ist. Sie fordern sie, sie geben ihr keine Sonderrolle. Sie achten darauf, dass es ein gutes Miteinander in der Klasse gibt, dass die Schülerinnen und Schüler füreinander Verständnis haben und sich gegenseitig wertschätzen. Sie haben ein offenes Ohr, gehen auf die Kinder ein, reißen sich oft den Allerwertesten auf, kümmern sich, identifizieren sich. Machen einen guten Job.

Ich will zudem allen Lehrkräften zugute halten, dass es viel zu wenig Personal gibt, dass viele kaum bis gar nicht auf inklusiven Unterricht vorbereitet wurden und heute überfordert sind. Ich möchte denen, wo es nicht läuft, gar keinen bösen Willen unterstellen, das wäre sicherlich nicht korrekt. Aber bei einzelnen der hiesigen Pädagogen gibt es mit Sicherheit eine Gedankenlosigkeit und ein viel zu dickes Fell.

Übel 1: Die Lehrkraft möchte auch ihre Pause haben und sammelt mit dem Beginn der großen Pause alle Hefte ein, schickt die Schüler aus der Klasse und verschwindet. Die Lehrkraft lässt Helena also alleine weiterschreiben. Zum Ende der großen Pause kommen die anderen Schüler wieder rein und sind natürlich alles andere als leise. Die Lehrkraft der Folgestunde beginnt ihren Unterricht und labert rum, malt Tafelbilder, beginnt Dialoge, während Helena immernoch schreibt und sich auf ganz andere Dinge konzentrieren muss. Irgendwann sammelt die Lehrkraft der Folgestunde Helenas Heft im Auftrag ein und reicht es nach der Stunde an die andere Lehrkraft weiter.

Es würde zu weit führen, das hier wissenschaftlich abzuhandeln, aber es lässt sich medizinisch erklären, warum Menschen mit Cerebralparese leichter ablenkbar sind als Menschen ohne Hirnverletzung. Menschen mit Cerebralparese fällt es im Allgemeinen sehr viel schwerer, sich zu fokussieren. In der Folge gelingt es auch unverhältnismäßig schwer, sich zu konzentrieren. Wenn nun im Klassenraum während einer Leistungsüberprüfung Papierflieger geworfen werden, Mitschüler grölend zwischen Tafel und Helenas Tisch oszillieren, allgemein rücksichtslos gequatscht und gelacht wird, dann noch Unterricht, vielleicht in fremder Sprache, stattfindet, fällt es einem nicht eingeschränkten Menschen schon schwer, für sich dieselben Bedingungen auszumachen, die in der Stunde zuvor herrschten. Im Ergebnis hat Helena also nicht dieselben Bedingungen für ihre Klassenarbeit wie die anderen Schüler, sondern ist benachteiligt. Trotz ihres Nachteilsausgleichs.

Übel 2: Die Klassenarbeit wird offiziell auf 70 Minuten angesetzt. Die Klassenarbeit soll also in 70 Minuten schaffbar sein. Mit ihrer Zeitverlängerung kommt Helena nun auf ziemlich genau 90 Minuten. So muss die Lehrkraft niemanden durch die Pause hindurch betreuen. Die Klassenarbeit wird aber nicht nach 70 Minuten eingesammelt, sondern die anderen Schülerinnen und Schüler dürfen „überziehen“ – bekommen also einen Bonus bis zu dem Zeitpunkt, an dem Helena fertig sein muss. Im Ergebnis sind also alle gleichzeitig fertig und Helena hat keine Zeitverlängerung bekommen. Die Klassenarbeit ist auch nicht in 70 Minuten zu schaffen und dieselbe Arbeit war im Schuljahr vorher noch für 90 Minuten angesetzt. Wenn die Lehrkraft allen nun 20 Minuten Bonus gibt, Helena aber nicht, ist Helena benachteiligt. Trotz ihres Nachteilsausgleichs. Helena hat das der Lehrkraft gegenüber als „Taschenspielertrick“ bezeichnet. Der Ausdruck gehört sich natürlich nicht und sie hat sich für diese Wortwahl auch bereits schriftlich entschuldigen müssen. Gleichwohl halte ich an der von ihr beabsichtigten Aussage, einer Benachteiligung durch Schönrechnen, fest. Damit konfrontiert, dass die Lehrkraft Klassenarbeiten zu 90 Minuten schreiben müsse (laut Lehrplan), antwortete sie: „Die Schülerinnen und Schüler durften ja 90 Minuten schreiben.“ – Also mit anderen (meinen) Worten sagt die Lehrkraft damit aus: Nachteilsausgleiche interessieren mich nicht. Oder ich nehme sie zumindest nicht ernst.

Übel 3: Die Klassenarbeit wird in einem Fachraum geschrieben, der per Rollstuhl nur über einen Aufzug erreicht werden kann. Helena ist pünktlich in der Schule, hat auch einen Transponder, um den Aufzug rufen zu können, allerdings kommt der nicht. Der Aufzug sei laut Display fahrbereit, stehe aber im dritten Stock. Alles Klopfen und Rufen hilft nichts in den lauten Gängen, die Mitschülerinnen und Mitschüler wollen schnell an ihren Platz und können leider nicht nach dem Aufzug schauen. Der Schulhausmeister ist unterwegs, die Sekretärin hat erst in 20 Minuten kurz Zeit. Inzwischen hat die Stunde begonnen. Helena lässt also ihren Rollstuhl im Erdgeschoss stehen und klettert mit Rucksack (da ist ja ein wertvoller Laptop drin) auf dem Rücken Stufe für Stufe bis ins dritte Stockwerk hoch, um dort einen verlassenen Putzwagen aus der Lichtschranke zu ziehen, mit dem Aufzug runterzufahren, ihren Rollstuhl zu holen, in den Fachraum zu fahren und dann … am Ende keine Zeitverlängerung mehr zu bekommen. „Wer zu spät kommt, kann nicht noch Vergünstigungen in Anspruch nehmen.“ – Sie traut sich dann nicht zu widersprechen, ist emotional so angespannt, dass sie sich nicht mehr gut konzentrieren kann. Ich habe ihr empfohlen, künftig dann als letzte Zeile zu schreiben: „ZV verweigert, 11:20 Uhr unfertig abgeben müssen.“ – Ich dachte, dass so etwas die Lehrkraft vielleicht zu einem schriftlichen Kommentar verleitet. Nö: Sie malt einen Smiley dahinter.

Übel 4: Es wird ein Vokabeltest geschrieben. Die Lehrkraft diktiert die Vokabeln, die Schülerinnen und Schüler sollen sie auf einen leeren Zettel notieren, Übersetzung dahinter. Anschließend wird eingesammelt. 15 Vokabeln in zehn Minuten. Helena dürfte nun noch fünf Minuten länger schreiben (Mindestverlängerung). Aber die Lehrkraft sammelt alle Zettel ein, Helenas sogar zuerst, weil sie vorne sitzt. Begründung: Bei zwei Stunden mache eine Zeitverlängerung Sinn, drei Minuten hingegen seien ja auf einer analogen Uhr kaum zu erkennen. Während die anderen Schülerinnen und Schüler schon beim Diktieren schnell die Übersetzung dazugeschrieben haben, hat Helena sich darauf konzentriert, alle diktierten Wörter mitzubekommen und möglichst keins auszulassen. Es ist unheimlich schwierig in dem Alter, bewusst eine Lücke zu lassen, um wieder in den Takt zu kommen und nicht ganz zu versanden. Oder sich aktiv zu entscheiden, erst alles mitzuschreiben, vielleicht auch nur ein paar Buchstaben, und dann die Zeitverlängerung zu nutzen, um zu Ende zu ergänzen und zu übersetzen. Tja … die Übersetzungen wurden bewertet, das richtige Mitschreiben nicht. Sie hatte 2 von 15 Punkten. Obwohl sie am Vorabend alle Vokabeln konnte. Und dann stand drunter: „Vokabeln lernen ist eine Fleißarbeit!!“

Ich könnte jetzt noch mehr Beispiele aufzählen. Aber es geht ja nicht darum, anzuklagen. Sondern deutlich zu machen, dass dringendst sensibilisiert werden muss. Und zwar überall.

Ich will noch einmal erwähnen, dass diese Beispiele nicht der Maßstab sind und eine untergeordnete Rolle spielen; trotzdem schafft es aber eine Minderheit, das Positive derer, die sich engagieren, in den Schatten zu stellen. Helena hat nunmal eine Cerebralparese und damit etwas, was derzeit nur einmal an dieser Schule vorkommt. Unser Bildungssystem hat darauf keine adäquate Antwort, sondern behilft sich mit individuellen Sonderregeln. Ich will nicht behaupten, dass ich bessere Antworten kenne. Aber wenn die Zeitverlängerung die Antwort ist, weil erkannt wurde, dass unser Bildungssystem sonst Menschen wie Helena ausgrenzt, dann muss diese Antwort auch verbindlich sein. Sie ist keine Vergünstigung, kein Entgegenkommen, keine Diskussionsgrundlage. Es kann nicht sein, dass eine Dreizehnjährige um ihren gleichberechtigten Zugang zu Bildung kämpfen muss – neben dem ausufernden Lernstoff.

Also ist die Socke mal wieder eskaliert. Hat sich mit Marie, Susi und Otto ausgetauscht und zum persönlichen Gespräch angemeldet. Dieses Mal nicht bei den betroffenen Lehrkräften, sondern die Mail ging an den Jahrgangskoordinator und an den Direktor. Ich bekam sofort einen Termin und das Ergebnis lässt hoffen: Der Schulleiter war sichtlich mitgenommen, hat mehrfach geschluckt. Hat sich bei mir entschuldigt, will sich bei Helena, die bei dem Gespräch aus guten Gründen nicht dabei war, persönlich entschuldigen. Und möchte nun selbst mit den betroffenen Lehrkräften sprechen, wie künftig besser sichergestellt sein kann, dass Helena gleichberechtigt am Unterricht teilnimmt. „Darüber brauchen wir gar nicht weiter reden. Das geht so überhaupt nicht. Ich werde mir jeden Test und jede Klassenarbeit aus dem letzten Halbjahr vorlegen lassen und persönlich anschauen. Ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass dieser Vokabeltest nicht in die Wertung einfließt. Entweder wird der nachgeschrieben oder rausgenommen. Und wir werden intern abstimmen, ob Helena entweder nur jedes zweite Wort mitschreibt und dann am Ende noch drei weitere Worte bekommt; oder ob sie einen Zettel bekommt, auf dem bereits jedes zweite Wort schon steht, oder ähnliches. Das kann ich so nicht aus dem Ärmel schütteln. Aber so geht es nicht weiter.“

Wenigstens ist er jemand, mit dem man wohl reden kann. Er hat mir seine Karte gegeben, er möchte von mir sofort direkt informiert werden, wenn wieder irgendwas passiert. Und die Raumpflege werde ebenfalls sensibilisiert, dass es auch unter den Schülerinnen und Schülern Menschen gibt, die den Aufzug benutzen. „Vermutlich haben die das nicht überlegt.“

Ich habe Hoffnung, dieses dicke Brett heute etwas weiter durchbohrt zu haben. Ich weiß allerdings, dass es nicht mein letzter Besuch in der Schule sein wird.