Christin und Amerika

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Für irgendwelche kulturellen Sehenswürdigkeiten hatten wir in den Tagen in Amerika keine Zeit. Wir hätten uns Zeit nehmen können, aber unser Hunger war hauptsächlich der nach Sonne. Wir haben es beide geschafft, schon vor unserem Wettkampf etwas Sonnenlicht zu bekommen ohne dabei die Haut zu verbrennen. Immerhin würde ich während meiner Schwimmzeit der prallen Sonne ausgesetzt sein. Wir lagen also am Strand, hatten uns einen Sonnenschirm geliehen (ohne den es nicht auszuhalten war), soffen literweise Wasser und gingen alle zwei Stunden mal in die Wellen. Vorausgesetzt, das Wasser war da. Wobei ein wenig Wasser immer da war.

Christin bat darum, die Klimaanlage nachts abgeschaltet zu lassen und lieber das Fenster weit zu öffnen, um sich nicht noch zu erkälten. Draußen kühlte es auch nachts nicht unter 20 Grad ab, so dass wir nackt unter einer großen Bettdecke lagen. Nein, eine feste Beziehung (im Sinne einer offiziellen Partnerschaft) haben wir nach wie vor nicht miteinander. Das sehen wir zum Glück beide so. Zum Glück, weil ich Einigkeit und Ehrlichkeit mag. Eine enge Freundschaft zweifelsfrei, und wenn ich mir vor Jahren auch noch nicht so sicher war, ob Sexualität und „keine feste Beziehung“ zusammenpassen, so empfinde ich zurzeit Sexualität nicht als etwas so Einzigartiges, dass das nur mit mir alleine oder mit einem festen Partner geht. Klar, nackt nebeneinander im Bett zu liegen, weil es warm ist, hat nicht unbedingt etwas mit Sexualität zu tun, wenn ich es ganz pragmatisch sehen möchte. Und ich halte nach wie vor und ausschließlich nach dem männlichen Geschlecht Ausschau. Wobei ich inzwischen weiß, wie anspruchsvoll ich bin.

Es geht eindeutig von ihr aus. Sie will. Sie will oft und lange. Sie ist nicht übergriffig, ich könnte alles sofort und jederzeit beenden. Aber sie zeigt mir sehr genau, was sie will. Führt meine Hand, lässt mich fühlen, schmiegt sich an, hat sehr großes Verlangen. Küsst gut, schmeckt gut, fühlt sich gut an. Und, und das gefällt mir ganz besonders, hat keine Berührungsängste mit Blick auf meine Querschnittlähmung. Nein, sie kann nichts kaputt machen und nein, ich bin nicht aus Zucker. Während ich eher etwas zurückhaltender bin, nimmt sie sich mich so, wie sie es gerade braucht. Und hat volles Vertrauen, dass ich „Nein“ und „Stopp“ sagen würde. Wenn ich etwas nicht möchte. Ich möchte aber und es fühlt sich verdammt gut an.

Am Tag vor Christins Wettkampf reiste eine amerikanische Sportlerin an, checkte im selben Hotel ein und fragte uns gleich, ob wir zusammen Mittagessen wollen. Christin und die amerikanische Sportlerin sind klare Konkurrentinnen im Sport, kämpfen um jede Sekunde gegeneinander. Allerdings nur im Wettkampf. Diese professionelle und faire Trennung, die ich mir im Privatleben, im Job, im Verhältnis zu anderen Eltern aus Helenas Klasse oder nur ganz allgemein viel mehr wünschen würde, wurde hier wirklich gelebt. Wir futterten zusammen, Christin und die Sportlerin quatschten über ihren letzten Wettkampf und über einen bestimmten Schiedsrichter, ich wurde gefragt, woher wir uns kennen, was meine Hobbys sind, und bekam gleich ein indirektes Lob, dass sie es faszinierend fände, wie gut und wie viele Deutsche Englisch sprechen könnten. Sie sagte, dass Deutsch so eine komplizierte Sprache sei, und wir übten am Beispiel „Frei-Wasser-Schwimmen“ das deutsche Wort für „Open Water Swimming“. Das „Sch“ machte ihr anfangs große Probleme, irgendwann konnte sie es aber. Ich bin in den Stunden nicht ein einziges Mal auf meine Behinderung angesprochen worden. Kein einziger Kommentar, weder, dass mein Rollstuhl sportlich sei, noch wie es passiert ist. Kurzum: Sie hat es mir überlassen, ihr davon zu erzählen. Und nicht umgekehrt.

Ich will nicht sagen, dass man mich nicht fragen darf. Wobei ich am liebsten gefragt werde, ob ich darüber sprechen möchte, weil es mir die Chance gibt, mich für ein „Nein“ zu entscheiden. Es ist um ein Vielfaches anstrengender, die Frage „Warum sitzt du im Rollstuhl“ mit „Darüber möchte ich nicht sprechen“ zu beantworten. Die nötige stärkere Zurückweisung des Anliegens bringt nicht selten einen Rechtfertigungsdruck mit sich, der vom Fragesteller oft auch ganz bewusst erzeugt, eingesetzt oder sogar ausgenutzt wird, beispielsweise durch Nachhaken oder durch eine eingeschnappte Vertrauensfrage.

Und so habe ich es genossen, dass meine Behinderung mal nicht im Vordergrund stand, auch wenn ich kein Problem gehabt hätte, mich mit ihr darüber zu unterhalten.

Kein Triathlon III

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Geweckt wurden wir um kurz vor sechs Uhr von einem Entenpaar, das hinter der Hecke stand und laut schimpfte. Worüber auch immer. Christin schaute mich verschlafen an und verdrehte ob des Lärms die Augen. Während andere Menschen sich jetzt noch einmal umdrehen würden, hatte mich meine Querschnittlähmung schon wieder voll im Griff: Ich stellte erstmal fest, dass meine Blase über die Nacht brav gewesen war. Jetzt aber randvoll war, was kein Problem war, solange ich mich nicht aufrichte. Sobald ich das mache, bleibt ein Zeitfenster von zwei bis drei Minuten. Mein Rollstuhl stand im Vorzelt. Zum Waschraum müsste ich über den unebenen Rasen. Das ist ein ziemliches Risiko, da auch Erschütterung die Blase triggern kann. Und zeitlich muss die eine Toilette wirklich sofort frei sein. Zu viele Unsicherheiten, um das auszutesten. Also präparierte ich mich. Neben Christin. Mir war es schon etwas unangenehm, aber sie guckte mir interessiert zu. „Ich habe noch nie gesehen, dass sich jemand selbst sowas anziehen kann. Also so Pants schon, die hatten in der einen Schule, in der ich Praktikum gemacht habe, auch einige Leute. Überwiegend welche mit mehreren Einschränkungen. Warum hast du welche zum Zukleben?“ – „Weil die mehr Saugstärke haben. Die Pants sind eher für schwachen Beckenboden geeignet, aber nicht, wenn das plötzlich alles auf einmal rauswill.“ – „Will es das jetzt?“, fragte sie interessiert. Ich antwortete: „Das Risiko ist halt sehr groß nach so vielen Stunden. Und ich will nicht, dass du noch dein Handtuch opfern musst.“ – Ich zog mir Shorts und Top über, rutschte über den Boden zu meinem Rollstuhl, rollte über den Rasen zum Toilettenhaus und war froh, dank zehnjähriger Erfahrung richtig entschieden zu haben.

Christin wurde nach unserem Frühstück vor dem Zelt zunehmend nervöser. Ich bat ihr meine Hilfe an, aber sie sagte klar, und das fand ich gut, denn mit klaren Ansagen kann ich am Besten umgehen, dass es ihr am Meisten hilft, wenn ich sie komplett in Ruhe lasse, mich oberhalb des Stegs auf einer Zuschauer-Wiese aufhalte und sie sich dann unmittelbar vor dem Start nochmal „verabschiedet“. So schnappte ich mir eine Wolldecke, legte sie unterhalb eines Baums auf eine Rasenfläche in der Nähe des Starts, wo gerade jemand ein großes Zelt und einen riesigen Grill aufbaute, genoss die Ruhe und ließ mir die letzte Nacht noch einmal durch den Kopf gehen. War das in Ordnung? Ja, ich fand schon. Selbstverständlich wird es Menschen geben, die zwei Frauen im selben Bett falsch oder sogar eklig finden. Vor allem, wenn eine auch noch eine körperliche Einschränkung hat. Und wenn sie gar nicht zusammen sind. Aber Banane.

Ziemlich bald kam Christin sowie rund zwei Dutzend andere Frauen auf die Wiese. Die Männer, etwa 30 insgesamt, starteten eine Viertelstunde vor den Frauen. Christin war sehr nervös, trug einen Trainingsanzug und darunter ihre Schwimmkleidung. Aufwärm-Gymnastik, Einschwimmen, nochmal Dehnen, dann gab es eine Instruktion in einem großen Zelt, während die Männer bereits starteten. Kurz darauf kam sie heraus, drückte mir ihr Handtuch, ihre Hose und ihre Jacke in die Hand, dazu ihre leere Trinkflasche und meinte: „Wünsch mir Glück!“ – „Viel Glück!“, sagte ich. Sie sagte: „Mein Ziel sind zwei Stunden und fünfzehn Minuten. Oder weniger.“ – „Ich drücke dir die Daumen.“

Das wäre eine Geschwindigkeit von durchschnittlich 4,4 Kilometern pro Stunde, rechnete ich nebenbei aus. Und das ist wohl nicht schlecht. Tatsächlich brauchte Christin genau 2:15:36 Stunden, also eine halbe Minute mehr als ihr Ziel. Absolut genial, auch wenn sie ihr Zeitziel ganz knapp verpasst hat. Deutschlands beste Schwimmerinnen bleiben wohl unter zwei Stunden, sodass es lediglich eine persönliche gute Leistung ist. Dennoch: Ich finde es wahnsinnig, eine Leistung über zwei Stunden lang auf einem so hohen Niveau halten zu können. Die Mehrzahl der Freizeitschwimmer würde nicht mal eine 25-Meter-Bahn in unter 21 Sekunden schaffen. Sie schwimmt 400 Bahnen hintereinander in diesem Tempo. Absolut irre.

Sie kam aus dem Wasser und konnte nach dieser Leistung noch normal gehen. Ich glaube, mich müssten sie tragen… Ich saß inzwischen im Rollstuhl, konnte mich auf dem Rasen aber nur schlecht bewegen. Sie setzte sich mit ihren nassen Sachen auf meinen Schoß, trocknete sich mit dem Handtuch das Gesicht ab. Sie roch nach See und war angenehm kühl. Ihr Herz raste und sie war noch immer außer Atem. Ich umarmte sie und hielt sie fest. Echt klasse Leistung. „Geht es dir gut?“, fragte ich, da sie nichts sagte. Noch immer außer Atem antwortete sie: „Ich bin glücklich. Ich habe so viele Endorphine im Körper, dass ich gerade die ganze Welt umarmen möchte. Ich gehe mich gleich erstmal in Ruhe ausschwimmen und dann habe ich Hunger, dass ich ein halbes Schwein auf Toast essen könnte. Such mal bitte inzwischen irgendwas raus, wo wir was mampfen können. Und bitte nichts Feines, ich brauche ‚Fressen und Saufen‘. Und bitte keine Grillwurst“, sagte sie und guckte auf den rauchenden Grill.

Nach dem Duschen auf dem Wettkampfgelände fuhren wir direkt wieder zu dem Italiener, bei dem wir auch gestern waren. Wir waren uns einig, dass wir für gutes Essen keine Experimente mehr machen. Christin bestellte sich eine Mega-Pizza, ich bekam die Nudeln. Auch wenn sie nach dem Schwimmen schon mehrere Flaschen Wasser geleert hatte, trank sie zum Essen noch weitere zwei Karaffen Leitungswasser. Der Gastwirt fragte, ob sie an dem Wettkampf teilgenommen hatte und stellte ihr sofort kostenloses Wasser auf den Tisch. Als wir fertig waren, sagte sie: „Sei mir nicht böse, aber ich möchte nur noch zum Zelt und mich hinlegen. Nicht schlafen, aber nicht mehr rumrennen.“ – „Alles gut. Ich werde mich auch ausruhen für meinen morgigen großen Tag. Ich werde sowas von verrecken auf der Strecke.“ – „Quatsch. Ich habe vorgelegt, du schwimmst morgen die gleiche Zeit. Das habe ich im Gefühl.“

„Träum weiter“, sagte ich. Und sie: „Und du schwimmst in meinem Anzug. Also nicht in dem von heute, sondern in meinem zweiten. Der bringt dir mindestens 10 Minuten.“ – „Da komme ich doch nie im Leben rein.“ – „Ziehen wir zusammen an. Plane schonmal eine halbe Stunde extra dafür ein. Aber die Dinger sind absolut geil. Damit gleitest du durchs Wasser wie ein Hai.“ – „Ich gehöre doch aber gar nicht zu denjenigen, bei denen es um 10 Minuten geht.“ – „Na und? Hallo? Bei dir bringt das bestimmt sogar noch mehr, weil du nur mit den Armen schwimmst und es dann sehr viel leichter geht.“ – „Die anderen lachen sich doch kaputt. Da sind echte Leistungssportler dabei und ich komme da mit so einem 250-Euro-Teil an.“ – „400 Euro. Aber das ist egal, weil die auch alle so ein Teil tragen. Oder es ist ihre Entscheidung, sowas nicht zu wollen. Aber das Ding gibst du nicht wieder her. Der Auftrieb, die Wasserlage, die Kompression – das wird dir gefallen. Und es kann dir doch egal sein, was die anderen Leute über dich denken. Manchmal bist du auch echt ein wenig empfindlich, wenn ich das mal so sagen darf.“

„Findest du?“ – „Ja. Ich helfe dir beim Anziehen.“ – „Die Dinger sind doch extrem empfindlich. Wenn ich mich damit auf den Steg setze und rutsche damit über irgendeine Kante…“ – „Du setzt dich auf ein Handtuch. Du würdest doch auch mit dem nackten Hintern nicht über eine Kante rutschen. Und sonst hast du eine Haftpflichtversicherung.“ – „Ich finde das unheimlich süß von dir, aber…“ – „Nichts ‚aber‘, Jule. Jetzt hör mal auf, das so pessimistisch zu sehen. Das nervt langsam. Es könnte auch morgen ein Gewitter kommen und der Blitz sucht sich ausgerechnet dich aus. Meine Güte. Ich habe mir schon gut überlegt, ob ich ihn dir gebe. Und ich würde ihn gewiss nicht jedem geben. Aber ich möchte, dass du ihn anziehst.“

Ich kam schon wieder so unter Druck, weil ich mich aufgrund von Intimitäten rechtfertigen musste. Ja, ich möchte, dass die Menschen mich verstehen. Ich könnte auch einfach sagen: „Mach ich nicht.“ – Vorsicht, es wird eklig.

„Es geht nicht, verstehst du? Wenn ich da über Stunden im Wasser bin, kann es passieren, dass mein Darm verrückt spielt. Und wenn ich dann vom Knöchel bis zum Hals in so einem Ding stecke, wird das richtig widerlich. Und dann gehört er mir noch nicht mal. Das wäre mir so derbe peinlich, ich glaube, ich könnte dir nicht mehr in die Augen schauen.“

„Du hast echt einen Knall. Okay, ich erzähle dir was. Ich bin vor zwei Jahren eine 25er-Strecke geschwommen, okay?“ – „25 Kilometer?“ – „Ja. Dafür brauche ich etwas über sechs Stunden. In den sechs Stunden bekommst du kein Land unter die Füße. Du bekommst von einem Ponton oder Begleitboot Getränke an einer langen Stange und auch mal warme Suppe. Ich bekam Suppe, schön salzig, nicht zu salzig, aber so, dass ich das Gefühl hatte, sie tut mir gut. Ich habe also auf dem Rücken liegend mir gepflegt diese Suppe eingeflößt und bin weiter geschwommen. Das war so nach etwa vier Stunden. Keine zwanzig Minuten später bekam ich Bauchkrämpfe. Ich dachte erst an Salzmangel oder Flüssigkeitsmangel allgemein, und dann merkte ich, dass das mein Darm war, der verrückt spielte. Bevor ich mich auf irgendwas konzentrieren konnte, explodierte die Bombe.“ – Ich guckte sie mit großen Augen an. Sie grinste und erzählte weiter: „Einen Moment lang dachte ich: Das war es jetzt. Aber dann ging es mir schlagartig wieder gut. Und ich bin einfach weiter geschwommen. Es ging mir richtig gut. Wie ein kleines Baby mit vollgeschissener Windel. Die sind ja auch immer quietschfidel, wenn sie gekackt haben.“

„Und dann?“ – „Ich war auf das Schlimmste vorbereitet. Ich dachte, wenn ich aus dem Wasser klettere, läuft überall braune Soße runter. Ich wäre dann schnellstens in eine Dusche und hätte mich sauber gemacht. Aber: Nichts passierte. Das hatte sich bereits alles rausgespült. Ich habe natürlich trotzdem sofort geduscht, aber es roch nichtmal mehr. Ich wette mit dir, dass dir von den fünfzig Leuten, die da morgen auf dem Steg stehen, die Hälfte irgendeine solche Geschichte erzählen kann. Und sollte dir das morgen passieren, hole ich dich am Ende aus dem Wasser und bringe dich diskret in die nächste Dusche. Versprochen. Aber jetzt hör auf, alles schwarz zu sehen.“ – „Es tut mir leid, dass ich da so unsicher bin. Normalerweise stoße ich nicht auf so viel Verständnis und ich wette mit dir, dass die Mehrzahl der Menschen, die deine Geschichte hört, sie entweder nicht glaubt oder sich angewidert abwendet.“ – „Da könntest du Recht haben. Da könnten wir jetzt eine lange Diskussion über Werte und Tabus draus machen. Aus Abgrenzung und so. Ich habe das gestern schon gedacht, als es um deine Hose ging, und ich sage auch ganz klar, ich möchte mit dir nicht tauschen. Ich kann mir inzwischen sehr gut vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn alle Menschen einen beobachten und bewerten. Ob auf dem Rasenplatz oder im Restaurant. Es wird in einer Tour geglotzt und geredet. Ich hätte das so nicht erwartet. Aber du brauchst dich vor mir nicht zu genieren. Und ich unterstütze dich auch, wenn andere dumm reden.“ – „Du bist so süß zu mir. Früher hat mir das auch nicht so viel ausgemacht. Als ich noch mit vielen anderen Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrern zusammen war. Heute ist das kaum noch der Fall, und je älter ich werde und um so mehr auf mich geschaut wird, wie ich arbeite, wie ich mich benehme, ob ich die richtigen Dinge sage, umso sensibler werde ich.“ – „Das ist nicht gut. Man muss auch mal die Sau rauslassen können, ohne dass es Konsequenzen hat. Solange man niemandem weh tut, finde ich das wichtig.“

Weil ich mich nicht zu genieren brauche, hatte sie ja gesagt, führte ich aus: „Ich bin morgen früh um sechs Uhr mit Abführen dran. Das klappt eigentlich sehr gut. Danach dürfte nichts mehr passieren.“ – „Wenn doch, helfe ich dir. Du schwimmst morgen deine Kilometer, alles andere klären wir danach.“ – Nun war ich doch einigermaßen aufgeregt. Ob ich überhaupt schlafen können würde? Wir schmusten erneut etwas miteinander. Ich muss ziemlich schnell eingeschlafen sein, denn am nächsten Morgen konnte ich mich an keine Einzelheiten mehr erinnern.

Cliffhanger – Fortsetzung folgt!

Kein Triathlon II

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Am Freitag nach der Arbeit holte ich Christin von zu Hause ab. Sie stand mit ihren zwei großen Schwimmtaschen und einer Zelttasche und einem großen Beutel mit einem Luftbett bereits vor der Tür und wartete auf mich. Auch wenn wir erst in zehn Minuten verabredet waren. Sie lud ihre Sachen hinten ein, setzte sich auf den Beifahrersitz und sagte: „Ich bin so aufgeregt.“ – Dabei schwimmt sie regelmäßig im In- und Ausland diese langen Strecken und das gar nicht mal so schlecht. Vier Stunden hatten wir für die Fahrt eingeplant. Bei Außentemperaturen von über 30 Grad lobte ich mir die Klimaanlage im Auto. Die Autobahn war relativ leer. Wir kamen sehr gut durch. Schon nach zwei Stunden waren wir an der Bundesgrenze, nach einer weiteren am Zielort angekommen. Zeltplatz sofort gefunden, einen schönen, großen Rasenplatz, durch Hecken eingegrenzt, mit Parkmöglichkeit für das Auto zugewiesen bekommen, Zelt aufgebaut, mein Luftbett von einem Kompressor am Stromanschluss des Autos aufblasen lassen. „Muss ich meins auch aufblasen oder reicht eins für uns beide?“, fragte sie. Das Zelt hatte zwei Kabinen und in der Mitte einen überdachten Eingang, war auf vier erwachsene Personen ausgelegt. Ich antwortete: „Meinetwegen kannst du auch mit auf meiner Luftmatratze schlafen. 140 cm sollten für zwei Leute reichen.“

Am Abend fuhren wir zu dem See, an dem Samstag und Sonntag der Wettkampf stattfinden würde. Einige Schwimmerinnen und Schwimmer gaben sich eine letzte Trainingseinheit. Ein Ponton aus vielen kleinen Plastikeinheiten war aufgebaut und schaukelte in ein paar Miniwellen. Einige Fahnen wehten müde im Wind. Im Organisationsbüro konnten wir unsere Unterlagen abholen und mussten mein Startgeld bezahlen. Christin übersetzte für mich und half mir bei der Kommunikation. Die Menschen vor Ort seien sehr gespannt auf mich, es sei das erste Mal, dass eine Rollstuhlfahrerin teilnehme, aber man sei erwartungsvoll und neugierig. Und selbstverständlich könne Christin mich mit einem Begleitkajak unterstützen. Als hätte er auf dieses Stichwort gewartet, kam aus dem Nebenraum ein etwas kräftiger gebauter Mann Anfang 50, mit weißem Hemd und Krawatte, und gab mir die Hand. Er entschuldigte sich für sein schlechtes Schul-Englisch, aber die Kommunikation klappte. Er erkundigte sich nach unserer Anreise und wo wir schlafen werden. „Ich habe mir nicht vorstellen können, dass diese langen Strecken auch für Menschen im Rollstuhl interessant sein könnten, daher haben wir es nicht so ausgeschrieben. Mein Fehler. Aber wenn Sie hier zurecht kommen, freue ich mich über Ihre Teilnahme. Und so sportlich wie Sie aussehen, habe ich daran gar keine Zweifel. Werden Sie etwas Außergewöhnliches benötigen?“

Ich kannte mich mit Freiwasserschwimmen nicht so gut aus, dass ich alle Eventualitäten überblicken konnte. Ich guckte Christin fragend an und sie antwortete in der Landessprache: „Bitte keine Besonderheiten. Meine Freundin liebt es, wenn sie genauso behandelt wird wie alle anderen auch. Mit allen Konsequenzen. Sie wird nur nicht im Stehen starten können, sondern sie wird sich mit dem Po an die Stegkante setzen und sich dann ins Wasser fallen lassen.“ – Der Mann antwortete: „Also müssen wir nichts mehr extra vorbereiten?“ – „Nein, und bitte auch keine besondere Aufmerksamkeit. Also keine Ansprache, dass der Bürgermeister sich freut, dass 43 Männer, 42 Frauen und eine Rollstuhlfahrerin teilnehmen, die besondere Rücksichtnahme benötigt. Und auch keine gelbe Badekappe mit drei schwarzen Punkten für sie. Sie hat dasselbe Recht, einen Kick ins Gesicht zu kriegen wie alle anderen auch.“ – „Ich glaube, ich habe verstanden.“

Zuerst fuhren wir zu einem Supermarkt, Wasser und ein paar Lebensmittel für das Wochenende kaufen, anschließend wollten wir noch etwas zu Abend essen. Während ich mir beim Italiener nur noch einen Salatteller bestellte, bekam Christin einen richtig üppigen Nudelteller serviert. „Yummy“, meinte sie und futterte. Als wir wieder am Zelt waren, zeigte das Thermometer noch 25 Grad. Und es war bereits nach 22 Uhr. Wir hatten eine kleine Akkulampe im Zelt, sodass wir uns zurechtfinden konnten. In einem Haus waren Duschen, Waschbecken und Toiletten, sogar eine barrierefreie war dabei. Wir putzten zusammen Zähne. Als wir endlich im auf dem aufgeblasenen Bett lagen, den weit geöffneten Schlafsack nur einmal quer über die Hüfte gelegt, sagte Christin: „Was für eine Wärme im Zelt. Ich habe das Gefühl, das Mückengitter lässt überhaupt keine kühle Luft durch. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass es draußen keine kühle Luft gibt. Am liebsten würde ich mein Top ausziehen. Stört es dich?“ – „Von mir aus kannst du auch nackt schlafen“, sagte ich, und es war in dem Moment von mir mehr Scherz als Ernst. Christin sagte aber in völlig naivem Tonfall: „Ich glaube, das mache ich wirklich.“

Kurz darauf lag sie dann tatsächlich völlig unbekleidet neben mir. Oder eher hinter mir, da ich ihr den Rücken zugedreht hatte. „Du bleibst angezogen und schwitzt lieber?“, fragte sie. Es war wirklich warm. Ich setzte mich auf, zog mein Top aus und legte mich wieder hin. Christin flüsterte: „Hose aus! Hose aus! Hose aus!“ – Ich antwortete leise: „Was geht denn bei dir ab? Hast du irgendwas mit mir vor? Ich meine: Außer Schwimmen?“ – Christin flüsterte: „Ja.“ – „Und was?“ – „Ich mache jetzt ein schickes Foto von uns beiden und dann lade es bei Insta hoch“, sagte sie, hielt ihr Handy in der Hand. Einen Moment später blitzte es einmal. Ich drehte mich um und sagte: „Hey, du spinnst wohl. Das möchte ich nicht.“ – „Zu spät. Ich habe dich gut getroffen.“ – Eigentlich hätte mir in dem Moment klar sein müssen, dass sie mich mal wieder neckt. Wurde es aber erst, als sie sagte: „Du musst mir schon das Handy wegnehmen, wenn du noch was retten willst.“

Sie wollte sich mit mir raufen. Sie nackt, ich nur mit Shorts bekleidet. Und wir rauften uns. Sie war durch ihre uneingeschränkte Beinfunktion erheblich beweglicher als ich. Aber ich hatte eindeutig die stärkeren Arme und Hände. Es dauerte nicht lange, dann saß sie auf mir, hatte mich auf dem Rücken liegend zwischen ihren Beinen fixiert und drückte mit ihren beiden Händen meine beiden Hände links und recht neben meinem Kopf auf die Matratze. Endlich mal wieder jemand, der mich normal behandelt. „Gewonnen“, sagte sie. Wir benahmen uns wie kleine Kinder. Aber es machte sehr viel Spaß. Nicht nur die Albernheit, sondern irgendwie auch der körperliche Kontakt. Es fühlte sich schön an. Während Christin mich festhielt, kitzelte sie mich mit ihren Haarspitzen im Gesicht. „Du bist mir völlig ausgeliefert, das weißt du, oder?“, fragte sie. Ich versuchte, meine Hände nach oben zu drücken. Keine Chance.

„Ich finde dich übrigens sehr lecker. Und du riechst auch sehr gut“, sagte sie mir. Frei raus. Vermutlich ohne nachzudenken. Was ich toll fand. Nicht nur wegen des Kompliments an sich, wenngleich ich nicht „lecker“ gesagt hätte, sondern auch wegen ihrer Direktheit. Allerdings könnte das auch schief gehen. Konnte sie sich sicher sein, dass es mir nicht zu weit ging? Hatten wir nicht noch ein ganzes Wochenende vor uns, an dem wir eigentlich schwimmen wollten? Also vor allem sie?

Sie machte keinen Hehl aus ihren Absichten. Und es gefiel mir. „Schmusen wir ein wenig? Vorausgesetzt, bei dir zu Hause wird niemand eifersüchtig.“ – „Ich bin Single“, sagte ich ohne nachzudenken und wusste in dem Moment, ich würde mich auf irgendetwas einlassen wollen. Auf etwas Festes eher nicht, aber eine schöne Nacht zu zweit geht, vier Jahre nach der letzten richtigen Partnerschaft, auch mal so, oder?! Unkompliziert. Nicht nachdenken.

„Ich habe kein Foto gemacht. Das war nur die Taschenlampe. Ich wollte, dass du dich mit mir raufst und der Plan ist zumindest halb aufgegangen.“ – Ich war so hin- und hergerissen, ob ich meine Hose ebenfalls ausziehen sollte. Ich hatte seit vielen Jahren endlich mal wieder so ein Kribbeln im Bauch. Ganz intensiv. Sie drängte mich nicht weiter dazu, und ich glaubte auch, sie wusste bereits, warum ich die Hose nicht auszog. Spätestens als sie auf mir gesessen hat, dürfte sie es gemerkt haben. Oder vielleicht hatte sie mich bei der Rangelei auch bereits am Po berührt. Querschnittlähmung ist wirklich nicht immer einfach. Auch wenn ich viele Alltagssituationen bis hin zu irgendwelchen dämlichen verbalen Anwürfen inzwischen locker bewältige, das hier war trotz aller Unkompliziertheit keine Alltagssituation. Auch nach 10 Jahren nicht. Christin und ich lagen inzwischen mit den Gesichtern zueinander im geringen Abstand nebeneinander, in völliger Dunkelheit, und sie streichelte meinen Unterarm.

„Ich habe übrigens meine Hose noch an, weil … also ich bin so unvorbereitet, weil …“, stammelte ich mir zurecht. Nein, das wird nichts. Mein Kopf wollte nicht. Sie sagte: „Weil du deine Regel hast. Möchtest du einen Tampon?“ – „Nein, ich … bei einer Querschnittlähmung …“ – Sie unterbrach mich: „Achso, du bist undicht?“ – Sie war so umkomplizert. „Sozusagen. Normalerweise nicht, aber es könnte eben was passieren.“ – „Wie hoch ist die Chance?“ – „Dass was passiert? Nachts vielleicht einmal im Monat. Oder seltener. Zu Hause schlaf ich ohne irgendwas. Aber wenn jemand mit mir im Bett ist…“ – „Zieh aus das Ding! Du schwitzt dich dadrin doch zu Tode!“, sagte sie. Ich antwortete: „Ich kann aber nicht garantieren…“ – „Du musst gar nichts garantieren. Im schlimmsten Fall haben wir morgen Sektfrühstück? Damit kann ich leben. Echt jetzt. Dafür würde ich sogar mein großes Schwimmhandtuch opfern.“ – „Ich bin da wirklich sehr ängstlich.“ – „Und für mich ist es überhaupt kein Problem“, sagte sie und zog meinen Kopf zu sich heran, als wollte sie mich trösten. „Ich bewundere deine Stärke und deine Ausstrahlung. Du bist eine sehr erotische Frau. Ein undichter Beckenboden tut dem keinen Abbruch. Finde ich.“ – „Wer von uns beiden hier wohl stark ist.“ – „Du. Und mir ist es egal, ob ich tollpatschig ein Glas umkippe oder bei dir was rausläuft, was bei anderen Leuten drinnen bleibt. Aber wenn es dir lieber ist, lässt du die Hose an.“

Nein, es war mir nicht lieber. Und es ist auch alles gut gegangen. Es war ein sehr schönes Erlebnis. Es ist am Ende gar nicht so viel passiert, sondern wir haben uns gegenseitig den Rücken gestreichelt, sie hatte eine Zeitlang ihr Bein locker zwischen meinen Knien, es war sehr entspannend und angenehm. Auch wenn wir beide nackt waren, gab es keine intime Berührung. Auch keinen Kuss.

Cliffhanger – Fortsetzung folgt!

Porsche und Strumpfhose

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Leider „konnte ich nichts mehr von dem Typen schreiben, dem ich da begegnet bin.“ So lautete der drittletzte Satz meines letzten Eintrags.

Während ich im Feuer Foyer des Hotels saß, um abzuwarten, dass eine der angestellten Personen nochmal eben den Müll vom Vornutzer aus meinem Zimmer holt und mein Bett bezieht, setzte sich jemand zu mich mir. Ein Mann, geschätzt zehn Jahre älter als ich, geschätzt über 190 cm groß, sportliche Figur, gepflegtes Äußeres, dunkelblonder Kurzhaarschnitt, kein Bart, bekleidet mit dunkelblauer Jeans, Poloshirt und schwarzen Halbschuhen. Stützte sich beim Sitzen mit seinen Unterarmen auf seinen Oberschenkeln ab und guckte mich an, während ich meine Handy-Kurznachrichten beantworte.

Eigentlich hatte er nicht das typische Alter, um mich mit einer Story, in der wahlweise er, seine Frau oder einer seiner Nachbarn auch schonmal in einem Rollstuhl gesessen hat, zu beglücken. Ich konnte im Augenwinkel sehen, dass er mich noch immer beobachtete, und ich versuchte, nicht hinzugucken, da ich keine Lust hatte, mich volltexten zu lassen. Ich schrieb noch einen Moment, dann sprach er mich auch ohne Blickkontakt an: „Tschuldigung, sind wir verabredet?“

Was für eine originelle Anmache! Als wenn ich, wenn ich verabredet wäre, mich an einen Tisch setzen und mein Gegenüber ignorieren würde. Ich dachte mir so: „Na, Socke, dann spiel das Spiel doch einfach mal mit!“ – Also antwortete ich: „Ja, sind wir, sorry, ich muss nur schnell die Nachricht zu Ende tippen.“ – „Kein Problem. Die anderen sind bestimmt auch gleich da. Ich heiße übrigens Daniel.“ – „Jule“, sagte ich, blickte einmal kurz hoch und tippte weiter. Die anderen? In welcher Gruppe würde ich da gelandet sein?

Als ich fertig war mit Tippen, schaute ich ihn an. Er sagte: „Ich bin zum allerersten Mal auf so einem Real-Treffen. Und bin tierisch aufgeregt. Wie oft warst du schon dabei?“ – „Ist auch mein erstes Mal.“ – „Unter welchem Nickname schreibst du im Forum?“ – „Ich schreibe gar nicht im Forum.“ – „Oh, eine stille Mitleserin! Das finde ich ja mal spannend.“

Ich fragte ihn: „Und unter welchem Nickname schreibst du?“ – „Geheimnis. Noch. Wenn ich ihn jetzt verraten würde, wüsstest du ja sofort alles über mich. Und ich kenne dich gar nicht. Das wäre doch unfair, oder? Wann hast du entdeckt, dass du auf Strumpfhosen stehst?“ – Ach herrje. Ich musste mir ein Lachen verkneifen. Wo hinein bin ich denn da jetzt geraten? „Ähm. Äh. Tja.“ – „Ja, war bei mir so ähnlich. Wobei ich nur in die softe Ecke gehöre. Also ich ziehe selbst keine an.“ – „Ich schon. Manchmal.“ – „Darf ich fragen, ob du gerade eine trägst?“ – „Gemeimnis“, antwortete ich.

Dieser Mensch schien sich für mich zu interessieren. Oder vielleicht auch nur für meine Strumpfhose. Oder für die Vorstellung, dass ich gerade eine Strumpfhose tragen könnte. Bevor wir tiefer in ein Gespräch einsteigen konnten, kamen im Minutentakt weitere Leute hinzu. Am Ende waren es zehn Männer zwischen 25 und 55 Jahren und, außer mir, drei Frauen. Eine Frau, etwa 45 Jahre alt, war mit einem der Männer verheiratet, die andere war offensichtlich schon mehrmal auf „Realtreffen“ gewesen. Sie umarmte sofort alle und war, mit Minirock und schwarzer Feinstrumpfhose bekleidet, eindeutig darauf aus, allen zu gefallen.

Ein Mann, geschätzt um die 50, nannte sich Ralle, hielt in der kleinen Runde eine Begrüßungsrede. Sprach alle mit „Freundinnen und Freunde des glänzenden Nylons“ an. Das war der Moment, an dem ich überlegte, mich auszuklinken. Aber ich kam nicht dazu. Ralle brachte seine Freude über die Anwesenheit neuer und bekannter Gesichter zum Ausdruck und gab vor, dass wir uns in 15 Minuten am Ausgang treffen würden, um gemeinsam in einem nahe gelegenen Restaurant, in dem ein Tisch reserviert sei, zu Abend zu essen. Er blickte mich an und sagte, er hoffe, dass das ebenerdig sei.

„Ich … äh … gehöre gar nicht dazu“, stammelte ich. Ralle widersprach sofort: „Unsinn! Du kommst mit. Das ist ein Befehl.“ – „Sonst sind wir ja kräftig genug, dich die Stufen hochzutragen“, sagte ein anderer Mann und weitere Leute nickten. Während alle sich weiterhin laut begrüßten, sagte ich zu Daniel: „Ich habe mit eurem Forum gar nichts zu tun.“ – „Achso!“, lachte er. Und fragte: „Willst du vielleicht trotzdem mitkommen? Oder hast du schon eine andere Verabredung?“

Nein, hatte ich nicht. Sollte ich alleine im Hotel bleiben und in einem notdürftig gereinigten Zimmer fernsehen? Oder begleite ich Daniel zu einem Treffen mit ein paar Freaks aus dem Internet? Ich überlegte einen Moment, entschied mich dann für Daniel. Wahrscheinlich würde jeder, dem ich das erzähle, mich für verrückt halten. Es dauerte ein wenig, bevor ich mir dann aber dennoch sicher war, dass einige der anderen Leute eine gehörige Macke hatten. Wir saßen in dem ebenerdig erreichbaren Restaurant an einem Tisch, und während sich eine Delegation älterer Teilnehmer fast schon in die Haare darüber bekam, wie dick und wie dehnbar die richtige Feinstrumpfhose zu sein habe, griff Ralle mindestens fünf Mal auf, dass er das Forum gegründet habe und noch immer moderiere und er damit Menschen, die dachten, sie seien mit ihrer Vorliebe ganz alleine, eines besseren belehre und zusammengebracht habe. Der Nobelpreis stünde ihm dafür nicht zu, aber für ein Bundesverdienstkreuz sei es eigentlich mal an der Zeit.

Die Hälfte der Leute war nur wenig bescheiden unterwegs. Ich kann Protzerei nicht leiden. Es gab überhaupt keine Veranlassung, mit der Größe des Firmenwagens, der Farbe der Kreditkarte oder der Höhe des Jahreseinkommens anzugeben. Dennoch wurde das bei einigen Leuten sofort Thema. Aber nie direkt, sondern immer ganz subtil. Subtile Protzerei finde ich nochmal schlimmer.

„Ist dein Rollstuhl eigentlich eine gesundheitliche Notwendigkeit oder ein ausgelebter Teil deines Fetisches?“, wollte Ralle von mir plötzlich wissen. Ich liebe direkte Fragen. Ich versuchte, mich in die Denkweise hinein zu versetzen, denn die Frage war offenbar ernst gemeint. Dass es Menschen gibt, die auf amputierte Gliedmaßen stehen, ist ja inzwischen kein Geheimnis mehr. Auch sie dürften sich übrigens vor einem Austausch über ihre „Vorliebe“ ähnlich alleine fühlen. Umso deutlicher wurde mir noch einmal, was (und nicht wer) hier eigentlich in den Fokussen der Begierden steht. Wenn ich meinen Rollstuhl als sexuelles Objekt verstehen würde, müsste ich dann wirklich damit in der Öffentlichkeit herumfahren? Eher nicht. Aber das war gar nicht seine Idee.

Binnen weniger Sekunden redete niemand mehr. Alle schauten mich fragend an und warteten, teils kauend, teils mit halb geöffnetem Mund, auf meine Antwort. „Eine gelebte Notwendigkeit meiner Mobilität“, sagte ich. Zwei Männer prosteten mir mit ihrem Bierkrug zu, zwei andere lobten mich für meine Antwort, die Gespräche gingen weiter, nur Ralle war noch nicht zufrieden. „Dann hat man bestimmt einen Behindertenausweis, oder?“, fragte er. „Davon kann man ausgehen“, antwortete ich. Ralle streckte mir fordernd seine Hand entgegen: „Darf ich mal sehen?“

Nö. Hatte der ne Meise? „Wenn wir uns kennen, zeig ich dir vielleicht auch meine Ausweis- und Bonuskartensammlung“, erwiderte ich. Drei Leute lachten, Ralle blieb hart. „Also doch Fetisch“, sagte er und aß weiter. Ich antwortete: „Meinetwegen.“ – „Siehste.“ – „Meinetwegen darfst du das denken.“ – „Wenn das stimmt, könntest du doch den Ausweis zeigen“, sagte er. Ich antworte: „Ich sehe keine Notwendigkeit, mich vor dir auszuweisen.“ – Ralle legte Messer und Gabel auf den Rand seines Tellers, holte sein Portmonee aus der Gesäßtasche und fragte: „Welchen Ausweis willst du sehen?“ – „Gar keinen.“ – Er nickte und sagte abschätzend: „Alles klar. Es tut mir leid, wenn ich jetzt deinen Auftritt zerstört haben sollte, aber das hier ist ein Realtreffen. Das wurde im Forum eindeutig gesagt.“

Ralle unterstellte mir also, und erst jetzt verstand ich überhaupt das Ansinnen, dass mein Rollstuhl nicht etwa mein sexueller Fetisch sei, sondern der behinderte Auftritt vor Dritten mich anmachen würde. Wirklich? Oder war er einfach nur unverschämt dominant und übergriffig? Bevor ich etwas antworten konnte, sagte einer der Männer: „Aber sie ist doch real hier, Ralle.“ – „Mir gehen diese ganzen Geschichten im Forum total auf den Keks. Deswegen machen wir ja diese Realtreffen. Kennengelernt haben wir uns im Forum, ich habe aber dauerhaft kein Interesse an virtuellen Freunden, die im Netz alle Porsche fahren und im realen Leben bei der Stadtreinigung oder bei Aldi an der Kasse arbeiten. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Ich habe nichts gegen Menschen, die bei Aldi arbeiten. Sondern gegen jene von ihnen, die behaupten, sie fahren einen Porsche.“

„Porsche ist also dein sexueller Fetisch?“, fragte ich. Mir war klar, dass sich unsere Wege in den nächsten zehn Minuten trennen würden. Ich hatte lediglich großen Hunger und wollte noch ein paar Happen essen, bevor ich zurück ins Hotel rollte. Ralle legte einen Autoschlüssel auf den Tisch. Von einem Porsche. Ich sagte: „Ach, Schlüssel-Fetisch. Ich habe verstanden. Ich muss ehrlich sein: Ich kenne dein Forum gar nicht. Ich begleite nur jemanden.“ – „Ja, dann bitte ich dich um Verständnis, wenn ich dich jetzt auffordere, zu gehen.“ – „Darf ich noch eben aufessen?“ – „Nee.“ – Jemand versuchte, zu vermitteln, aber Ralle blieb hart. „Ich bin der Chef.“ – „Achso. Dann wünsche ich dir noch einen schönen Abend, Chef.“

Ich rollte zur Kasse, bezahlte mein Essen und machte mich auf den Weg zurück ins Hotel. Es ging etwas bergab. Aus meiner Erfahrung mit einem Ex-Partner, der auch nur meine körperliche Beeinträchtigung sexuell attraktiv fand und nicht mich, und aus den Informationen, die ich während meines Studiums sammeln durfte, ist eine ganz große Schwierigkeit beim Fetischismus, dass das Nirwana nie erreicht werden kann. Selbst das heute perfekte Objekt ist morgen unvollkommen und damit potenziell immer weniger interessant. Schwierig wird eine Beziehung vor allem dann, wenn mindestens einer der Partner nicht reflektiert genug ist, um die Motivation der sexuellen Aktivität zu erkennen. Oder der andere nicht aufrichtig genug ist. Ich fürchte, dass Ralle mehrmals in seiner Vergangenheit genau mit diesen Konflikten konfrontiert war, mit sich oder mit anderen, und er deshalb aus meiner Sicht so unangemessen agiert hatte.

„Bist du flott unterwegs“, hechelte hinter mir jemand. Es war Daniel. Ich stoppte. Er guckte mich an: „Das war ja unerträglich. Ich habe mich auch verabschiedet.“ – „Aber jetzt nicht meinetwegen, oder? Du bist doch extra zu diesem Treffen gekommen.“ – „Nein, die Leute sind mir zu strange. Bundesverdienstkreuz für ein Forum voller Geschichten, ich bitte dich. Ich hatte das nicht erwartet. Und seitdem ich weiß, dass das Treffen nicht dem geistigen Austausch dient, sondern nur Ralles Überprüfung derjenigen, die sich im Forum als strumpfhosenliebende Frau ausgeben, habe ich sofort die Biege gemacht. Und ich würde noch heute wieder abreisen, wenn du nicht hier wärst. Gehen wir noch zusammen was trinken?“

Daniel ging aufs Ganze. Ich antwortete: „Ich muss morgen einigermaßen fit sein und habe eigentlich keine Lust auf Gedränge, Lärm und schlechte Luft. Ich würde jetzt eher ins Hotel zurück fahren, mich aufs Bett legen und noch ein wenig fernsehen.“ – „Das könnte ich mir auch vorstellen. Allerdings verbrauchen zwei Fernseher, die dasselbe Programm zeigen, doppelt so viel Strom wie einer. Wäre es da aus ökologischer Sicht nicht sinnvoller, mit vier Augen auf ein Gerät zu schauen statt auf zwei?“ – Ich ließ die Frage unbeantwortet und bog in Richtung eines Kaufhauses ab. Irgendwie juckte mir das Fell. Daniel lief hinter mir her, auf eine Antwort wartend. Oder damit rechnend, dass er keine bekommt.

In der Strumpf-Abteilung im Erdgeschoss blieb ich stehen. „Welche favorisiert Ralle?“ – „Keine Ahnung.“ – „Und welche favorisierst du?“ – „Das ist mir jetzt peinlich.“ – „Wieso das denn? Also ich fände die ganz attraktiv“, sagte ich und holte die erstbeste Schachtel, in der sich eine schwarze mit einem angedeuteten Karomuster befinden sollte, von einem Haken. Daniel antwortete: „Die sieht bestimmt gut aus, aber so richtig sexy finde ich ja die etwas festeren, transparenten. Nahtlos sollte sie sein, mit Höschenteil, eher glatt und glänzend als samtig, …“ – „Zeig sie mir“, sagte ich neugierig. Er ging zu einem anderen Regal, stöberte ein wenig und holte etwas vom obersten Haken: „Sowas zum Beispiel. Aber es muss eben auch die richtige Frau in dem Ding sein und auch bestimmte Verhaltensweisen zeigen.“ – „Sich räkeln?“ – „Nee, eben genau das nicht. Ich stehe eher auf Lässigkeit, Ungezwungenheit, Unbekümmertheit.“

Ich hatte Lust. Lust, ihm den Kopf zu verdrehen. Beziehungsweise ihm den Kopf noch weiter zu verdrehen. Denn sein Hinterherlaufen, seine Einladungen, seine Andeutungen waren ja bereits mehr als eindeutig. „Und soll sie eher eng sitzen?“ – „Also eng anliegen auf jeden Fall. Keine Falten oder Leerräume. Aber Pellwurst mit Laufmaschen ist auch nicht gut.“ – „Guck mal bitte, ob sie die in 36 haben.“ – „Haben sie.“ – „Dann möchte ich mir so eine kaufen. Was kostet sie?“ – „Über 30 Euro. Aber was willst du damit?“ – „Ich werde nirgendwo sonst eine bessere Kaufberatung bekommen, die keine kommerziellen Absichten verfolgt.“ – „Achso.“

Zurück am Hotel sagte ich: „Ich rolle jetzt in mein Zimmer, ziehe meine Jacke, meine Schuhe und meine dicken Klamotten aus, gehe einmal pullern und dann komme ich zu dir aufs Zimmer zum Fernsehen gucken. Okay? Welche Zimmernummer hast du?“ – Mein Bett war inzwischen bezogen. So richtig sauber fand ich das Zimmer aber noch immer nicht. Sollte ich nochmal duschen? Untenrum auf jeden Fall. Rasiert hatte ich mich gestern erst. Zum Glück hatte ich kein Bier getrunken, sondern nur Wasser. Und nichts Blähendes gegessen. Blase einmal kathetern würde auch sinnvoll sein, auch wenn sich diese sonst auf dem Klo eigentlich zuverlässig komplett entleert. Haare bürsten. Zähne nach dem Essen putzen. Nein, keine Strumpfhose angezogen. Sondern normale Unterwäsche, darüber eine flauschige bunte Stoffhose, gestrickte bunte Wollsocken und ein ärmelloses Top.

Ich packte die Strumpfhosenpackung, eine Packung Kondome und eine Pampers in meinen Rucksack. Wer weiß, was dieser Abend noch bringen würde. Ich war mir gerade nicht sicher, was mich mehr reizen würde: Etwas auszuprobieren, bei dem es nicht um mich, meine Behinderung oder fünfundneunzig soziale Bindungen ging, sondern um ein Objekt an meinem Körper. Oder herauszufinden, ob meine Weiblichkeit stärker ist als so ein merkwürdiger Fetisch.

Er öffnete seine Zimmertür. Ebenfalls frisch geduscht. Angezogen, mit einem Handtuch in der Hand, sich gerade die Haare trocken rubbelnd. „Mach es dir schonmal bequem! Du kannst ja schonmal nach dem Fernsehprogramm gucken, ich bin gleich da.“ – Ich setzte mich auf das Bett um, Kissen in den Rücken, Beine ausgestreckt. Den Fernseher ließ ich ausgeschaltet. Kurz danach kam er aus dem Bad, fragte, ob er sich zu mir auf sein Bett setzen darf.

Eine meiner ersten Fragen war, ob seine aktuelle Partnerin auf Strumpfhosen steht. Ich gebe zu, das kann etwas fies sein, aber er antwortete direkt: „Diejenige, die ich derzeit gerne als Freundin hätte, möchte nichts von mir. Und ob sie Strumpfhosen trägt oder sogar darauf steht, weiß ich noch nicht.“ – Also interessiert er sich für sie aus anderen Gründen und ist derzeit Single. Und früher?

„Meine erste Freundin konnte damit nichts anfangen. Wir waren ein paar Wochen zusammen. Damals war ich 15. Meine erste richtige Partnerin hatte ich mit 16 und war mit ihr sieben Jahre zusammen. Zuerst zwei Jahre heimlich, weil meine Eltern das nicht wollten. Mit 18 hatte ich mit ihr mein erstes Mal, das war aber nicht schön. Danach hatten wir nie wieder Verkehr.“ – „Was? Moment. Ihr wart fünf Jahre miteinander nicht im Bett?“ – „Doch. Wenn ich abends von der Arbeit kam, lag sie schon im Bett und hatte eine Strumpfhose an. Aber ihr machte das keinen Spaß. Nur das habe ich erst später gemerkt. Die letzten zwei Jahre haben wir in getrennten Betten geschlafen. Ich fand sie nicht mehr attraktiv, sie hatte ihr Wesen sehr verändert.“

„Ich habe sie dann für eine Frau verlassen, die ebenfalls mir zuliebe im Bett Strumpfhosen anzog, aber mit ihr war ich nur ein paar Monate zusammen. Dann lernte ich eine Frau kennen, die vier Jahre älter war als ich, und die auf einer Veranstaltung eine Strumpfhose so richtig nach meinem Geschmack trug. Ich war hin und weg und habe anschließend sieben Jahre lang versucht, sie irgendwie in die Nähe meines Fetisches zu bekommen. Was aber dazu führte, dass sie mich mehr und mehr abstoßend fand. Und dann war ich noch rund zwei Jahre mit einer fast zehn Jahre jüngeren Frau zusammen, die meinen Fetisch teilte. Aber sie verließ mich, drei Monate nachdem wir zusammen eine Wohnung bezogen hatten, für einen anderen Typen. Das war 2015. Seitdem bin ich solo.“

„Und schaust dir inzwischen täglich Strumpfhosen-Filmchen im Netz an und gibst jeden Monat viel Geld für Prostituierte aus.“ – „Das Erste ja, das Zweite nicht. Ich habe zu viel Angst, mir da was einzufangen.“ – „Denkst du, dass dich deine Vorliebe in deinem Leben einschränkt?“ – „So würde ich das nicht sagen. Aber sie moderiert mein Leben. Strumpfhosen sind für mich ein Indikator für Attraktivität. Wenn eine Frau noch so hübsch ist, aber keine Strumpfhosen tragen mag, finde ich sie nicht attraktiv.“

Das war natürlich schon eine heftige Ansage. Ich will es nach langem Text endlich kurz machen: Wir hatten nichts miteinander. Alles, was mir von diesem Abend, der dann auch bald zu Ende war, bleibt, ist eine noch immer verpackte Strumpfhose. Die Erkenntnis, dass ich den Typen recht attraktiv fand, mir vielleicht auch das Eine oder Andere hätte vorstellen können. Ich bin froh, keinen Fetisch zu haben. Faibles und Präferenzen ja. Aber einen Fetisch nicht. Und du so?