Ohne Unterhose im Kettenkarussell

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Ich gehöre zu den Menschen, die ihr Handy nachts lautlos stellen. Wenn ich gefragt werde, warum, erzähle ich immer die Geschichte aus einem Trainingslager, als ich mit einer anderen jungen Frau aus Niedersachsen in einem Zimmer schlief. Beziehungsweise: Sie schlief, alle anderen waren wach. Weil alle anderen im Gegensatz zu ihr nicht daran gewöhnt waren, dass ein technisches Gerät nachts in einer Tour irgendwelche Geräusche von sich gibt. So ein leises, diskretes „Plopp“ oder „Klack“ kann ich auch noch überhören, aber spätestens, wenn das Ding ganze Melodien pfeift oder irgendwelche Alltagsgeräusche immitiert, bin ich hellwach. Besagtes Handy der Niedersachsin konnte Autohupe, rülpsendes Kind, Rasierapparat, Steinzeittelefon und mit den Stimmen prominenter Comedians schwachsinnige Dialoge rufen. Nachdem diverse Schlafhungrige wegen eines Whatsapp-Dialogfeuers zunehmend den Eindruck bekamen, ein Hochzeitskonvoi hätte sich in unserem Schlafzimmer zum Probehupen versammelt, und sämtliches Gerede nichts brachte, weil die Niedersachsin trotz inzwischen wieder tagheller Beleuchtung bereits tief und fest schlummerte, krabbelte Cathleen wieder aus ihrem Bett, schnappte sich das Ding und sperrte es, nachdem sich wegen einer Tastensperre nichts einstellen ließ, kurzerhand in ein Handtuch und eine Mülltüte gewickelt im Kosmetikeimer im Bad ein. Dann war Ruhe – und uns blieb auch die Kuhherde erspart, die für nächsten Morgen als Weckton eingestellt war. Nicht nur Männer können verspielt sein. Über chronisch defizitäre persönliche Aufmerksamkeit möchte ich wegen eines einzigen muhenden Handys noch nicht nachdenken …

Okay. Ich gehöre also zu den Menschen, die ihr Handy nachts lautlos stellen. Und damit habe ich erst relativ spät mitbekommen, dass mir mein Angehimmelter mit dem knackigen Po geantwortet hat. Und so, wie ich es nicht erwartet hätte: „Bin zufällig gerade zum Trainieren in Hamburg. Vielleicht trainieren wir zusammen? Melde dich bei mir!“

So schnell war ich noch nie so wach. Die SMS war vor zwei Stunden abgesendet worden. Eigentlich war ich mit Marie und Cathleen verabredet, tatsächlich zum Handbiken. Also zum Trainieren. Möglicherweise würden noch weitere Leute dazu kommen. Vielleicht hatte er sich auch bereits zuvor verabredet und mehrere Kollegen dabei? Keine gute Ausgangslage für ein Stelldichein, und Speed-Dating konnte irgendwie nicht in meinem Interesse sein.

Marie meinte: „Wenn er alleine ist, kannst du ihm ja eine andere Strecke vorschlagen. Dann trainiere ich mit Cathleen und den anderen ohne dich. Und falls er mit mehreren Leuten hier ist, muss sich das irgendwie ergeben. Oder du lädst ihn hinterher noch irgendwohin ein.“

Ziemlich schnell klärte sich, dass er alleine trainiert. Das kleine Männchen in meinem Kopf ermahnte mich: „Jule, er wird nicht deinetwegen alleine hierher gekommen sein, er hatte das sowieso vor und deine SMS kam genau im richtigen Moment. Also nutze die Chance, aber interpretiere nicht zuviel hinein.“ – Marie sagte: „Dann wünsche ich euch viel Spaß!“ – Ich fragte: „Und das ist jetzt okay für dich, dass ich unsere Verabredung zum Training so spontan absage?“ – „Ich hätte dich zwar gerne dabei gehabt, aber dein Rendezvous geht eindeutig vor. Hast du Kondome dabei?“ – „Ähm, was?“ – „Soll ich meine Mutter fragen, ob sie welche hat? Ich habe im Moment keine hier.“ – „Das fehlte noch.“ – „Wieso?“ – „Ich frag deine Mutter doch nicht nach Kondomen!“ – „Nein, ich frag sie.“ – „‚Hast du mal Kondome für Jule?‘ Wie peinlich ist das denn bitte?“ – „Gar nicht. Ich bezweifel aber, dass sie welche hat.“ – „Ich kaufe welche. Ich glaube aber nicht mal, dass ich heute welche brauche.“ – „Sicher ist sicher. Kauf welche. Und werd bloß nicht rot dabei.“ – „Deine Sorgen möchte ich haben!“

In einer Stunde wollten wir uns treffen. War ich aufgeregt! So aufgeregt wie schon lange nicht mehr. Mein Gesicht glühte. Nochmal rasieren? Ja, und bloß nicht schneiden. Klamotten packen. Was ziehe ich zum Training an? Wieso ist das so kalt? Wieso brauche ich lange Kleidung, wo ich so schön sonnengebräunt bin? Soll ich wirklich noch Kondome kaufen? Besser ist das. Gibt es die im Supermarkt um die Ecke?

Tatsächlich gab es die dort. In allen möglichen Farben und Geschmacksrichtungen. Kiwi-Banane? Bah, pfui. Ich entschied mich für ein geschmacks- und farbneutrales niedersächsisches Markenprodukt mit fast einhundertjähriger Tradition – haltbar waren sie auch noch ein paar Jahre. Dann konnte ja nichts schief gehen, selbst falls der Akt mal etwas länger dauert. Der Laden war leer, ich war die Einzige an der Kasse. Die Kassiererin musterte mich. Ich nahm schonmal mein Portmonee in die Hand. Die Kassiererin musterte mich weiter. Würde ich nicht im Rollstuhl sitzen, könnte man denken, ich hätte vier Eiterpickel und mindestens einen Popel im Gesicht. Die Kassiererin, eine Frau, geschätzt auf Mitte bis Ende Fünfzig, starrte mich weiter an. Ich dachte mir: „Frollein, gibt es hier jetzt irgendein Problem? Siehst du zum ersten Mal in deinem Leben eine Packung Kondome? Habt ihr die Dinger neu im Sortiment? Oder übersteigt es deinen Horizont, dass Behinderte ficken und dabei keine Kinder zeugen und auch keine Krankheiten übertragen wollen? Zieh die Packung über den Scanner, nimm mein Geld, und dann ist gut.“

Vielleicht sollte ich ihr auch nur ein einfaches „Ist was!?“ vor den Kopf knallen. Ach nee, das klischeebehaftete Denken findet ja wieder nur in meinem Kopf statt. Ich entschied mich, gar nichts zu sagen, nahm einen 10-Euro-Schein und legte ihn neben der Kondompackung auf den Kassentisch. Müsste ich noch erwähnen, dass ich die Packung jetzt gerne kaufen möchte? Sie musterte die Packung, guckte mich erneut an. „Haben Sie gefunden, wonach Sie suchen?“, fragte sie mich. Grinste sie? Tatsächlich, sie grinste. Ich antwortete: „Ja, vielen Dank. Was macht das bitte?“ – „Sieben neunundsiebzig.“ – „Zehn Euro habe ich Ihnen dort schon hingelegt.“ – „Ja, bitte immer erst geben, wenn der Kassiervorgang abgeschlossen ist, das könnte sonst ins Laufband geraten oder ein Windzug weht es weg.“ – „Ja, gewiss.“ – „Und zwei einundzwanzig zurück. Und den Bon dazu. Brauchen Sie eine Tüte?“

Hatte ich jetzt gerade nicht schon genug Tüten gekauft? Immerhin fragte sie nicht, ob sie mir die Kondome hinten rein stecken soll. In den Rucksack natürlich. Ich schüttelte den Kopf und nahm den Rucksack von meiner Rückenlehne, um die Packung dort zu verstauen. Sie sagte: „Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag und ganz viel Spaß, bei was auch immer Sie noch vorhaben.“ – „Danke.“ – „Das Wetter lädt ja quasi so richtig zu einem Schmusenachmittag auf der Couch ein. Ich wünschte, ich wäre nochmal so jung wie Sie.“ – Oh. Mein. Gott. Ich lächelte einmal freundlich in ihre Richtung. Das hätte ich besser gelassen. „Darf ich Sie mal was fragen?“, wollte sie wissen.

Was nun wohl kommt. Warum kann ich nicht mal eine Packung Kondome kaufen, ohne in Gespräche verwickelt zu werden? Will sie jetzt wissen, ob ich lieber oben oder lieber unten liege? Oder ob es trotz Behinderung mit dem Sex noch klappt? Oder ob ich richtig feucht werde? Oder ob mein Partner auch im Rollstuhl sitzt? Bevor ich zu Ende denken und mir passende Antworten zurechtlegen konnte, fragte sie leise über den Kassentisch: „Ich habe immer gedacht, wenn man im Rollstuhl sitzt, kann man keine Kinder mehr bekommen.“

Ach daher wehte der Wind. Deshalb das lange Anstarren und Überlegen, bevor sie die Packung über den Scanner gezogen hat. Wollte ich mit einer wildfremden Frau dieses Gespräch führen? Hatte sie eine Suchmaschine zu Hause, die ihr die Frage beantworten könnte? Wenn ich jetzt behaupte, ich hätte es eilig, was auch stimmte, würde das so aussehen, als sei ich verlegen. Das ging gar nicht. Also machte ich sie diskret darauf aufmerksam, dass sie sich gerade komplett daneben benahm, und sagte mit leiser Stimme: „Ach Sie meinen wegen der Kondome? Die sind gar nicht für mich. Die muss ich meiner Zimmernachbarin im Pflegeheim mitbringen. Die ist schon weit über 90 und nicht mehr so gut zu Fuß. Schönen Tag noch. Ein hübsches Halstuch haben Sie da!“

Nichts wie raus. Nicht mehr umdrehen. Draußen konnte ich mir ein breites Grinsen nicht verkneifen. Und nun direkt zu meinem Angehimmelten mit dem Knackpo. Er wartete schon auf mich, obwohl ich zwei Minuten vor dem verabredeten Termin am verabredeten Ort eintraf. Umgezogen war er auch schon. Ich hielt am Straßenrand, ließ das Fenster runter. Er kam zum Fenster. Ich sagte: „Guten Tag, der Herr!“ – „Guten Tag, junge Dame! Schönes Auto haben Sie da. Neu? Geklaut?“ – „Geklaut. Aber bitte nicht petzen. Du bist ja schon umgezogen.“ – „Ja, in zwei Minuten ist Trainingsbeginn, etwas mehr Disziplin bitte, ja?“ – „Wie lange bist du denn schon hier?“ – „Zehn Minuten ungefähr.“ – „Dann beeil ich mich und dann können wir gleich los.“ – „Keinen Stress.“ – „Kannst du schonmal mein Bike hinten rausholen? Dann kann ich so nach hinten krabbeln und mich dort eben umziehen. Das geht im Liegen einfacher.“ – „Klar, ist hinten offen?“ – Ich drückte auf den Knopf für die Zentralverriegelung. „Jetzt ja.“

Während er mein Rennbike aus dem Kofferraum holte, krabbelte ich nach hinten auf die Ladefläche. „Ich mach dann hier erstmal wieder zu, dann kannst du dich in Ruhe umziehen“, sagte er, warf die Klappe ins Schloss. Ich konnte ihn genau beobachten, aber durch die schwarz getönten hinteren Scheiben sollte er mich eigentlich nicht erkennen können. Das war mir erstmal ganz recht, denn es gab da so zwei Dinge, die er nicht unbedingt sehen sollte, bevor wir unser erstes Date hatten. Erstens fahre ich natürlich nicht ohne Pampers Auto. Auch wenn die noch völlig trocken war und er einen medizinischen Beruf hat (oder bald hat), würde es dafür mit Sicherheit einen besser geeigneten Moment geben. Zum Trainieren musste sie auf jeden Fall ab, sonst scheuert man sich wund. Und dann wäre es vielleicht ganz gut, nach dem Frühstück nochmal zu pinkeln? Ein Einmalkatheter mit Beutel empfinde ich als die hygienischste Lösung. Zellstoffunterlage drunter, da ich im Auto keine Hände waschen konnte, sterile Handschuhe an, Spiegel in die richtige Position. Guckt jemand außer mir? Nö. Mein Angehimmelter war fasziniert von meinem Rennbike. Also Katheter durch die Harnröhre, vierhundert Milliliter plätschern in den Beutel, rausziehen, fertig. Dank Ventil bleiben die da auch drin. Den ganzen Müll in eine undurchsichtige Tüte hinter den Beifahrersitz, Einteiler an, Heckklappe auf: „Na, überlegst du, auf Handbiken umzusteigen?“ – „Cooles Teil. Habe ich noch nie so eingehend begucken können. Ich bin wirklich gespannt.“ – „Kannst du das Gefährt mal bis hierher schieben, dass ich mich rübersetzen kann, ohne dafür erst meinen Alltagsstuhl ausladen zu müssen? Und machst du mir mal bitte den Reißverschluss am Rücken zu?“

Er guckte mich an. Und konnte sich den Kommentar natürlich nicht verkneifen: „Fesch!“ – „Ja, ich dachte mir, kurze Hose wird zu kalt. Ich strampel ja nicht mit den Beinen.“ – „Ist das ein Stück?“ – „Ja, sonst rutscht die Hose während der Fahrt und Bauarbeiterdekoltee bei Frauen finde ich nun alles andere als sexy. Schon gar nicht, wenn ich das nicht merke. Weil kein Gefühl da. Du verstehst?“ – „Ich verstehe. Wo kann man sowas kaufen?“ – „Keine Ahnung, wir haben die alle mal über einen Sponsor bekommen. Du kannst halt nichts gebrauchen, was in die Räder oder in die Kette gerät und beim Triathlon fährst du ja auch noch Rennrolli, und dann muss es an den Armen auch eng anliegen. Ich zieh aber gleich noch ein Shirt drüber, dass ich nicht ganz so wie eine Pellwurst aussehe.“ – „Du siehst nicht wie eine Pellwurst aus. Das ist halt sehr körperbetont und dein Körper ist ja nun alles andere als unansehnlich.“ – Lechz. Mehr Komplimente. Alle zu mir, bitte. Ich sagte: „Bevor du auf den nächsten Kilometern nun mehrmals vom Weg abkommst und ich dich retten musst, verhülle ich das lieber noch etwas.“ – „Das ist fies von dir, schließlich verhülle ich meinen Popo auch nicht.“

Er streckte mir die Zunge raus. „Deinen Popo sehe ich aber nur, wenn ich hinter dir her fahre. Ich werde aber vor dir herfahren, weil ich schneller bin als du.“ – „Jaja.“ – „‚Jaja heißt ‚leck mich am Arsch‘ und soweit sind wir noch nicht.“ – „Noch nicht? Was hast du denn noch so vor?“ – „Schaun wir mal. Erstmal Radfahren. Können wir endlich los?“ – „Du kommst doch nicht in die Hufe. Ich bin schon seit zehn Minuten abfahrtsbereit.“

Wir mussten um ein paar Kurven, rund zehn Minuten, gut zum Aufwärmen. Dann waren wir an der Trainingsstrecke angekommen: Ein Damm, für Autos gesperrt, gut asphaltiert, verläuft kilometerweit zwischen Wiesen und Feldern, teilweise durch Wälder. Relativ windgeschützt. Hin und wieder kreuzt er Straßen, auf denen Autos kommen, so dass man eventuell stoppen muss. Ansonsten: Freie Fahrt. Ich drehte auf. Grundgeschwindigkeit 30 km/h. Warf oben vom kleinsten auf das mittlere der drei Kettenblätter um. Das größte kann ich nur bei Bergabfahrten ab 45 km/h richtig gebrauchen. Ich fragte: „Wenn ich jetzt mit meiner Freundin trainieren würde, würden wir uns pro Kilometer um 2 km/h steigern, bis wir bei 40 sind. Und dann drei, vier Sprints mit jeweils 40 bis 45 über einen Kilometer, dann einen Kilometer Erholung bei 30 km/h. Wäre das auch was für dich oder hast du einen anderen Vorschlag?“ – „Alter Schwede. Ich weiß nicht warum, aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass wir heute überhaupt über 30 kommen. Ich habe mit 20 bis 25 gerechnet und bergab bis 35. Sorry. Nein, das machen wir. Dann gib mal Gas.“

Auf den ersten drei Kilometern kamen uns vier Autos verbotenerweise entgegen. Ich musste wegen meiner Breite jedes Mal fast bis zum Stillstand anhalten. Aber dann klappte alles. Ich kann nun nicht behaupten, dass mein Angehimmelter außer Atem kam, aber ins Schwitzen kam er schon. Ein Handbike ist leider wesentlich träger als ein Mountainbike. Soll heißen: Um aus dem Stillstand wieder auf 30 zu kommen, tritt er fünf Mal kräftig in die Pedale, während ich acht Gänge mühsam ausfahren muss. Das eine dauert zehn Sekunden, das andere zwei Minuten. Es war sehr lustig. Er fand die Strecke toll, ich schwitzte trotz eher kühler Luft wie bei einem Saunabesuch. Und während ich mich ziemlich verausgabt habe, schien er zwar gut gefordert, aber noch lange nicht müde zu sein. Etliche Male durfte ich seinen knackigen Po von hinten sehen, vor allem dann, wenn wir nicht zu zweit nebeneinander fahren konnten. Nach 24 Kilometern waren wir wieder an den Autos angekommen. Es begann gerade zu tröpfeln. Eine gute Stunde waren wir unterwegs.

„Und nun? Eine Runde schwimmen im See? Abkühlen? Statt Dusche?“, fragte ich. Er antwortete: „Ich habe keine Badesachen dabei.“ – „Was für Badesachen? Gleich so rein! Ein Handtuch habe ich für dich.“ – „Ähm. Ja. Klar. Okay. Dann mal los. Wie kommst du da rein?“ – „Entweder trägst du mich oder ich hole meinen Alltagsstuhl aus dem Auto.“ – „Bekomme ich dich getragen?“ – „Ich wiege mehr als ein Zentner. Aber nur knapp mehr. Wobei man mit so einer Angabe ja aufpassen muss. Ich meine ‚Pfund‘ als Basiseinheit, nicht Kilogramm.“ – „Fünfzig Kilo krieg ich wohl auf den Arm.“ – „Dann ohne Rolli.“ Ich klammerte mich um seinen Hals, er trug mich vor seinem Bauch. Etwas geschwitzt hatte er aber auch. Zum Glück. Er trödelte an der Wasserkante herum. „Guck mal, eine Ringelnatter. Oder?“ – „Wo?“ – „Da. Oder was ist das?“ – Ich konnte die aus dieser Position kaum erkennen. Aber es schien eine solche zu sein, die sich am Rande des Sees durch den Sand ringelte. Er ging langsam bis zu den Knien rein. „Soll ich dich mal fallenlassen?“, grinste er.

„Wehe“, funkelte ich ihn an. Das wurde sowieso noch lustig, denn der Baggersee hatte unterwasser stellenweise richtig steile Uferabbrüche. Dass er schwimmen kann, wusste ich, von daher machte ich mich darauf gefasst, irgendwann mit ihm abzurutschen. Ich spürte das kalte Wasser gerade an meinem Rücken, als er ins Leere trat. Boa, war das arschkalt geworden. Vor zwei Wochen hatte der See noch 26 Grad. Mein ganzer Körper zog sich zusammen, meine Beine spackten wild in der Gegend rum. Ich schwamm zwei, drei Züge, um ihn nicht aus Versehen zu treten. Ich wusste, die Spastik würde gleich wieder vorbei sein. Hauptsache, mein Darm lässt sich davon nicht anstecken. Kacken wäre jetzt nicht ganz so sexy. Wir schwammen um die Wette, spritzten uns nass, tauchten uns gegenseitig unter, dann wurde es relativ schnell kalt. Er trug mich wieder zum Auto. „Setz mich erstmal auf die Erde. Handtücher liegen da lose an der Seite.“

Er setzte mich auf ein Handtuch auf die Ladekante, ich zog mich nackt aus, wickelte mich in ein Handtuch ein, rubbelte mit einem anderen meine Haare trocken. Und guckte. Ja, die Chance lasse ich mir doch nicht entgehen. Natürlich glotzte ich nicht. Aber sehen konnte ich trotzdem alles, was ich sehen wollte. „Lecker. Jetzt gleich? Hier im Auto?“, dachte ich mir. „Könnte sofort losgehen“, dachte ich weiter und spürte mein Herz schneller schlagen. Sah man mir das an? Meinen Augen vielleicht? Sabberte ich schon? Er zog sich an. Hatte vorhin die inzwischen nasse Radhose unter seiner Jeans gehabt und … die Unterhose vergessen. Und war im Begriff, ohne eine solche in seine Jeans zu steigen. „Das ist mir gerade ein bißchen peinlich“, meinte er. Ich antwortete: „Ich finde das gerade ziemlich scharf.“ – „Was, keine Short drunter?“ – Ich nickte. Er sagte: „Ich dachte, das ist eher so ein heimlicher Männertraum. Die Frau, die nichts drunter hat.“ – „Träumst du davon?“ – „Och, reizvoll finde ich das schon.“ – Ehrlich ist er schonmal. Und dann: „Du meinst, dann kommt mein Knackpo besser zur Geltung?“ – „Och, vorne sitzt es gerade auch nicht schlecht“, rutschte es mir halb unbeabsichtigt raus. Eigentlich müsste er spätestens jetzt mal was gemerkt haben.

Er lachte. „Du bist ja eine. Sitzst nackt auf der Ladekante und baggerst, was das Zeug hält. Ist dir nicht kalt? Willst du dir nichts anziehen?“ – Sollte ich jetzt nochmal plump andeuten, dass ich dachte, er würde mich wärmen? Nein. Das wäre nicht gut. Ich entschied mich für: „Doch, doch, es ist gerade so spannend anzuschauen.“ – „Hast du keinen Freund?“, fragte er mich. Ich antwortete: „Sagen wir mal so: Ich bin gerade intensiv auf der Suche.“ – So. Noch deutlicher ging es kaum. Fand ich. Es war aber noch nicht deutlich genug. Entweder wollte er nicht oder er war schwer von Begriff. Oder sehr zurückhaltend. Oder überrascht. Jetzt hieß es abwarten. Er zog sich weiter an. Ich zog mich auch an. Er guckte mir zu. So halb unauffällig. Aber er hatte Interesse. In BH und Top fragte ich ihn: „Hast du noch ein wenig Zeit?“ – „Klar.“ – „Wollen wir aufs Volksfest?“ – „Aufs Volksfest?“ – „Nicht?“ – „Ich war seit mindestens zehn Jahren nicht mehr auf dem Volksfest!“ – „Dann wird es doch mal wieder Zeit, oder?“ – „Könnte man so sehen. Ja. Warum nicht!“

„Okay. Und das ist mir jetzt etwas peinlich. Aber ich werde mich jetzt für das Volksfest untenrum lieber gut einpacken. Gelähmte Blasen flippen im Karussell gerne mal aus.“ – „Okay?!“ – „Ja, nicht besonders sexy, ich weiß. Aber besser als nasse Hosen.“ – „Du, kein Problem. Ich bin nur überrascht. Ich habe gelernt, dass man das mit Medikamenten, Botox und chirurgischen Lösungen vollständig in den Griff bekommen kann.“ – „Bei uns war es noch nicht dran im Studium, aber gerade bei inkompletten oder nicht ganz kompletten Querschnitten ist das nicht so einfach. Mich machen die Medikamente so knülle, dass ich nicht mehr Auto fahren kann, doppelt sehe und all so Zeugs. Oder ich müsste davon weniger nehmen, dann bringen sie aber nichts. Und Botox kommt mir nicht ohne große Not in den Körper. Genauso wenig will ich chirurgisches Geschnibbel.“ – „Ja, du, deine Sache. Ich finde es nur interessant, weil man im Studium was ganz anderes vermittelt bekommt.“ – „Bei einigen klappt das halt sehr gut, bei anderen weniger gut und bei einigen überhaupt nicht. Ich habe das eigentlich recht gut im Griff, da passiert eigentlich nur selten was. Aber wenn sowas im Auto oder unterwegs passiert, ist die Sauerei halt enorm groß. Das vermeide ich gerne.“ – „Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen. Ich bin nur gerade etwas durcheinander. Ich habe Windeln bisher immer mit Kindern und dementen alten Menschen in Verbindung gebracht. Es war für mich bis eben ein Zeichen von absoluter Hilflosigkeit und Schwäche. Allerdings sind das zwei Eigenschaften, die so gar nicht zu dir passen. Ich muss da erstmal neu sortieren. ‚Umparken‘, wie man neuerdings sagt.“ – „Ich hoffe, du sortierst jetzt nicht meine Eigenschaften neu.“ – „Quatsch. Ich finde diese Diskrepanz zwischen der Realität und meinen Gedanken nur gerade sehr … sehr … faszinierend irgendwie.“

Merke: Er findet mich faszinierend. Irgendwie. Irgendwie ist das schonmal ein Anfang. Auf dem Volksfest hat er gelernt, dass mein normales Rollitempo sein Laufschritt ist. Was natürlich nicht heißt, dass er nur gerannt ist. Sondern dass ich für ihn langsam fahre. Und dass eine Querschnittlähmung kein Grund ist, nicht in der Frisbee mitzufahren. Okay, Kettenkarussell musste auch sein, weil man sich da während der Fahrt so schön anfassen kann, und im Dancer sowie der Riesenkrake kann man sich wunderbar an den starken Mann anlehnen, gerade wenn man keine Rumpfkontrolle hat und ganz schön durchgewirbelt wird. Er hat mich überall rein- und wieder rausgetragen. Drei Mal habe ich ihm mit meinem Dankeschön einen Kuss auf die Wange gegeben, als er mich wieder in den Rolli setzte. Und am Ende einmal zum Abschied. Die Kondome habe ich nicht gebraucht. Aber wir wollen uns bald wieder treffen. Ich bin gespannt. Und heiß auf ihn. Immernoch. Und irgendwie auch verknallt. Und hach ja, das ist ein schönes Gefühl. Ein sehr schönes.

Dass er meinen Blog liest, muss ich übrigens eher nicht befürchten. Er ist ein Gegner von kommerzieller Standortbestimmung, mobilem Internet und ähnlichem. Hat kein Smartphone, sondern noch ein Tastenhandy mit Prepaidkarte aus dem Supermarkt. Dass ich blogge, weiß er. Was ich dort blogge, auch. Darüber haben wir schon früher mal gesprochen. Er fand es spannend, meinte aber, es sei nichts für ihn. „Ich lese sowas nicht. Mir reicht, wenn ich auf der Arbeit die halbe Zeit vor der Flimmerkiste sitzen muss. Und mich mit den Tücken drahtloser Röntgenbild-Übertragung rumärgern muss.“ – „Darf ich in meinem Online-Blog auch über unseren heutigen Tag schreiben? Über unser Training, über das Volksfest, über dich?“ – „Solange da nicht mein Name steht oder irgendwelche Fotos auftauchen, kannst du von mir aus auch schreiben, dass ich ohne Unterhose im Kettenkarussell gesessen habe.“ – Okay. Hab ich jetzt. Geschrieben.

Videoanalyse

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Inzwischen wissen ja außer mir noch ziemlich viele andere Leute, dass ich kuriose Situationen anziehe. Oder vielleicht schaue ich bei Alltagssituationen nur genauer hin als manche andere Menschen und stelle andere Fragen? Oder möglicherweise erlebt jeder Mensch diese Situationen gleichermaßen, nimmt sie vielleicht nur ganz anders (im Zweifel gar nicht) wahr? Zumindest ist mir bereits öfter aufgefallen, dass ich irgendeine Alltäglichkeit kommentiere und meine Leute dann sagen: „Worauf du wieder achtest.“ Oder: „Dass du wieder sowas siehst. Jetzt, wo du mich aufmerksam machst, sehe ich das auch. Aber ohne deinen Hinweis wäre mir das gar nicht aufgefallen.“

Die letzte kuriose Sache war auf der Autobahn im Baustellenbereich. Zwei Spuren waren neu asphaltiert worden, vor Rollsplitt wurde gewarnt. Auf beiden Seiten standen diese Achtungsschilder mit den fliegenden Steinchen drauf, links stand „60“ drunter und rechts „80“, ein paar hundert Meter weiter stand links „80“ und rechts „60“. Nachdem vor diesen beiden Schildern wegen „Straßenschäden“ schon der komplette Verkehr auf 60 km/h runtergebremst worden war, macht das aus meiner Sicht nicht unbedingt Sinn. Immerhin gab es offenbar noch genügend runde Schilder, so dass das Schild „Krötenwanderung“ im Baufahrzeug verstaut bleiben konnte.

Aber das ist nur eine Kleinigkeit. Vermutlich hat irgendein Straßenarbeiter die Schilder auf dem Anhänger verwechselt und beim Aufstellen im strömenden Regen nicht mehr richtig hingeguckt. Oder so ähnlich. Eigentlich nicht der Rede wert. Ich war auf dem Weg zum Outdoor-Schwimmtraining. Ich habe mich über eine Bekannte vom Unisport einer Gruppe angeschlossen, die (außerhalb vom Unisport) im Freiwasser trainiert. Ich bin zwar (bisher) dort die einzige Rollifahrerin, aber mir geht es hauptsächlich ums Schwimmen (und nicht etwa ums Behinderten-Schwimmen…). Und so viel Unterschied ist zwischen jemandem, der mit Beinschlag krault und jemandem, der ohne Beinschlag krault, nun auch nicht. Von daher dürfte der Trainer eigentlich keine großen Probleme mit mir haben.

Womit wir beim Thema wären. Nein, nicht Probleme, sondern Trainer. Weil nur insgesamt vier Schwimmerinnen zur Trainingszeit kommen konnten und wollten, davon ein Schnuppermitglied, bekamen wir einen Trainingsplan und der Trainer meldete sich ab. Wir sollten mal zeigen, so meinte er bei der Übergabe der in wasserdichte Folie laminierten Pläne, dass wir auch ohne Kontrolle vom See-Ufer vernünftig Gas geben könnten. Und tschüss.

Etwa 45 Minuten später sah ich den Trainer vom See-Ufer sehr aufgeregt pfeifen und winken. Neben ihm standen zwei Polizisten. Nanu? Wollte er nicht weg sein? Ist was passiert? Auf dem (Wasser-) Weg zu ihm machte ich mir so meine Gedanken. Ich vermutete, irgendeiner wird sein Auto angefahren haben und abgedampft sein, ohne sich zu erkennen zu geben. Und nun wollten die beiden Executer in kurzärmligem Hemd und mit Mütze auf dem Kopf von uns wissen, ob wir was beobachtet hätten. Oder vielleicht war der Trainer gegen eins unserer Autos gefahren? Ich schwamm etwas schneller. Obwohl … dann würde er nicht die Polizei rufen. Ich schwamm wieder langsamer.

Des Rätsels Lösung: Andere Badegäste hatten ihr Handy gezückt, nachdem unser Trainer in seinem Auto auf der Rückbank gesessen und hinter einer abgedunkelten Scheibe Videoaufnahmen gemacht hatte. Die Familien mit zum Teil kleinen Kindern befürchteten nun, er habe selbige beim Umziehen am Strand gefilmt und wollte die Aufnahmen nun in einschlägigen Foren posten. Oder so ähnlich. Jedenfalls: Ein Mann, der bei warmen Temperaturen hinter einer abgedunkelten Scheibe im Auto sitzt und einen Badesee filmt, erschien in höchstem Maße verdächtig.

Hm. Ich halte mich mit meiner Beurteilung mal zurück. Ich kann schon verstehen, dass das jemand befremdlich findet. Mehr möchte ich dazu aber nicht sagen, weil ich inzwischen weiß, dass er eben nichts Merkwürdiges im Schilde führte. Der eine Polizist sagte zu uns: „Der Mann gibt an, Ihr Trainer zu sein und Filmaufnahmen von Ihnen für eine Videoanalyse angefertigt zu haben. Kann das sein?“

Eine ältere Teamkollegin antwortete: „Also unser Trainer ist er und Videoanalyse haben wir auch schon paar Mal gemacht. Gewusst haben wir das vorher nicht, aber wenn man das vorher weiß, schwimmt man ja besonders korrekt, und genau dann bringt es ja nichts. Es müsste doch aber zu sehen sein, was genau er gefilmt hat, damit lässt sich das doch klären, oder?“ – Der Polizist antwortete: „Ja, wir haben das eben im Schnelldurchlauf auf dem Kameramonitor gesichtet, da sind tatsächlich nur die Schwimmerinnen drauf. Hin und wieder sind mal andere Leute am Rand zu sehen, aber dann nur für Bruchteile von Sekunden und nur unscharf als Beiwerk. Die Frage ist, ob Sie alle damit einverstanden sind, dass Sie von ihm gefilmt werden.“

„Ja“, antworteten wir vier wie aus einem Mund. Wer dachte, dass sei bereits die Kuriosität, den muss ich enttäuschen. Es ging jetzt erst richtig los. Der Polizist sagte: „Okay. Um jetzt dem vorzubeugen, dass wir hier in einer Stunde erneut hingerufen werden, erteilen wir Ihnen einen Platzverweis für die nächsten 24 Stunden. Sie fahren bitte Ihr Auto dahinten weg und filmen hier auch nicht mehr. Sie können einfach nicht an einem öffentlichen Badesee Videoaufnahmen machen. Das muss Ihnen klar sein, dass das Ärger gibt. Sollten Sie sich nicht daran halten und wir kommen hier heute noch einmal vorbei und sehen Sie hier, nehmen wir Sie mit auf die Wache. Schönen Tag noch.“

Unser Trainer bekam seinen Ausweis zurück und die Polizisten gingen zurück zum Streifenwagen. Ich bekam meinen Mund nicht mehr zu. Er hat nichts Ungesetzliches getan, und nur weil die Polizei keinen Bock hat, weitere Anrufe zu erhalten, die sich als Fehlalarm rausstellen, schicken sie jemanden weg? Es würde mich wundern, wenn das mal nicht ungesetzlich ist. Aber egal, es kommt mit Sicherheit noch wieder schlechteres Wetter für eine Videoanalyse und die 24 Stunden sind auch schnell vorbei.

Gut ist es

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„Na, hast du dich schon gut eingelebt?“ – Diese Frage habe ich in den letzten Tagen mehr als einmal gestellt bekommen. Die Antwort ist kurz und knapp: „Nein. Gut ist es, aber eingelebt habe ich mich noch nicht.“

Was ist gut? Das, wovor ich die größte Angst hatte, ist erstmal nicht eingetreten. Ich bin nicht völlig einsam und niemand will mit mir zu tun haben. Wie schon geschrieben, kennen mich drei Kommilitoninnen bereits als Bloggerin. Soll heißen: Eine hat meinen Blog mal entdeckt, wie sie erzählt, im Rahmen einer Recherche für das Studium, hat ihn zwei Freundinnen empfohlen und … lustig. Zu denen habe ich ein recht gutes Verhältnis. Sofern man davon nach wenigen Tagen sprechen kann. Bisher ist es sehr entspannt.

Der Rest derer, mit denen ich bisher zu tun hatte, war auch sehr nett. Sehr interessiert, sehr höflich, und, anders als in Hamburg, deutlich weniger häufig schroff und rüpelhaft. Mir fehlen „Digger, Alder, deine Mudder“ schon. Die drei kamen zwar nicht permanent in Hamburg im Hörsaal vor, aber durchaus schon mehrmals täglich. Die Leute sind hier insgesamt sehr viel ruhiger und überlegter. Das gefällt mir. Zunächst.

In meinem Haus wohnen, soweit man das jetzt bereits beurteilen kann, auch nur nette Leute. Ein direkter Nachbar ist ein wenig eklig, weil er immer im Treppenhaus rülpst. Laut – um sich dann anschließend selbst zur Ordnung zu rufen. So vermutet man in einer Sekunde einen ausgewachsenen Hirsch vor der Tür, in der anderen hört man deutlich ein „Tsss. Na! Also sowas!“ durch die geschlossene Wohnungstür. Vielleicht löst sich ja das Problem und es macht ihm keinen Spaß mehr, sobald ein paar Pflanzen dort stehen und den Schall so brechen, dass es nicht mehr so toll hallt.

Ein gemeinsames Grillen auf der halb gepflasterten Auffahrt haben wir bereits hinter uns. Ich habe einen Nudelsalat beigesteuert, von dem man merkte, „dass den eine echte Hausfrau gemacht hat! Ich weiß selbst, wie schwer das ist, an so ein Ding Geschmack dran zu kriegen!“ – Siehste?!

Um sportliche Möglichkeiten kümmere ich mich in der nächsten Woche. Ein paar Leute haben mich bereits genötigt, nächste Woche zum Hochschulsport in die Schwimmhalle zu kommen. Ich bin gespannt, ob ich da mithalten kann, denn eine reine Rolligruppe gibt es hier nicht. Ansonsten freue ich mich, wenn ich bald mein Handbike und meinen Rennstuhl hier habe, um wieder vernünftig trainieren zu können. Ganz so platt wie in Hamburg ist das Land hier nicht, aber Mädels mit Muskeln sollen ja sexy sein.

Und sonst? In Hamburg ist schöneres Wetter als hier. Geschneit hat es hier zwar nicht, aber einige Leute mussten heute früh ihre Autos kratzen. Bäh! Ich dachte, das wäre erledigt und nun kommt der Sommer! Ich möchte endlich baden!

Und ja, ich vermisse meine Leute. Aber soziale Netzwerke machen das alles etwas erträglicher. Und ich hoffe, dass Marie sich das bis zum nächsten Semester nicht nochmal überlegt. Und dass ihre Mama sie für rund zwei Jahre ziehen lässt, denn ihr fehlt dadurch natürlich eine wichtige Arbeitskraft in der Praxis. Aber noch habe ich keinen Grund zur Sorge!

Berlin, Berlin

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Der Alltag in Hamburg hat mich schon wieder voll im Griff, ich steuere mit voller Fahrt auf meine Zwischenprüfung zu und bin im Moment wirklich mehr als unter Strom. Eigentlich wollte ich meine Teilnahme an einem Traininglager in Berlin am letzen Wochenende noch spontan absagen und meine Nase in ein paar Bücher stecken; inzwischen bin ich froh, dass ich es nicht getan habe. Auch wenn ich dadurch zusätzlich noch ein Treffen mit einer Freundin verpasst habe, auf das ich mich eigentlich schon sehr lange freue. Dass sie nach Hamburg kommen würde, hatte sich allerdings erst einige Tage vorher ergeben und Berlin war schon im Herbst geplant.

So standen am Freitagmittag über 20 Kinder und Jugendliche in Rollstühlen auf einem Bahnsteig des Hamburger Hauptbahnhofs und waren die Attraktion des Tages. Hätte man ein Zebra dort angebunden, hätten vermutlich genauso viele Leute um ums herum gestanden und ihre Kameras ausgepackt. Ja, richtig gelesen, ich kam mir vor wie in der Muppetshow. Einmal lächeln bitte!

Vier starke Papas kümmerten sich um das Einladen aller Leute. Ein Bahnmitarbeiter mit roter Mütze stand in sicherer Entfernung und wischte sich permanent den Schweiß von der Stirn, ihm war das alles nicht geheuer. Nach drei Minuten waren alle Leute in den reservierten Abteilen verstaut, die Rollstühle kamen in zwei weitere (leere) Abteile, das Gepäck war auch drin – der Zug konnte ohne Verspätung abfahren. Auch in Berlin lief alles wie am Schnürchen: Rechtzeitig vorher packten unsere Trainerinnen und Trainer die Stühle wieder aus, bauten sie zusammen und einer nach dem anderen stellte sich in den Gang und wartete auf die Einfahrt des Zuges. „Perfekt durchorganisiert“, meinte der Zugbegleiter. „Ich dachte schon, wir bauen hier eine halbe Stunde Verspätung auf, aber so ist es natürlich noch viel besser.“

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren im Alter zwischen 12 und 17. Für viele war es das erste Trainingslager überhaupt. Marie und ich bekamen, genauso wie die anderen Betreuerinnen, Betreuer, Trainerinnen und Trainer ein Doppelzimmer, die Kinder und Jugendlichen hatten Viererzimmer. Das Gebäude gehörte einer caritativen Einrichtung und war komplett barrierefrei. Die Schwimmhalle war zwei Haltestellen mit der S-Bahn entfernt.

Das erste Schwimmtraining begann gleich mit einem Adrenalinstoß. Während die erste Gruppe bereits ins Wasser kletterte, kam eine Teilnehmerin angedüst, schnappte sich ausgerechnet mich und sagte: „Jule, komm mal schnell mit. Der … geht es nicht gut, irgendwas mit dem Kreislauf.“ – Im Vorbeifahren sog ich noch Tatjana ein, im Umkleideraum saß in ihrem Rollstuhl besagte Teilnehmerin, 12 Jahre, erworbener inkompletter Querschnitt, nackt, den Kopf in die Hände gestützt, leichenblass. „Mir ist so schlecht. Kreislauf.“ – Nicht untypisch für einen Querschnitt, Tatjana schnappte sich das Mädchen, legte sie auf eine Bank, Beine hoch, großes Badehandtuch drüber. Eine Frau vom Hallenpersonal kam rein. „Soll ich alles anrufen?“, fragte sie. Das Mädchen: „Bloß nicht! Das ist gleich wieder vorbei. Das ist die eklige Luft hier. Und die Aufregung. Ich habe mich ein halbes Jahr auf dieses Wochenende gefreut. Nun ist es endlich da, das scheint meinen Kreislauf gerade etwas zu überfordern.“ – Die Frau stellte einen Mülleimer in die Tür und riss das Fenster im Flur weit auf. Nach ein paar Minuten ging es dem Mädchen wieder besser. Sie sollte noch ein wenig liegen bleiben, eine Freundin blieb bei ihr.

Abends stand der legendäre Kudammbummel auf dem Programm. Dass selbst in Berlin eine so große Behindertenhorde ungewöhnlich ist, wussten wir spätestens in dem Moment, als jemand beim Gaffen zielsicher gegen einen Ampelmast lief und sich gehörig den Kopf anstieß. Blut lief allenfalls unter der Haut und wird ihm in den nächsten Tagen einen blauen Fleck bescheren. Einige Teilnehmerinnen konnten sich das Kiechern nicht verkneifen. Kurz danach wurde Marie von einem wildfremden Typen angesprochen: „Du hast so scharfe Titten, obwohl du im Rollstuhl sitzt!“ – Woraufhin ein Typ, der direkt daneben stand, und den wir gar nicht kannten, antwortete: „Lass meine Freundin in Ruhe, sonst sitzt du auch gleich im Rollstuhl.“ – Auweia. Nix wie weg. Abends beim Zubettgehen zieht sich Marie aus, setzt sich mit freiem Oberkörper vor mich auf die Bettkante, presst ihre Brüste zusammen und sagt: „Die sind auch scharf, obwohl ich auf der Bettkante sitze. Oder?“ – „Rattenscharf“, antworte ich, ohne von meinem Handy hochzuschauen. Marie steckt einen Zeigefinger in den Mund, berührt anschließend mit dem ausgestreckten Zeigefinger eine Brust, macht ein Geräusch, als wenn Wasser auf einer Herdplatte verdunstet, schüttelt den Finger mit schmerzverzerrtem Gesicht und tut so, als hätte sie sich verbrannt. Manchmal möchte ich sie stundenlang knuddeln.

Drama Nummer Zwei begann am nächsten Morgen kurz vor sechs. Während die Ersten es kaum mehr erwarten konnten, zu frühstücken und die erste Trainingseinheit des Tages zu beginnen und entsprechend schon komplett angezogen über die Flure rollten, klopfte es ganz vorsichtig an unserer Tür. Marie und ich lagen noch in unseren Betten. Jene Teilnehmerin, die am Tag zuvor die Kreislaufprobleme hatte, kam rein. Eine Zimmerkollegin läge weinend in ihrem Bett, alle glauben, sie hätte Heimweh. Nachdem ich mit Marie ausgeknobelt hatte, wer mitfährt und die Schere Papier schneiden kann, musste ich mit. Zehn Minuten, nachdem ich zwei Mitbewohner auf den Flur und die dritte zum Duschen geschickt hatte, wusste ich, was ihr Problem war. Kein Heimweh. Ein nächtliches urologisches Problem, dessen Folgen sich von der Zehenspitze bis zum Hals ausgebreitet hatten. „Aber deswegen weinst du jetzt nicht, oder?“, versuchte ich, maximal zu beschwichtigen. Ihre Reaktion: „Krieg ich Strafe?“

Ich nickte. Es schien sie nicht zu überraschen. Sie wollte nicht mal wissen, welche. Ich sagte: „Zur Strafe gibt es frische Bettwäsche.“ – „Petzt du das den anderen?“ – „Verpetz dich doch selbst.“ – Sie zeigte mir einen Vogel. – „Doch! Mach dich doch ein wenig lustig und sag, du warst im Traum schon eine Runde schwimmen.“ – „Die lachen doch alle über mich.“ – „Dann lach doch mit! Aber ich glaube das nicht mal, wer weiß, wer nächste Nacht die nächste ist. Was wäre eigentlich, wenn … das passiert wäre? Würdest du dann über sie lachen?“ – „Quatsch. Sie ist doch meine Freundin, die lach ich doch nicht aus.“ – „Und du? Bist du nicht die Freundin von …?“ – „Doch.“ – „Dann erzähl es ihr doch einfach. Ich bin mir sicher, sie kratzt das nicht mal. Ich hol sie mal rein, okay?“ – „Nein.“ – „Doch. Wie lange willst du denn da drin noch liegen bleiben?“ – „Sie soll das nicht sehen.“ – „Meinst du, sie weiß nicht, wie das aussieht?“ – „Ich will das nicht.“ – „Komm, Augen zu und durch. Danach geht es dir besser.“ – „Auf deine Verantwortung.“

Ich holte die Freundin mit ohne Kreislauf wieder rein. Sie fragte: „Geht es dir wieder besser? Was hattest du denn?“ – „Ich habe, ich hatte, ich war … schwimmen.“ – „Was?!“ – „Ich war schon schwimmen. Heute nacht.“ – „Ich versteh nur Bahnhof.“ – „Siehst du Jule, das funktioniert nicht. Dein Tipp war blöd.“ – „Was für ein Tipp? Heckt ihr hier irgendwas aus?“ – „Sie hat ins Bett gepisst.“ – „Echt?“ – „Boa, Jule, du bist echt sooo fies. Ich hasse dich!“ – „Ich weiß. Aber später wirst du mich dafür lieben. Und ewig kannst du es nicht geheim halten und irgendwann müssen wir auch mal frühstücken und mit dem Training anfangen. Also warum willst du noch eine halbe Stunde drum herum reden?“

Reaktion der Kreislauffreundin: „War das jetzt das ganze Problem? Warum ziehst du dir eigentlich nachts keine Pampers an? Dann kann sowas nicht passieren.“ – Kurz und schmerzlos. Nach dem Frühstück wurden die Trainingspläne verteilt. Die meisten Leute schreiben ihn sich mit einem dünnen Edding auf den Unterarm, dann haben sie ihn immer dabei. Die beiden besagten Freundinnen hatten sich gegenseitig auf den Rücken geschrieben: „Ich [Herz] Jule!“ – Irgendwann mitten in der Trainingseinheit sah ich das. Wie süß!!! Genauso süß fand ich eine andere Teilnehmerin, 14 Jahre alt, die nach dem Mittagessen plötzlich neben mich rollte, meinen Hals umklammerte, mich zu sich zog und mir einen dicken Kuss auf die Wange gab. Ich weiß zwar nicht, wofür genau, das muss ich aber auch nicht wissen. Die anderen Trainerinnen und Betreuerinnen bekamen auch einen. Marie bekam abends in einem Aufenthaltsraum mit Kaminfeuer, in dem ein Disko-Abend stattfand, inklusive Sing-Star-Wettbewerb, von mehreren älteren Teilnehmerinnen eine Schulter-Nacken-Massage und von der jüngsten ein mit Filzstiften gemaltes Bild, das sie im Becken zeigt, während Marie im Rollstuhl sitzend am Beckenrand steht und sie daran erinnert, dass sie beim Kraulschwimmen die Ellenbogen hoch nehmen soll…

In der letzten Nacht gab es in unserem Zimmer ein Problem mit dem Heizkörper, aber Marie und ich sind ja schon erprobt im Bettenteilen und einander Wärmen. Entsprechend war die zweite Nacht extrem kuschelig. Am letzten Tag war die legendäre Bierstaffel der Hit. Wobei es diesmal kein Malzbier gab, sondern Apfelsaft. Das hatte logistische Gründe, trotz entsprechender Bestellung war kein Malzbier zu finden. Was seine Vorteile hatte, weil dann nicht die Hälfte der Leute unter sich ausmacht, wer am lautesten rülpsen kann, aber auch seine Nachteile, denn einen Drittelliter Malzbier kippt man schneller weg als einen Drittelliter Apfelsaft. Bei einer Bierstaffel treten mehrere Mannschaften gegeneinander an: Nacheinander müssen die Schwimmer durch die 50-Meter-Bahn, drüben raus, einen Becher Bier (oder Apfelsaft) leeren, wieder zurück. Bei Erwachsenen muss meistens ein halber Liter Bier getrunken werden, so dass die Staffel meistens am letzten Abend stattfindet. Schön ist es, wenn die Anzahl der Leute sich nicht durch die Anzahl der Mannschaften teilen lässt und jemand doppelt schwimmen muss. Und wenn es dann noch eine Revanche gibt… Ich weiß, es gibt sinnvollere Spiele, aber der Bogen kann nicht immer gespannt sein.

Die Rückfahrt verlief unspektakulär. Am Montag bekam ich von der Mutter der Nachtschwimmerin eine Mail mit einem relativ kurzen Text: „Schön, dass du …s Malheur so professionell gehändelt hast. Ich glaube, sie ist total in dich verknallt. Sie hat den ganzen Abend pausenlos von dir erzählt. Wir möchten einfach nur Danke sagen für euer aller Engagement. Das ist nicht selbstverständlich.“ – Nachdem auch Marie, Tatjana und die anderen beiden Betreuer und Trainer Nachrichten von dieser Mutter bekommen haben, möchte ich mal eins festhalten: Es war eine der harmonischsten und damit auch entspanntesten und damit auch schönsten Veranstaltungen seit langer Zeit. Die kleinen Fruchtzwerge haben es geschafft, mich ein Wochenende lang aus meinem Prüfungsstress zu holen. Toll.