Ziemlich beste Freunde

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„Am liebsten den um 20.20 Uhr.“ – „Nein, der ist ausverkauft. Für 23.10 Uhr hätten wir noch Karten.“ – „Okay, dann gehen wir vorher noch was essen. Wir sind 16 Rollstuhlfahrer und eine Begleitperson, also 17 Leute insgesamt. Gibt es da schon Gruppenrabatt?“ – „17 Rollstuhlfahrer? Unmöglich. Wir haben nur zwei Rollstuhlplätze.“ – „Wie jetzt? Kommen Sie schon, wir wollen den sehen. Wir setzen uns auf die normalen Sitzplätze um.“ – „Sie brauchen doch die Rollstühle im Evakuierungsfall.“ – „Wir krabbeln raus, wenn es brennt.“

Eine Kollegin blickt ihr von hinten über die Schulter. „Das ist Saal 1, der hat acht Rollstuhlplätze. Das sind aber trotzdem nicht genug. Wieviele sind Sie?“ – „16 Rollis, ein Fußgänger. Und wir wollen alle zusammen sitzen.“ – „Puh. Aber Sie können sich alle umsetzen, ja?“ – „Klar. Wir haben ja auch eine Fußgängerin, die kann uns helfen.“ – „Dann buche doch die beiden Reihen vor den Rolliplätzen komplett für die Gruppe und dann müssen die Rollstühle so an die Seiten geschoben werden, dass die Notausgänge frei bleiben. Das passt schon, die sind ja alle schmal und klein.“

„Dann reserviere ich Ihnen jetzt diese Reihen hier“, sie zeigte auf ihren Bildschirm, „komplett für Sie alleine und bekomme 128 €. Zahlen Sie bar oder mit Karte?“ – „Mit Karte.“ – Der Drucker spuckte 17 Eintrittskarten aus. Bingo.

Um 20.30 Uhr trafen wir uns mit allen Leuten, mit dabei auch Simone, Yvonne, Cathleen, Sofie, Nadine, Kristina, Merle, Sarah und Jana, bei einem Italiener im Stadtteil St. Georg. Maria war auch dabei und ließ sich von Nadine schieben – das nächste, was Maria braucht, ist ein elektrischer Rollstuhl, damit sie unabhängig mobil ist. Sobald die andere Arie mit dem Zimmer geklärt ist, nehmen wir das in Angriff.

Sofie und ich fragten, ob er Platz für 16 Rollstuhlfahrer hätte, was er aber sofort verneinte. Also fuhren wir weiter zu einem leckeren Hamburger Burgerladen, wo sofort jemand die Stühle von vier Tischen wegräumte und meinte, wir sollten uns einfach schon an die Tische setzen und von dort bestellen, obwohl es eigentlich ein SB-Restaurant ist. „Ich bringe Ihnen das an den Tisch.“

Maria saß zwischen mir und Sofie und wurde von uns abwechselnd gefüttert, das klappte problemlos. Ihre Cola trank sie mit einem Stohhalm. Maria war die Attraktion unter den anderen Gästen: 16 Rollstuhlfahrer auf einem Haufen ist ja sowieso schon ein seltener Anblick, aber dann wird eine auch noch gefüttert… Ein Mann starrte uns bestimmt 10 Sekunden lang mit offenem Mund an. Irgendwann hielt ihm Sofie auf eine Entfernung von geschätzten acht Metern eine Gabel mit drei aufgespießten Pommes am ausgestreckten Arm entgegen und sagte: „Wollen Sie auch was?“ – In dem Moment drehte er sich um und merkte, dass die Kassiererin schon seit einer halben Minute auf ihn wartete und ihn bereits mehrmals angesprochen hatte, was er denn wünschte, denn er wäre dran.

Vor dem Kino wird gebaut, ein Wirrwarr aus Baustellenzäunen und Absperrungen galt es zu umfahren, natürlich war überall Kopfsteinpflaster oder nicht geräumter Schnee. Um 22.30 Uhr kamen wir aber dennoch im Kino an. Einige wollten sich beim Popcorn anstellen, andere mussten noch auf die Toilette. Unter anderem Maria, und das war ohne Pflegerin gar nicht so einfach. Nadine konnte sie wegen ihrer eigenen Behinderung nicht hochheben. Also hatten die beiden, die am stabilsten im Stuhl sitzen, das Los gezogen: Sofie und ich. Wie es am Ende funktionierte, führe ich lieber nicht weiter aus. Ich sag nur so viel: Es hat funktioniert und zum Glück hat es keiner gesehen.

Der Film, „ziemlich beste Freunde“, war genial. Ich habe lange nicht so einen tollen Film gesehen. Zeitweise ist er sehr rührend, zeitweise bedient er diejenigen Klischees, über die man als Rollifahrer bestens lachen kann, überwiegend ist er aber so lustig, dass man minutenlang aus dem Lachen nicht mehr rauskommt. Wir haben fast unter den Stühlen gelegen. Einfach irre und unbedingt sehenswert. Wir hatten Tränen in den Augen und wussten am Ende nicht mehr, ob sie vom Lachen oder vom Weinen kamen. Keine Action, keine Schrecksekunden, nicht unter der Gürtellinie … absolut nach meinem Geschmack.

Alle 17 fanden den Film toll. Und nicht nur wir: Der Saal war bis auf den letzten der 961 Plätze ausverkauft. Am Ende klatschten alle – und es war keine Premiere.

Der krönende Abschluss kam von Maria: „Bei unserer Klo-Aktion dachte ich schon, ekliger kann der Abend nicht mehr werden. Und dann kam die Szene in dem Film, wo es darum ging, wer dem Hauptdarsteller den Enddarm leert.“ – Wie war das mit der digitalen Ausräumung? Hier wird die Wurst noch mit der Hand gemacht! In diesem Sinne: Guten Appetit!

Sara

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Ich hatte noch „Schulden“ offen und daher konnte ich absolut nicht „Nein“ sagen, als ich heute morgen gefragt wurde, ob ich jemandem bei seiner Schwimmgruppe helfen könnte. Davon abgesehen, dass ich das gerne mache, hatte ich anfangs Schiss, damit überfordert zu sein.

In dem Krankenhaus, in dem ich einige Monate meines Lebens verbracht hatte, hat mein Sportverein einige Gruppen installiert. Ein wesentlicher Nutzen: Die Patienten sollen schon während der Behandlung oder Reha mit anderen Rollifahrern in Kontakt kommen. Für meinen Verein ist es natürlich super, diese erstklassigen Anlagen für das eigene Sportangebot nutzen zu dürfen.

Zu einer Schwimmgruppe sollte heute erstmals ein Mädchen, Sara, kommen, das wegen einer Zerebralparese (Spasti nach Hirnverletzung) im Rolli sitzt. Elf Jahre alt, verhältnismäßig stark eingeschränkt, könne nicht frei sitzen, müsse im Rolli angeschnallt werden, damit sie nicht rauskippt, Gehen oder Stehen sei völlig unmöglich und überhaupt … Muddi schiebt, Muddi füttert, Muddi zieht an und zieht aus, Muddi dreht sie sogar im Bett um – sagt Muddi. Physio- und Ergotherapie laufen seit Jahren, durch die Physiotherapie mache sie große Fortschritte beim Greifen und in der Bauchlage und ihr Muskeltonus in Beinen und Armen sei deutlich zurückgegangen. Geistig sei sie völlig normal entwickelt, eher überdurchschnittlich.

Bin ich Therapeutin? Ein eindeutiges Nein. Daher auch meine Befürchtung, mit dieser Aufgabe überfordert zu sein. Anders sah das unser Chef, der mit den sieben anderen Jungs und Mädels im großen Schwimmbecken nebenan war, während er mich ins flache (120 cm), warme, kleine Becken schickte – ganz alleine. Nun gut, eine Aufsicht saß in einem Glaskasten und strickte. Aber die beaufsichtigte eben nur und würde uns vor dem Ersaufen retten. „Was soll ich denn mit ihr machen?“ fragte ich ihn vor der Stunde. – „Dir fällt schon was ein. Wenn sie am Ende der Stunde im Wasser ist und sich an Dir festhält, bin ich glücklich. Dafür gibt es kein Rezept. Wir therapieren nicht, wir verschenken nur Selbstbewusstsein. Also geht baden, spielt miteinander und lass sie die Stunde in einer tollen Erinnerung behalten. Egal wie.“

Das alles war leichter gesagt als getan: Immerhin konnte Sara nicht sitzen, ohne nach vorne oder hinten umzukippen und sich auch nirgendwo anlehnen oder selbst festhalten. Angeblich. Und Muddi stand die ganze Zeit daneben und nervte, indem sie ihrer Tochter ständig helfen wollte und ihr jede Bewegung quasi abnahm. Also schickte ich als erstes die Mutter raus: „Wollen wir die Mama mal los schicken, dass sie mal schaut, wo wir am Ende der Stunde ein Eis herbekommen?“ – Muddi guckte mich entsetzt an, Sara nickte aufgeregt und rief: „Tschüß, Mami! Wir schaffen das auch alleine!“ Ich musste herzhaft lachen und hätte sie knuddeln können. Muddi fand es kaum lustig, war eher besorgt.

Sara saß noch angeschnallt in ihrem Rolli. Ich fuhr mit ihr an die Stirnseite des Beckens, gab ihr ein langes Seil in die Hand. „Nicht fallen lassen“, sagte ich ihr. „Schön festhalten.“ Ich rollte mit dem anderen Ende des Seils um das komplette Becken herum. Nach dem dritten Versuch schaffte sie es, es nicht aus der Hand gleiten zu lassen. Indem sie nicht quatschte, sondern sich konzentrierte. Ich setzte mich auf den Beckenrand, krabbelte auf eine schwimmende Styroporplatte und forderte Sara auf, mich zu ziehen. Ich musste noch zwei Mal aus dem Wasser wieder raus und ihr das Seil wiedergeben, das sie fallen ließ, dann hatte sie den Dreh aber raus und zog mich über das Wasser zu sich hin. Vor lauter Aufregung kreischte sie wie am Spieß und rief: „Hihi, ich bin dein Kapitän!“

Ich antwortete: „Nö, du bist nur eine Matrosin, die das Schiff durchs Wasser zieht. Kapitän bin ich, denn ich bin auf dem Schiff.“ – Aus ihrem Lachen wurde eine ernste Miene. Am liebsten hätte sie mir wohl Spielverderberei an den Kopf geworfen. Bevor es dazu kommen konnte, fragte ich sie: „Willst du mit aufs Schiff?“ – Sie nickte eifrig. – „Dann musst du mir aber helfen. Ich kann dich nicht tragen und Mama geht ein Eis suchen.“ – „Verflixt! Nie ist sie da, wenn man sie braucht!“ – „Genau. Wir setzen dich gemeinsam vom Rolli auf den Beckenrand. Du hältst dich am Geländer fest, damit du nicht umkippst. Schaffst du das?“ – Sie nickte. Auf dem Beckenrand war ein Rutschfläche, über die man vom Rolli ins Wasser kommen konnte. Ich stellte ihre Beine auf den Fußboden, unterstützte sie an der Hüfte, sie zog sich am Geländer hoch und plumpste mit dem Po auf das Rutschblech. Autsch. Sie gackerte aber, also war alles gut.

„Du musst dich jetzt ganz doll festhalten. Ich kann dich nicht halten, ich muss mich selbst umsetzen.“ – „Keine Panik!“ sagte sie. Soviel zum Thema „Unselbständigkeit“. Ich kletterte ins Wasser, schob die Styroporplatte auf den (an dieser Stelle extra breiten) Beckenrand, legte mich mit dem Rücken nach unten auf die Platte und zog Sara zu mir auf den Bauch. Sie legte sich direkt auf mich drauf, ihren Kopf auf meine Brust. „Du musst jetzt ganz still liegen bleiben, okay? Nicht dass unsere Mission hier kentert.“ – „Klaro. Ich hoffe, ich krieg keine Spastik.“ – „Ich halte dich fest, okay?“ – „Ich halte mich auch fest“, sagte sie, war aber viel zu aufgeregt, um fest zuzugreifen. Ich schob die Styroporplatte langsam und mit viel Kraft auf das Wasser. Hauptsache, das Scheißding kippt jetzt nicht um oder geht unter, dachte ich mir. Aber nein, das tat es nicht. Es sank etwas ins Wasser ein, aber es trug uns beide. Sara lag ganz ruhig auf mir drauf, bewegte sich keinen Millimeter (was für einen Spasti in so einem Moment sehr anstrengend sein kann) und ich paddelte uns mit den Händen durch das Wasser.

„Ich höre dein Herz klopfen“, sagte sie plötzlich. „Hört sich mein Herz genauso komisch an?“ – „Könnte sein. Schlägt mein Herz denn doll?“ – „Sehr doll.“ – Wir fuhren ein paar Mal gegen den Beckenrand und Sara gackerte über meine Unfähigkeit, das Boot so zu steuern, dass es keine Kollision gab, dann erzählte ich ihr, dass ich mich auf die Seite drehen würde, sie neben mich legen und von unserem Boot langsam ins Wasser rutschen würde. Sie müsse sich von der Seite wieder auf den Bauch drehen, sonst plumpst sie auf der anderen Seite ins Wasser. Sie schaffte es auf Anhieb! Und lag alleine auf dieser Styroporplatte, während ich schwimmend ihr Boot durch das Becken schob. Und natürlich noch den einen oder anderen Unfall mit dem Beckenrand provozierte. Zu Saras Belustigung.

Dann bot ich ihr an, ins Wasser, aber auf meinen Arm zu kommen. Nur dass ich sie nicht halten könnte, wegen meiner Behinderung. Ich brauchte die Arme ja zum Schwimmen. „So eine Behinderung ist Scheiße oder?“ – „Naja, man muss manchmal Umwege gehen und braucht die Hilfe von anderen. So wie ich jetzt mal deine Hilfe brauche, weil ich dich nicht festhalten kann, müsstest du dich mal selbst an mir festhalten.“ Und einige Minuten später hatte sie so viel Vertrauen und war so ruhig, dass ich in Rückenlage schwamm und sie sich auf mir drauf liegend an mir festgeklammert hatte. Ich hatte Mühe, meinen Kopf über Wasser zu halten und bekam fast Panik, abzusaufen, aber Sara gefiel die ganze Sache und aus ihr könnte mal eine richtige Wasserratte werden.

„Hast du schonmal gehört, was für Geräusche es unter Wasser gibt?“ fragte ich sie und legte meinen Kopf seitlich auf die Wasseroberfläche, als wir uns wieder am Beckenrand festhielten. Sara machte es mir nach. „Das klingt lustig.“ – „Und hast du schonmal geschaut, ob man unter Wasser was sieht?“ – Sie schüttelte den Kopf. Ich erklärte ihr, dass wir zusammen tauchen, uns kurz unter Wasser anschauen, dann wieder hochkommen. Und weil wir keine Fische sind, darf man unter Wasser keine Luft holen. Sonst verschluckt man sich. „Traust du dir das zu?“ – „Ich bin doch kein Baby mehr!“, war die prompte Antwort.

Wir tauchten immer und immer wieder, sprachen unter Wasser miteinander und es funktionierte. Sara verschluckte sich am Anfang einmal, aber das war, wie sie selbst sagte, ihre eigene Blödheit, denn ich hatte doch gesagt, sie solle nicht einatmen. „Wer nicht zuhört, muss leiden“, war ihr Spruch dazu und sie probierte es gleich noch einmal. Überhaupt mangelte es nicht an irgendwelchen Sprüchen: „Wenn das hier alles schiefgeht heute, kommst du dann morgen zu meiner Beerdigung?“

Ich umklammerte Sara von hinten, in den Händen eine Schwimmnudel, die ich mir in den Nacken legte. Jetzt hatte ich zwar ihre Haare im Gesicht und bei einer von ihren drei Millionen Streckspastiken donnerte ihr Kopf ziemlich übel gegen mein Kinn, aber wir trieben im Wasser und Sara hatte den Job, mit den Beinen so zu strampeln, dass wir rückwärts schwimmen würden. Als Spasti konnte sie ihre Beine bewegen, nur eben eher nicht kontrolliert. Zum Strampeln reichte es aber und wir drehten sechs Runden durchs Wasser. Dann kam: „Ich muss mal auf die Toilette.“ – Immerhin schön, dass sie Bescheid sagte.

Aber jetzt, wo alles so gut klappte, hätte ich es schöner gefunden, wenn sie die letzten 15 Minuten noch ausgehalten hätte. Ich bekomme sie alleine nur schwer aus dem Becken, hätte das lieber der Mutter überlassen. Ich bekomme sie nur schwer vom Rolli auf ein Toilettenbecken umgesetzt, geschweige denn, dass ich gerne mit nackten Kindern, noch dazu mir unbekannten, in abgeschlossene Räume gehe. Aber es half nichts, sie sagte, dass es sehr dringend sei und so schwamm ich mit ihr zum Ausstieg. Ich drückte sie hoch, so dass sie auf der Rutschplatte saß, bat sie, sich festzuhalten. Sara war nur so hibbelig, dass sie sich nicht konzentrieren konnte. Immer, wenn ich dachte, sie hält sich fest, ließ sie wieder los, wollte sich in den Schritt fassen, rutschte wieder ins Wasser. Und gackerte. Ich winkte die Schwimmhallenaufsicht zu mir heran. „Könnten Sie sie einmal festhalten, während sie hier sitzt?“ – „Tut mir Leid, das ist mir untersagt. Dafür bin ich nicht ausgebildet.“ – „Sie sollen doch nur einmal festhalten, bitte“, erwiderte ich. Ich war doch auch nicht ausgebildet. – „Sorry, ich darf das nicht. Wenn dabei was passiert, verliere ich meinen Job.“

Komische Welt. Ich bedankte mich, die Aufsicht zog sich wieder zu ihren Stricksachen zurück und Sara und ich schauten uns an. Ich versuchte herauszufinden, ob die Muddi schon in Sichtweite war. War sie nicht. Ich versuchte es noch ein Mal, Sara auf das Rutschbrett zu heben. Diesmal in Bauchlage. Halt Dich fest! „Das ist noch fieser, sorry!“, sagte sie und ließ sich wieder ins Wasser gleiten. Ich musste sie ständig wieder auffangen und hatte schon Affenarme. Die andere Gruppe war noch beschäftigt, von denen schaute auch niemand herüber, die Muddi war immernoch nicht zu sehen, die Aufsicht strickte. Sara klammerte sich an mir fest und während ich mir überlegte, ob ich sie sich im Wasser festhalten lassen soll, mich mit dem Po auf das Rutschbrett setze und sie dann hinter mir herziehe, wurde es plötzlich ganz heiß an meinem Bauch. Lalala… und es nahm kein Ende!

So. Dann konnten wir ja auch noch die letzten 10 Minuten nutzen und weiter schwimmen üben. „Ich möchte, dass du dich im Wasser auf den Rücken legst auf meine Hand“, sagte ich. „Dabei musst du aber wieder ganz still liegen bleiben.“ – „Kannst du mir was versprechen?“ – „Kommt drauf an, was.“ – „Doch, du musst es mir versprechen. Sag einfach ‚Ja‘, okay?“ – „Okay: Ja.“ – „Du darfst meiner Mami das von eben nicht erzählen, okay? Sie hat mir das nämlich eigentlich vorher verboten. Sie hat gesagt: Du bist da nicht in deiner eigenen Badewanne, sondern da schwimmen noch andere Leute mit.“ – Ich musste schon wieder lachen. „Ich bin ja gewissermaßen auch Schuld, du hast ja rechtzeitig Bescheid gesagt. Aber ich konnte dich nicht aus dem Wasser heben.“ – „Du hast mir aber versprochen, es nicht zu erzählen.“ – „Wird Muddi böse?“ – „Bitte erzähl es nicht.“ – „Nein, mach ich nicht. Hab aber trotzdem nicht solche Angst davor. Sie würde dich schon nicht umbringen.“ – „Weißt du das?! Du kennst meine Mami nicht.“ – „So schlimm?“ – „Noch viel schlimmer.“ – Auweia.

Sara schaffte es, sich auf meine Hand zu legen. Nase aus dem Wasser. Sie schaffte es, sich so weit unter Kontrolle zu bekommen, dass sie keine Spastik bekam, während sie im Wasser lag. Das war eine sichtbar große Anstrengung für sie. Sie war hochkonzentriert, ihre Augen bewegten sich aufgeregt hin und her. Es war noch nicht so weit, dass ich die Hand unter ihr weglassen konnte, ich wollte auch kein negatives Erlebnis in den letzten Minuten haben, aber ich bin mir sicher: Beim nächsten Mal würde sie das schaffen.

Muddi kam in die Halle, hatte blaue Überzieher über den Schuhen und ein total verquollenes Gesicht. „Hast du geweint, Mami?“, fragte Sara. Muddi heulte gleich wieder: „Du hast das so schön gemacht, meine Prinzessin.“ – „Du sollst nicht immer Prinzessin zu mir sagen, wenn andere daneben stehen! Das ist end-peinlich!“ – „Ich hab dich so lieb, meine Prinzessin. Das hast du so toll gemacht.“ – „Das war alles ganz easy, Mama.“ – „Und Sie haben das auch so toll gemacht, ich hätte nie geglaubt, dass das so gut klappt.“

Eigentlich wollte ich antworten: „Wir waren doch nur eine Stunde schwimmen.“ Aber ich verkniff mir das und bedankte mich artig. Nun kam noch der Knüller zum Abschied: „Ich hab die ganze Zeit von dem Fenster da oben zugeschaut. Am Anfang wollte ich andauernd helfen kommen, aber nachher habe ich gesehen, dass ihr doch alleine zurecht gekommen seid. Man muss nur Geduld haben und die habe ich so oft nicht.“ – „Konntest du uns hören, Mami? Oder nur sehen?“ – Sara hatte das P in den Augen. – „Nur sehen“, sagte Muddi, „aber ich hab gesehen, was ich nicht hören darf.“ – Auweia. Da sie aber nicht mehr weiter drauf einging, sondern noch 1000 mal betonte, wie toll Sara das gemacht hatte und wie stolz sie auf ihre Tochter war, denke ich, ist das Thema damit abgehakt.

Als Muddi mit Sara duschen ging, ließ ich mich in das tiefe, kalte Becken zu den anderen fallen und schwamm noch einige Bahnen mit. „Na? Hat alles geklappt?“, fragte mich unser Häuptling. – „Hörst du sie nicht aus der Dusche krähen?“ – „Haste fein gemacht. Bin stolz auf dich.“ – Eigentlich wollte ich antworten: „Wir waren doch nur eine Stunde schwimmen.“ Aber ich verkniff mir das und bedankte mich artig.

Großbrand und Fallgrube

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Dass der Freitag anstrengend werden würde, war mir schon am Donnerstagabend klar. Dass er aber so chaotisch werden würde, war absolut nicht zu erwarten. Es war mal wieder ein Tag, von deren Sorte man so schnell keinen zweiten braucht – bis auf sein Happy End.

Unter anderem Simone, Cathleen und ich waren am Freitagabend zum Geburtstag von Sarah eingeladen. Sie wollte reinfeiern. Schlafplätze gab es keine mehr, wenigstens ein Bier wollte ich mal trinken, insofern kam auch das Autofahren nicht mehr in Frage. Die S-Bahn fuhr nur noch bis kurz vor 1 Uhr nachts auf dem Streckenabschnitt (sonst fahren ja die Bahnen die ganze Nacht, aber eben auf diesem Streckenabschnitt nicht) – also mal wieder ein klarer Fall für einen großen Van, in dem man schlafen kann.

Es wäre kein Problem, mit dem Auto zur Schule zu fahren und anschließend damit zum Training und danach zu der Feier. Nur würde ich an dem Freitag bis 17.00 Uhr Schule haben und um 17.30 Uhr bereits in der Holstenstraße im Wasser sein wollen, was mit dem Auto unmöglich ist, da ich entweder über die A7 in Richtung Elbtunnel (bis 2012 ist noch eine Röhre gesperrt und daher um die Zeit dort regelmäßig zwischen 10 und 30 Kilometer Stau) oder über die B447 stadteinwärts fahren muss. Und die B447 ist um die Zeit ebenfalls dicht, weil die ganzen Leute, die glauben, dass sie durch die Stadt den Stau auf der A7 umfahren können, hier rumstehen. Insofern braucht man im abendlichen Berufsverkehr für eine Strecke, für die man nachts 13 Minuten braucht, zwischen 90 und 150 Minuten. Kein Scherz und nicht übertrieben.

Zweites Problem: Ich komme mit dem Van nicht in die Tiefgarage unter dem Schwimmbad (zu niedrig) und weitere rolligerechte Parkplätze sind dort weit und breit nicht. Daher blieb mir nur eine Möglichkeit: Das Auto morgens in die Nähe der Party stellen, mit Bus und Bahn zur Schule, mit Bus und Bahn zum Schwimmen, mit Bus und Bahn zur Party und abends im Auto pennen. Da ich erst um 10.40 Uhr in der Schule sein musste, war das auch kein Problem. Viel mehr wäre interessant gewesen, ob ich um die Zeit vor der Schule noch einen Parkplatz bekommen würde, denn die inzwischen sechs Behindi-Plätze sind regelmäßig von Leuten zugeparkt, die da nichts zu suchen haben.

Egal. Das ist alles nicht so wild, als dass man darüber einen Blog-Eintrag erstellen müsste. Dass im Festland mal wieder die einzige Behinderten-Toilette außer Betrieb war und wir alle brav unter der Dusche gestrullert oder kathetert haben, interessiert vermutlich auch nur die Fetischisten. Immerhin soll das gut gegen Fußpilz sein.

Nach dem Schwimmen standen Cathleen, Simone und ich im Bahnhof Holstenstraße. Wir hatten uns extra beeilt. Die Party sollte um 20 Uhr losgehen. Da wir erst um 19.00 Uhr aus dem Wasser kamen, war es bereits 19.40 Uhr. Auf dem Bahnsteig waren Hunderte Leute, und uns wurde schnell klar: Irgendwas stimmt hier nicht. Auf der Anzeigetafel stand nur: Bitte Ansage beachten! Super. „Wegen eines Polizei-Einsatzes im Hauptbahnhof ist der Zugverkehr zur Zeit unterbrochen.“ Weitere Informationen gab es nicht.

Der Bahnhof Holstenstraße liegt oberhalb der Straße. Unten brausten jede Menge Einsatzfahrzeuge mit Blaulicht und Sirene durch. Irgendetwas roch angebrannt. Als würde ein Mülleimer brennen. Da wir nicht in einer Tunnelstation waren, kratzte uns das nicht sonderlich, die Dinger brennen ja öfter mal. Es war auch nicht eindeutig zu erkennen, woher dieser Gestank kam. Verstärkte Aufmerksamkeit bekam kurz danach auch die Anzeigetafel, die ankündigte, dass der nächste Zug nach Altona in 8 Minuten kommen sollte. Vielleicht kämen wir ja doch noch einigermaßen pünktlich.

Irrtum! Plötzlich kam ein kräftiger Windzug und mit ihm ein beißender Qualm über den Bahnstein geweht. Man konnte die Hand nicht mehr vor Augen sehen und musste sich die Jacke vor das Gesicht halten, um überhaupt noch Luft zu kriegen. Von einer Sekunde auf die nächste war der Bahnsteig völlig verqualmt. Die Leute verließen panikartig den Bahnhof. Nach ein paar Sekunden zog der Rauch weiter. Man bekam wieder besser Luft. Simone hatte Schiss: „Ich will hier weg.“ Tja, nur wie?! Aufzug im Brandfall nicht benutzen. Er könnte stehen bleiben oder in ein Stockwerk fahren, das noch verqualmter ist. Dort schließt sich die Tür nicht mehr wegen des Qualms zwischen der Lichtschranke und man erstickt. Oder so ähnlich. Gilt das auch für Aufzüge im Freien? Die Frage erübrigte sich, denn der Aufzug funktionierte nicht.

Die zweite beißende Qualmwolke wehte herüber. Immer mehr Tatütata kam herangefahren. Dann eine Lautsprecherdurchsage: „Wegen eines Feuerwehr-Einsatzes halten im Bahnhof Holstenstraße derzeit keine Züge. Reisende werden gebeten, den Bahnsteig aus Sicherheitsgründen zu verlassen. Benutzen Sie bitte keine Aufzüge.“ Der erste Zug nach dem Polizei-Einsatz am Hauptbahnhof war noch nicht mal da. Super. Und nun?

Inzwischen waren wir fast die einzigen auf dem Bahnsteig. Cathleen drückte den Notrufknopf an der Info-Säule. Es tutete und tutete und tutete. Und tutete. Und tutete. Und blinkte. Und tutete. Dann hörte das Blinken auf und es tutete nicht mehr. Cathleen drückte nochmal. Gleiches Spiel. Es tutete 30 Sekunden, niemand ging ran, Stille. Abermals wehte beißender Qualm über den Bahnsteig. Es war nicht zu erkennen, woher das kam. Man bekam keine Luft mehr. Wir hielten uns die Jacken vor das Gesicht. Wir mussten hier weg. Fest stand, dass der Qualm von überall herkam. War es schlauer, auf dem Bahnsteig zu bleiben oder sollten wir es wagen, uns mit den Rollstühlen rückwärts und mit beiden Händen am Geländer festgekrallt stufenweise die Treppen runterzulassen? Das dauert bei 70 Stufen seine Zeit, macht tierisch Lärm, ist anstrengend und geht unheimlich aufs Material. Abermals kam eine beißende Qualmwolke über den Bahnsteig geweht. Nein, wir mussten hier weg.

Es war absolut nicht zu erkennen, woher dieser Qualm kam. Ob von unten oder aus der Straße. Was, wenn wir auf der Treppe keine Luft mehr bekommen würden? Wenn wir das Geländer loslassen, fallen wir die 70 Stufen runter. Cathleen griff zum Handy. Wählte 110. Kam in die Warteschleife. Hallo?! Notruf? Warteschleife?! Wo sind wir hier eigentlich? Nach 30 Sekunden ging jemand dran. „Wir sind mit drei Rollstuhlfahrern auf dem Bahnsteig in der Holstenstraße, kommen hier nicht weg. Aufzug geht nicht, Treppen kommen wir nicht runter, hier ist beißender Qualm, wir kriegen kaum Luft.“ Cathleen bekam als Antwort: „Bleiben Sie ruhig. Halten Sie sich etwas vor das Gesicht. Hilfe kommt sofort.“ Was für eine Scheiße!

Sie kam sofort. Es dauerte keine Minute, da kam eine Polizeistreife im Laufschritt die Treppe hoch. Ein Mann, eine Frau. Abermals kam eine beißende Qualmwolke über den Bahnsteig gezogen. Der Mann brüllte mich an: „Kann ich dich über die Schulter werfen und runtertragen oder mach ich da was kaputt?“ – „Nein, nein, geht nichts kaputt.“ Der Typ schnappte mich am Hosenbund, hob mich aus dem Stuhl, warf mich über seine Schulter, ich hing mit dem Kopf abwärts an seinem Rücken, er torkelte mit mir die Treppe runter. Nur nicht stürzen jetzt. Ich hörte seine Kollegin in seinem Funkgerät. „Benötigen dringend weitere Kräfte für den Bahnhof Holstenstraße. Der Bereich ist völlig verqualmt. Es halten sich noch mehrere Personen dort auf. Wir tragen gerade einige Mädchen im Rollstuhl dort weg.“

Der Typ joggte mit mir auf der Schulter in Richtung Ausgang Neue Flora, setzte mich auf die Erde und lehnte mich gegen eine Mauer. „Kannst du einen Moment so sitzen bleiben, ich hole erstmal deine Freundin.“ Seine Kollegin kam mit Simone auf dem Arm angelaufen. Setzte sie unsanft neben mich und war wohl gerade über das Funkgerät angesprochen worden. Sie laberte irgendwas da rein und lief wieder weg. Einen Moment später kam der Typ wieder mit Cathleen auf der Schulter. „Die Rollstühle kommen gleich nach, wir müssen erst einmal den Bahnsteig absuchen, ob da noch weitere Personen sind.“ Weitere Polizisten kamen und sperrten die Eingänge mit rot-weißem Flatterband. Eine Frau im Sanitäter-Outfit kam zu uns, ob wir Atembeschwerden hätten oder Kratzen im Hals. Nein, hatten wir alles nicht. Dann bekamen wir endlich unsere Rollstühle wieder. Die Polizisten wollte unsere Personalien haben. Nur zur Sicherheit, falls noch etwas sein sollte. In der Zwischenzeit kamen immer mehr Feuerwehrautos und immer mehr Polizeiwagen. Ein Typ fing an, uns zu fotografieren. Ich konnte gerade noch rechtzeitig meinen Arm vor das Gesicht halten. Das fehlte noch!

Bevor wir dann endlich dort weg durften, habe ich noch ein Foto geschossen. Noch Fragen?


Da keine Züge mehr fuhren und auch die Straßen gesperrt waren, mussten wir ein Stück zurück zur Sternbrücke fahren und dort in den Bus nach Altona. Als wir dann endlich im Zug in Richtung Sarah saßen, war es bereits kurz nach 9. Und es dauerte noch bis kurz vor 10, bis wir endlich dort ankamen, wo wir aussteigen wollten. Zum Glück war der Bahnhof rollstuhlgerecht und nicht von Aufzügen abhängig, da hier lange Rampen gebaut worden waren. Das allerdings schon vor schätzungsweise 20 Jahren. In einer Kehre geriet mein Vorderrad in ein sieben Zentimeter tiefes Loch und ich fiel mit dem Kopf voraus aus dem Stuhl, der natürlich bei so einem Stoß schlagartig auf 0 abbremste. Zum Glück blieb ich mit den Beinen nirgendwo hängen und ich schaffte es auch, mich so abzufangen, dass ich nicht mit dem Gesicht über irgendwelche Steine rutschte. Und der Mutterboden an den Seiten war weich. Ich war gerade einigermaßen sicher gelandet, als ich merkte, dass Cathleen hinterhergeflogen kam. Simone war die Dritte in der Reihe, sie konnte gerade so eben noch bremsen.

Uns ist nichts passiert. Außer dreckige Klamotten, dreckige Hände und schmutzige Gesichter. Die Klamotten stanken ohnehin schon nach Großbrand, insofern mussten die sowieso in die Wäsche. Und im Auto lagen Wechselsachen für alle Leute. Eigentlich erst für nach der Party, aber das war jetzt egal. Sarah ließ uns alle drei erstmal duschen und frische Sachen anziehen. Und dann hatten wir eine absolut tolle Party. Haben ganz viel gequatscht, gespielt, gegessen, getrunken, gefeiert, gesungen (SingStar ist immernoch in…), gelacht und irgendwann dann auch zu Dritt im Auto geschlafen.

Als wir am nächsten Tag um kurz nach 11 endlich wieder wach waren, konnte ich mir nicht verkneifen, auch noch ein Foto von unserer in der Dunkelheit kaum sichtbaren Fallgrube zu machen. Um der S-Bahn Hamburg mal einen netten Hinweis zu geben.

Eine Nacht am Strand

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Noch sind Sommerferien. Das muss man ausnutzen. Vor allem, wenn so geniales Sommerwetter ist und dann auch noch die beste Freundin Geburtstag hat. Es war nicht so einfach, eine Strandparty zu organisieren, ohne dass die Hauptperson davon etwas mitkriegt, denn immerhin musste ja auch die Mutter eingeweiht werden.

Während Cathleen am Morgen bei ihrer Oma im Seniorenheim war, um sie zu besuchen, fuhren Sofie und ich zu ihr nach Hause, luden einige Sachen ein, die die Mutter zusammengepackt hatte. Dann düste Sofie mit meinem Auto *bibber* wieder weg und ich unterhielt mich ein bißchen mit der Mutter und den zwei Schwestern bei zwei Gläsern Apfelschorle.

Als Cathleen wiederkam und mich sah, begrüßten wir uns, ich erwähnte aber nichts vom Geburtstag, sondern meinte nur: „Ich bin gerade zufällig in der Gegend und wollte dich mal spontan besuchen kommen.“ Ich merkte, dass die Frage einen Moment in ihrem Kopf hin und her kreiste, bevor sie sie aussprach: „Sag nicht, du hast meinen Geburtstag vergessen.“ Ich stieg voll drauf ein. „Hattest du etwa gestern?“ LOL

Was sich liebt, das neckt sich. Nach einem kurzen Ringkampf hatte sie mir verziehen. Dass es noch dicker kommen sollte, ahnte sie noch nicht. Ich sagte ihr, ich würde sie auf ein Eis einladen. Am Bahnhof kenne ich einen guten Eisladen. Die Mutter sagte: „Ich fahr euch hin.“ Cathleen schaute ungläubig aus der Wäsche. „Hier ist doch ein Eisladen um die Ecke?“ – „Aber der am Bahnhof ist viel leckerer.“

Also die Rollstühle ins Auto verfrachtet, zum S-Bahnhof gefahren, ausgeladen. „Und wo ist nun der Eisladen?“ – „Ja nicht hier, in Hamburg am Hauptbahnhof!“ – „Wie, wir wollen jetzt nach Hamburg? Du weißt schon, dass ich heute um 16 Uhr einige Leute eingeladen habe? Meinst du nicht, dass das etwas knapp wird?“

Nee. Wir saßen in der S-Bahn und erreichten 45 Minuten später Hamburg Hauptbahnhof. Da Cathleen -wie immer- ziemlich viel zu erzählen hatte, verging die Fahrt schnell. Wir stiegen aus, aber anstatt zu einem Eisladen zu gehen, fuhr ich auf ein anderes Gleis und wollte in den dort stehenden Zug einsteigen, bat den Zugführer, die Rampe auszufahren. „Wo um alles in der Welt willst du hin? Wir sind doch nie im Leben um 16 Uhr wieder zurück! Was heckst du hier mit mir aus?“

„Ich habe alles im Griff. Ich habe mich kurzfristig umentschieden. Ich kenne noch einen viel besseren Eisladen.“ – „Ach, verarsch mich nicht, wo fahren wir hin?“ – „Lass dich überraschen!“ – „Aber was ist mit den Leuten?“ – „Ich habe alles im Griff. Entspann dich mal.“ – „Aber meine Mutter? Sag nicht, die ist eingeweiht und hat mitgemacht.“ Ich grinste.

Der Zugbegleiter durchkreuzte meinen Plan ein wenig. Er fragte bei der Kontrolle der Wertmarken, wo wir aussteigen. Ich sagte: „Sie hat heute Geburtstag. Das ist noch eine Überraschung.“ – „Auf solche Spielchen habe ich keinen Bock. Schließlich brauchen Sie Hilfe beim Aussteigen und das möchte ich rechtzeitig wissen.“ – „Endstation“, erwiderte ich, in der Hoffnung, dass es ihm reichte. Nein, er musste es nochmal verdeutlichen: „Also Lübeck-Travemünde Strand?“ Ich war übelst angepisst. „Jaha.“

Cathleen fragte sofort: „Fahren wir etwa an den Strand?“ – „Wir fahren Eis essen“, erwiderte ich. Cathleen konnte ihre Neugier kaum beherrschen: „Och menno, sag doch mal!“ In Travemünde stiegen wir in einen Bus nach Neustadt. „Ich sehe die Ostsee!“ quiekte Cathleen. „Gehen wir schwimmen?“

„Du hast doch gar keine Badesachen dabei“, erwiderte ich. Cathleen, völlig happy: „Das ist mir doch scheiß egal. Gehen wir schwimmen? Ich will unbedingt schwimmen!“ Nach einiger Zeit kamen wir in Haffkrug an. An der Bushaltestelle warteten bereits: Simone, Sofie, Luisa (mit Freundin), Lina, Liam, Frank, Juliane, Schatzi Kevin, Isabel (gennant Isi, kannte ich noch nicht), Steffi und Sarah (kannte ich ebenfalls noch nicht) sowie Steven, der Freund von Sarah.

15 aufgedrehte Leute, davon 13 im Rollstuhl – die Urlauber, die an uns vorbei gingen, glotzten, als wären gerade Außerirdische gelandet. „Muddi guck mal“, sagte ein älterer Herr deutlich vernehmbar. Liam, neben Luisas Freundin der einzige Läufer, erwiderte wie aus der Pistole geschossen: „Im Namen der Anstalt heiße ich euch alle herzlich willkommen auf unserem heutigen Gruppenausflug.“ Isabel kippte fast aus dem Rollstuhl vor Lachen. „Bitte tragt eure grüne Ausgangskarte an einem Bändsel für jedermann sichtbar um den Hals und lauft nicht ohne zu gucken auf die Straße.“

Dann konnte die Party ja beginnen. „Luisas Freundin hat dir schon einen Kuchen gebacken, hier auf dem Parkstreifen, da ist aber leider vorhin ein Auto drübergefahren“, sagte Liam und deutete auf einen kleinen Sandhaufen, durch den sich eine Reifenspur zog. Cathleen kam aus dem Gackern gar nicht mehr heraus. Nur langsam bewegten wir uns Richtung Strand. Die Pächterin, die die Strandkörbe vermietete, hatte bereits alles im Griff: „Ihr bekommt vier Körbe hier direkt an den Holzbohlen. Dann kommt ihr mit den Rollstühlen bis ans Wasser. Zwei sind Dauergäste, die kommen heute nicht, zwei andere sind kurzfristig umgezogen in freie Strandkörbe ein Stück weiter. Das war kein Problem.“ Ich mag sowas nicht, aber es war nicht mehr zu ändern. „Und wer ist das Geburtstagskind?“ Cathleen streckte grinsend ihren Finger Richtung Himmel.

Dann bezogen wir unsere Strandkörbe. Cathleen sagte: „Hättest du mal irgendwas angedeutet, hätte ich ja wenigstens … was ist das für ein Rucksack? So einen habe ich doch … ist das meiner? Nee oder?“ Ich grinste. „Cathleen möchte schwimmen gehen, aber mit Klamotten“, rief ich Liam und Luisas Freundin zu. „Nein!!!“ kreischte Cathleen. Da war nichts mehr zu machen. Liam und Luisas Freundin hatten sie bereits an Armen und Beinen gepackt, zerrten sie aus dem Rollstuhl, Simone nahm ihr im Vorbeischleifen noch die Brille, das Handy, ihre Papiere und die Schuhe ab. Die Leute um uns herum starrten mit offenen Mündern. Liam und Luisas Freundin gingen knietief in die relativ ruhige Ostsee, zählten bis drei, ließen sie fallen und liefen davon.

Es dauerte drei Sekunden, dann tauchte sie auf. Kreischend. „Scheiße ist das kalt!“ Also ging es ihr gut. Simone war die nächste. Sie versuchte sich zu wehren so gut es ging, aber es war zwecklos. Die anderen und ich präparierten sich bereits und legten alles aus den Taschen, was nicht wasserfest ist. Luisa, Isabel und mich erwischte es noch, die anderen zogen sich bereits um und kamen freiwillig hinterher. Ich war noch nie mit Klamotten im Meer. Es fühlte sich ungewohnt an. Aber nicht unangenehm. Bis auf … „Igitt ich hab ja noch ne Pampers an“, sagte ich irgendwann zu Cathleen. Die gackerte nur: „Das wird lustig, wenn du sie nachher ausziehst, die wiegt bestimmt zehn Kilo.“ – „Bäh!“ – „Hauptsache sie platzt nicht“, amüsierte sie sich weiter. „Bloß nicht im Wasser ausziehen“, meinte sie.

Wir planschten bestimmt eine Stunde lang im warmen Wasser. Einzig Kevin, Steven und Sarah wollten nicht ins Wasser. Und sich auch nicht ausziehen. Naja, jeder wie er mag. Nach einer Stunde wurde es kalt und wir krabbelten nach und nach raus. Als allererstes wollte ich meine Windel loswerden, denn die war derart aufgequollen, dass ich Angst hatte, mir könnte gleich die Hose platzen. Luisas Freundin hatte einen Rollstuhl mit einem wasserdichten Kissen und einem Handtuch bestückt, hob einen nach dem anderen dort hinein und fuhr ihn zu der rollstuhlgerechten Dusche, etwa 300 Meter weiter. Dort war auch gleich eine Toilette mit einem ordentlichen Mülleimer, das war mir sehr recht.

Das Wetter war genial. Wir lagen den ganzen Tag in unseren Strandkörben (oder davor), gingen einige Male ins Wasser, spielten Spiele, organisierten Eis und Pommes. Nach und nach packten die anderen Leute ihre Sachen zusammen, die Sonne ging langsam unter. „Wann müssen wir eigentlich los?“ fragte Cathleen irgendwann. Ich antwortete: „Wir haben mit deiner Mutter ausgemacht, dass wir so gegen 6 wieder zu Hause sind.“ Cathleen wühlte erschrocken ihr Handy raus. „Das ist schon halb 9“, sagte sie. „Scheiße“, erwiderte Liam toternst. „Dann müssen wir wohl hier zelten. Hoffentlich ist der Grillplatz frei“, meinte er. „Ich kriege langsam Hunger.“

Cathleen schaute mich ungläubig an. „Nee echt? Zelten wir hier?“ Ich nickte. Sie wollte es nicht glauben. „Nicht alle. Leider. Einige werden um 9 von ihren Eltern abgeholt. Steffi, Simone, Isi und Kevin bleiben nicht hier. Sofie und Frank müssen auch zurück, sie müssen morgen arbeiten. Aber der Rest zeltet, wenn du willst.“ Natürlich wollte sie, war aber etwas enttäuscht, dass Kevin nach Hause musste. Seine Eltern hatten es verboten und ihm den Tag am Strand nur erlaubt, wenn er bei der Rückfahrt kein Theater macht. „Der ist 17. Egal. Ich halte mich da raus“, schüttelte Frank den Kopf. „Und meine Mutter hat das wirklich erlaubt?“ fragte Cathleen. Naja, es waren schon einige Überredungskünste nötig.

Offiziell ist das Zelten am Strand verboten. Aber der jeweilige Pächter darf Ausnahmen zulassen. Wir hatten allerdings die Order, die Zelte nicht vor 23 Uhr aufzubauen, damit nicht noch andere Leute auf ähnliche Ideen kommen oder sich massenweise beschweren. Liam und Lina wollten nicht zelten, sondern in ihrem Auto schlafen. So ein Kombi hat natürlich Vorteile. Ich habe ja auch einen, nur fand ich das Zelten spannender. Und ich fühlte mich natürlich geehrt, dass Cathleen mich fragte, ob wir uns zusammen ein Zelt teilen. Bis es 23 Uhr wurde, warfen wir einen großen Grill auf einem öffentlichen Grillplatz an. Dort war eine Feuerstelle und ein Rost, das an einer großen Kette hing. Allerdings sollte man Aluschalen verwenden. An die hatte Liam gedacht.

Als wir dann völlig genudelt waren, düsten wir mit unseren Klamotten zur Rolli-Dusche, machten uns nachtfertig, einmal Zähne putzen … Cathleen hatte einen Schlafanzug an, den ihre Mutter ihr eingepackt hatte, und fuhr damit über die Strandpromenade. Einige wenige Leute, die noch unterwegs waren, guckten etwas dämlich aus der Wäsche. Ich hatte eine Sporthose und ein Sweatshirt an, aber darüber hatte die Mutter wohl nicht nachgedacht. Zurück am Strand, bauten wir im Halbdunkel unsere Zelte auf. Als wir endlich unsere Zwei-Mann-Luftmatratze aufgeblasen hatten und im Zelt verschwunden waren, fielen mir schon fast die Augen zu. Es wehte kein Wind, die See war spiegelglatt, über uns war sternenklarer Himmel. Allerdings wurde es richtig kalt. Ich zog mir noch ein zweites Sweatshirt drüber und Socken an, bevor ich mich im Schlafsack einrollte.

Cathleen fragte mich, ob ich das organisiert hatte. „Nicht alleine, aber hauptsächlich und die Idee war von mir.“ Plötzlich hatte ich Cathleen halb auf mir liegen, einen Arm um meinen Hals, wurde fest gedrückt und bekam einen fetten Kuss auf die Wange. „Das ist dir super gelungen. Das war ein richtig toller Tag“, sagte sie. Das war wieder einer der Momente, wo mir auffiel, dass meine „neuen“ Freunde ganz anders drauf sind. Die meisten meiner alten „Freunde“ haben sich nie so ehrlich gefreut und haben ihre Dankbarkeit auch nie auf so einfache, aber deutliche Weise gezeigt.

„Mir ist kalt“, sagte ich. Cathleen antwortete: „Das ist auch arschkalt. Richtig warm ist mir auch nicht. Ich hoffe, das wird noch wärmer im Schlafsack. Ich habe mal gehört, dass man seinen warmen Atem in den Schlafsack pusten soll.“

„Wollen wir nicht versuchen, ob man die Schlafsäcke zusammenmachen kann und uns dann gegenseitig wärmen?“ fragte ich. Im Zelt nebenan war noch Gekiecher. Ich hörte die Stimmen von Sarah und Steven. „Wenn du von mir angepupst werden möchtest“, frotzelte Cathleen. „Wenn ich zurückpupsen darf“, konterte ich. „Lass mich nachdenken … na gut!“ Cathleen suchte die Taschenlampe. Dann kam der spannende Moment: Die Reißverschlüsse passten. Cathleen war wie ein kleiner Ofen. Ihr Po lag an meinem Bauch, ihre Haare in meinem Mund und einen Arm hatte ich auch zuviel, aber ich fror nicht mehr. Nach einiger Zeit war mein Arm eingeschlafen und ich musste mich umdrehen. Das war in dem engen Schlafsack auf der Luftmatratze nicht so einfach, aber Cathleen drehte sich mit. Ich kam mir vor wie ein altes Ehepaar. Irgendwann schliefen wir ein.

Als ich aufwachte, lag Cathleen wieder vor meinem Bauch, mir den Rücken zugewandt. Wir mussten uns im Halbschlaf noch mindestens einmal gedreht haben. Ein Knie von mir lag unter ihren Beinen. Hoffentlich hatte ich mir keine Druckstellen geholt und ihr keine zugefügt. Regen prasselte lautstark auf das Zelt. Cathleen war auch wach, tastete nach ihrem Handy und schaute auf die Uhr. „Wie spät?“ fragte ich flüsternd. „Kurz nach vier. Ich dachte, es wäre schon später.“

„Hauptsache, wir werden nicht ins Meer gespült“, flüsterte ich zurück. Kurz danach schliefen wir wieder ein. Am Morgen hatte es auf jeden Fall aufgehört zu regnen. Es war kein Geprassel mehr zu hören, dafür schrien Möwen wie am Spieß und irgendein Trecker tuckerte an unserem Zelt vorbei. Ich drehte meinen Kopf in Richtung Cathleen, die verdrehte gerade die Augen über den Lärm. Es war 10 vor 7. Aber bis um halb 9 sollen sowieso alle Zelte abgebaut sein, so dass in 40 Minuten der Wecker gebimmelt hätte.

Wir schälten uns vorsichtig aus dem Schlafsack und aus den Klamotten, zogen unsere Badesachen an, rutschten durch den Sand ins Meer. Es war irre kalt. Aber super erfrischend. Schlagartig wurde ich wach, trotz der frühen Zeit. Auch die anderen wurden wach und einige kamen auch gleich ins Wasser. Als wir wieder draußen waren, kamen Lina und Liam mit Brötchen vom Bäcker. Nutella-Frühstück! Lecker.

Als wir alle Zelte abgebaut, geduscht und saubere Klamotten angezogen hatten, machten wir uns auf den Rückweg. Gegen Mittag waren wir wieder zu Hause. Das erste, was wir machten, war: Ab ins Bett und schlafen. Um 17 Uhr wachten wir wieder auf. Zusammen mit Sofie brachte ich Cathleen nach Hause. So anstrengend der Tag (die Nacht) am Strand auch war: Es war genial. Fand ich.