Gute Vorsätze und: Wie man damit umgeht

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„Gute Vorsätze“ ist, glaube ich, ein Instrument, um vom Jahreswechsel-Blues, den viele Menschen schieben, wenn sie die letzten 365,25 Tage in ihren Gedanken Revue passieren lassen, abzulenken. Genauso wie die Knallerei. Die soll böse Geister vertreiben. Vermutlich nicht nur die draußen, sondern auch die, die auf der Psyche liegen. Wenn Weihnachten, das Fest der Liebe, vorbei ist, und alle Aufregung verflogen, dann brauchen die Menschen etwas, an dem sie sich festhalten können. Gute Vorsätze.

Früher oder später ist der Jahreswechsel-Blues weg. Alle sind wieder im Alltag angekommen, sind wieder im Stress, sind mittendrin. Mit ihm weg sind dann auch die guten Vorsätze. Einmal pro Tag ins Schwitzen kommen, respektvoll und wertschätzend mit meinen Mitmenschen umgehen, nicht auf Behindertenparkplätzen parken und so weiter – spätestens Ende Januar ist alles so wie früher.

Alle Behindertenparkplätze sind belegt, mit Leuten ohne Ausweis. Das Schwimmbad ist wieder leer, niemand zieht mehr seine Bahnen. Außer die Verrückten, die auch ohne gute Vorsätze schon immer regelmäßig trainiert haben. So wie Marie und ich, die heute beide 2,8 Kilometer geschwommen sind. Und Helena, die nebenbei, ganz cool, ihr Jugendschwimm-Abzeichen in Silber geschafft hat. Zum Sprung vom Dreimeter-Brett ist die Mitarbeiterin der Schwimmhalle doch tatsächlich Stufe für Stufe mit ihr die Leiter hochgeklettert und hat sie gesichert. Und oben, ohne lange zu überlegen: Zack, erledigt.

Vorher musste Helena eine Karte lösen. Marie und ich nicht, wir kommen mit unserem Mitgliedsausweis rein. Helena stellt sich brav an der Kasse an, vor ihr führt eine ältere Dame unendliche Gespräche wegen Gutscheinen und Rabatten. Als Helena endlich dran ist und schon Luft holt, kommt eine Frau von rechts und drängelt sich vor. Helena, nicht auf den Mund gefallen, fragt ganz höflich: „Möchten Sie vor?“ – Da sagt doch die Frau: „Nicht nötig, ich bin schon dran.“

Löst ihre Karte, bezahlt mit einem Dutzend Münzen, grinst Helena nochmal an, dreht sich zum Eingang und muss ruckartig stehen bleiben, weil ich mich ihr in den Weg gestellt habe. Ich frage: „Was war das denn eben?“ – Sie geht um mich herum ohne zu antworten. Ich hätte ja große Lust, sie in der Halle noch einmal anzusprechen. Aber was würde das bringen? Sie hat sich lediglich vorgedrängelt. Ich denke mir so: Hoffentlich verschluckt sie bei der nächsten Wende zwei Liter Beckenwasser mit drei richtig fetten Haarbüscheln. Und ein wenig ärgert es mich, dass ich nicht auf Kommando neben ihr pinkeln kann.

Während wir unsere Bahnen schwimmen, schiebt plötzlich ein Badegast unsere beiden Rollstühle an die Wand. Also er hebt sie mehr als dass er sie trägt, weil sie ja festgebremst sind. 25 Meter Kraul schaffe ich, wenn ich mich beeile, in rund 20 Sekunden. Das ist eine Geschwindigkeit von immerhin fast 2,5 Knoten! Oder 4,5 km/h. Okay, die schnellste Schwimmerin der Welt mit einer in etwa vergleichbaren körperlichen Einschränkung schafft rund 6,5 km/h, aber das Ziel, die weltschnellste Schwimmerin mit Querschnittlähmung im Lumbalbereich zu sein, hatte ich noch nie. „Entschuldigung, was machen Sie mit unseren Rollstühlen?“, frage ich den recht sportlich aussehenden Herrn, der zwischen 55 und 60 Jahre alt sein dürfte.

„Die dürfen hier nicht am Beckenrand stehen, das ist eine Unfallgefahr“, sagt er. Ich antworte: „Und wie kommen die später wieder zu uns zurück? Ich krabbel doch jetzt nicht quer über die Fliesen.“ – „Das müssen Sie auch nicht. Sagen Sie mir einfach Bescheid, dann hole ich sie Ihnen wieder.“ – „Nein, lassen Sie die bitte hier am Beckenrand stehen.“ – „Unfallgefahr. Die müssen hier weg.“ – „Dann müssten Sie die Startblöcke da aber auch abmontieren. Ob die nun da stehen oder direkt daneben ein Rollstuhl …“ – „Die Startblöcke sind fest, die Rollstühle beweglich. Jemand könnte darüber stolpern und mit den Stühlen ins Wasser stürzen.“ – „Nun ist aber gut.“ – „Wie gesagt, sagen Sie mir kurz Bescheid, wenn Sie wieder raus wollen. Ich bin dahinten in Bahn 2. Wenn es sein muss, hebe ich Sie sogar hoch. Ich habe jahrelang meine behinderte Mutter gepflegt, von daher weiß ich, wie man damit umgeht.“

Wie man damit umgeht. Aha. Ich schwimme zurück, tauche unter der Leine durch und kralle mir die Schwimmhallen-Aufsicht. „Entschuldigung? Der Herr dort hinten hat unsere Rollstühle vor die Wand geschoben. So kommen wir jetzt aber nicht mehr dran. Könnten Sie uns die bitte wieder an den Beckenrand stellen?“ – „Ja, selbstverständlich.“ – „Danke.“

Wie man damit umgeht.

Eine Chance für ein Orga-Talent

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Ich gehörte in diesem Jahr zwar nicht zum Orga-Team, da ich es zeitlich nicht geschafft hätte und ja auch in der Vorbereitungszeit nicht in Hamburg vor Ort war. Aber bevor ich bis Drei zählen konnte, hatte es mich wieder voll erwischt. Ich fuhr mit einem Kumpel (der allerdings gehörte zum Orga-Team, genauer gesagt hatte er den Hut auf) aus dem Sportverein zu einem Trainings-Camp im Schwimmen. Aus Hamburg und (näherer bis ferner) Umgebung sollten insgesamt 26 Sportlerinnen und Sportler kommen, einige davon zum ersten Mal. Marie und Cathleen waren auch dabei, allerdings reisten die beiden wegen vorheriger privater Termine getrennt von mir mit der Bahn an. Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren (gerade so) volljährig, einige aber auch noch 14 oder 15 Jahre alt. Die Veranstaltung sollte in einem Bundesland stattfinden, für das früher galt: „Folge dem Kompass solange nach Osten, bis du wieder im Westen bist.“

Wir waren rund zwei Stunden vor dem offiziellen Beginn vor Ort und was wir dann erlebten, hat mir wirklich die Sprache verschlagen. Geplant war, wie auch schon in den letzten drei Jahren, in einer Sportlerunterkunft (ähnlich einer Jugendherberge oder einem Sportinternat) zu schlafen und einige Häuser weiter in einer Schwimmhalle zu trainieren. Die letzten Male hatte es mehr oder weniger gut geklappt, ein paar kleinere Improvisationen waren immer nötig. Dieses Mal allerdings hatte man unser Kommen gar nicht auf dem Schirm. Derjenige aus dem Vorstand, der uns die Reservierung schriftlich bestätigt hatte (zuletzt vor zwei Wochen), war in Urlaub, die einzige hauptamtliche Mitarbeiterin, die man irgendwie erreichen konnte, wusste von nichts. Sie kümmerte sich aber und rief das Vorstandsmitglied auf dem Handy in seinem Urlaub an – und erreichte ihn auch.

„Ja, nö, ich weiß auch nicht, ich habe schon in den letzten beiden Tagen versucht, der Gruppe abzusagen, aber unter der Handynummer, die mir bekannt war, ging niemand dran.“ – Absoluter Unsinn, denn die einzige Handynummer, die ausgetauscht wurde, war ständig besetzt und zeigte keinerlei Anrufe in Abwesenheit. Lange Rede, kurzer Sinn: Alles Diskutieren half nichts. Weder die Halle noch das Quartier standen zur Verfügung, sondern waren anderweitig belegt. Die Frage, ob man uns dann wenigstens mit einer anderen Halle weiterhelfen könne oder einem Kompromiss bei den Belegungszeiten (eine Übernachtungsmöglichkeit fänden wir vielleicht noch in einer Jugendherberge), wurde kurzerhand abgewimmelt: Das Vorstandsmitglied erklärte der hauptamtlichen Mitarbeiterin, sie solle solche Bemühungen unterlassen, es sei ohnehin nichts anderes frei und dafür werde sie nicht bezahlt. Ihr seien damit die Hände gebunden. Das Vorstandsmitglied selbst war für uns allerdings nicht zu sprechen.

So eine Kackdreistigkeit habe ich lange nicht erlebt. Nach und nach trudelten die Leute ein. Immerhin war es früh am Tag und gutes Wetter, so dass wir uns zu einer gemeinsamen Besprechung draußen verabredeten. Der Kumpel informierte zuerst die anderen Trainer und Betreuer von der Neuigkeit. Allgemeine Fassungslosigkeit machte sich breit. Eine Trainerin schlug vor, wir sollten mit allen zwanzig Leuten in die Geschäftsstelle rollen und diese komplett verwüsten. Natürlich war das nicht wirklich ernst gemeint, es zeigt vielmehr die allgemeine Empörung und Ratlosigkeit. Es war schlicht ein Super-GAU, nicht zuletzt, weil etliche Leute sich auf das Camp schon seit Monaten gefreut haben. Einige Eltern, die mitgereist waren, haben für sich Hotelzimmer gebucht. Und so weiter, und so fort.

Unser Orga-Chef wäre aber nicht Orga-Chef, wenn er kein organisatorisches Geschick hätte. Bisher waren nur die Trainer und Betreuer informiert, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer warteten artig auf einer Wiese unter Bäumen und tauschten Gummibärchen und Frotzeleien aus. Wir bekamen die Ansage: „Niemand quatscht. Ich werde diese Information an die Teilnehmer selbst verkünden. Und bis dahin überlegen wir gemeinsam, was wir alternativ machen können. Wenn wir jetzt die Leute wieder nach Hause schicken, haben wir nicht nur Dutzende traurige bis heulende Gesichter, sondern auch noch einen kaum zu behebenden Image-Schaden. Einige werden so gefrustet sein, dass sie austreten, andere werden nie wieder in so ein Camp mitwollen – wir müssen derbst vorsichtig sein und sollten mit der Absage des Camps gleich eine Alternative präsentieren, nicht zuletzt, um zu beweisen, dass wir nicht die Deppen sind, die es vermasselt haben.“

Und nun? Herumtelefonieren, ob noch irgendwo Zeiten in einer Schwimmhalle frei sind? Kurzfristig eine andere Übernachtungsmöglichkeit finden? „Wer die Sportinfrastruktur in Großstädten kennt, weiß, dass öffentliche Hallen in der Regel schon auf Monate, wenn nicht Jahre, im Voraus vergeben sind. Oft verwaltet dann auch noch jeder Bezirk seine Sportstätten in Eigenregie und stellt dafür eine Halbtagskraft ab, die stets einen übervollen Schreibtisch und gar kein Interesse an kurzfristigen Improvisationen hat“, meinte unser Häuptling. Vielleicht sei es nicht überall so, fügte er hinzu, und mit Sicherheit gebe es in der öffentlichen Verwaltung viele engagierte Mitarbeiter – aber andere Erfahrungen habe er in seinen zwanzig Jahren Vereinsarbeit eben auch gemacht.

„Das sind doch alles Leute, die draußen schwimmen wollen. So warm, wie das ist, machen wir einfach ein Trainingslager und trainieren statt im Chlorbecken im Freiwasser. See, Fluss, … oder vielleicht sogar Meer? Spricht was gegen ein Camp an der Ostsee?“ – Jeder schaute still in die Runde, tauschte Blicke aus. Die Idee war zumindest nicht schlecht und würde mit Sicherheit auch diejenigen reizen, die sehr hohe Ansprüche an die Trainingsqualität stellen und nicht in erster Linie aus Spaßgründen mitgefahren sind. Aber wo sollten wir in der Ferienzeit drei bis vier Dutzend Leute (einschließlich mitgereiste oder nachreisende Angehörige) unterbringen, Zugang zu vernünftigen Trainingsbedingungen und vor allem ordentlichen Übernachtungsmöglichkeiten bekommen? Eine Trainerin antwortete: „Es ist Urlaubszeit. Das kriegen wir nie und nimmer so schnell auf die Beine gestellt.“

Unser Orga-Chef sagte: „Ich brauche nur Leute, die das nicht wissen und es einfach versuchen. Also einfach mal aus dem Bauch raus: Ist das eine gute Idee oder kommt das nicht gut an?“ – Ich antwortete: „Die Idee ist super, aber ich habe wirklich große Bedenken, ob wir das gewuppt kriegen. Wenn jetzt nämlich Leute zuerst enttäuscht sind, dann hoffnungsvoll sind, dann wieder enttäuscht werden, ist der Image-Schaden noch größer. Weil dann haben wir zwei Dinge nicht hingekriegt.“ – „Da hast du recht, Jule, deswegen muss der zweite Teil unbedingt klappen. Ich schlage vor, wir setzen jetzt alle Hebel in Bewegung und wir geben uns eine Stunde Zeit. Dann resümieren und entscheiden wir.“ – Alle nickten.

„Ich brauche ein Internet-Laptop und ein paar Leute mit Telefon. Mein Telefon hab ich im Auto, Laptop mit WLAN hat hoffentlich jemand von Euch. Wir fahren jetzt zum Bahnhof und setzen uns dort in ein Schnellrestaurant mit Internet. Wir gönnen uns eine Runde Getränke und dann will ich rauchende Köpfe sehen. Und Angehörige werden nicht eingebunden, ich will nicht, dass in der Zwischenzeit jemand sein Kind auf der Wiese anruft und die ersten nach Hause fahren, bevor wir wieder zurück sind.“ – Er trommelte die Horde zusammen und sagte: „Leute, es gibt wie bei jeder größeren Veranstaltung noch ein paar organisatorische Probleme. Wir müssen noch ein paar Gespräche führen und ziehen uns eine Stunde zurück. Danach geht es los – bitte beschäftigt Euch noch ein Stündchen mit Sonnen, Kartenspielen und Euren persönlichen Trainingszielen.“ – Keine Nachfrage, kein Nörgeln. Sehr gut.

„Als erstes brauche ich einen klimatisierten Bus für alle, die jetzt mit der Bahn angereist sind. Also für nahezu alle. Den brauche ich auch, wenn das alles hier in die Grütze geht. Irgendwie müssen die Leute dann nach Hamburg kommen. Also den organisieren wir auf jeden Fall. Hotels und Pensionen an der Ostsee kann ich vergessen, es ist Urlaubszeit. Also drei große Zelte und einen Zeltplatz. Plus jede Menge vernünftige Feldbetten, auf denen man drei Nächte pennen kann, ohne Rückenschmerzen und ohne sich wundzuliegen.“ – Eine Trainerin suchte sämtliche Verkehrsbetriebe raus. Es dauerte nicht lange, da kristallisierte sich aus den wenigen, die sofort 400 Kilometer fahren würden und noch einen Bus mit Rollstuhlhebebühne hatten, eins heraus: Für 600 € einschließlich Steuer und Fahrer würde man uns fahren. Andere Angebote reichten bis 2.500 € – ich kommentiere es mal nicht.

Und beim Zeltplatz hatten wir auf Anhieb Glück (man muss ja auch mal Glück haben): „Mein Mann ruft Sie gleich zurück.“, sagte eine ältere Frau, die unter der Nummer eines direkt an der Ostsee gelegenen Mega-Campingplatzes an das Telefon ging. Keine fünf Minuten später reichte die für das Camping zuständige Trainerin das Handy an unseren Chef weiter. Ich saß genau daneben und konnte mithören. „Rollstuhltoiletten und barrierefreie Duschen haben wir. Platz haben wir nicht. Ist Ferienzeit. Aber wir schaffen Platz. Ich habe eine Wiese für Tagesgäste direkt neben dem einen Sanitärhaus, da müssen dann halt ein paar Leute auf andere Stellplätze umziehen. Das werden die auch machen, aber ich muss denen dafür was anbieten. Also zwei, drei Tagesmieten gratis. Sie kommen bei uns für die drei Nächte auf rund zwölfhundert Euro, für das kurzfristige Rangieren würde ich Ihnen drei- bis vierhundert Euro draufschlagen, die ich den Gästen anbieten muss, die jetzt Ihretwegen umparken. Wenn Sie das zahlen, können Sie sofort kommen.“

„Zahlen wir. Wenn das fünfhundert werden, lässt sich darüber auch noch reden.“ – „Woher weiß ich denn, wer Sie sind und dass mich hier jetzt nicht jemand auf den Arm nimmt?“ – „Haben Sie Internet?“ – „Ja.“ – „Gehen Sie mal bitte auf die Seite vom [Sportverein], da ist eine Telefonnummer angegeben. Würde es Ihnen reichen, wenn Ihnen die Dame, die dort den Hörer abhebt, Ihnen das bestätigt?“ – „Das würde mir reichen.“ – „Dann geben Sie mir fünf Minuten Zeit, das mit ihr zu klären. Notfalls stellt die Dame Sie auch zum Vorstand durch.“

Unser Chef rief in Hamburg an. „Moin, wir müssen hier umdisponieren. Super-GAU, Unterkunft und Halle sind doppelt belegt worden, ich steh hier mit drei Dutzend Leuten unter freiem Himmel im Park und muss mir innerhalb einer Stunde ein Alternativprogramm aus den Fingern saugen. Meine Planung geht in Richtung Freiwassertraining in der Ostsee. Entsprechend ruft unter der Hotline gleich jemand vom Zeltplatz in […] an und fragt, ob ich telefonisch einen Auftrag über im Moment 1.600 € erteilen darf. Kannst du veranlassen, dass der telefonisch über die Zentrale eine Deckungszusage bekommt?“ – „Sicher. Hast du alles im Griff? Oder können wir was helfen?“ – „Bekommst du auf die Schnelle vier bis sechs Zehn-Mann-Zelte organisiert und an die Ostsee gefahren? Ich habe zwar schon drei Eisen im Feuer, aber noch keinen Rückruf. Falls dir noch was einfällt, lass es mich wissen.“ – „Ich ruf dich in der nächsten Stunde zurück.“

Eine Stunde später waren wir wieder zurück im Park. Unser Orga-Chef, durchgeschwitzt, vermutlich bis auf die Unterhose, trommelte die Leute zusammen, während im Hintergrund ein quietschgelber Reisebus im Rückwärtsgang in seine endgültige Parkposition rangierte. Wie immer begann seine Ansprache mit den Worten: „Bitte erstmal genau zuhören, Fragen merken. Alles, was sich in den nächsten fünf Minuten nicht klärt, kann hinterher noch einzeln besprochen werden.“

Man habe die mehrjährige Zusammenarbeit mit dem hiesigen Schwimmverein vor rund zwei Stunden mit sofortiger Wirkung beenden müssen, nachdem dieser mit unverfrorener Gleichgültigkeit unser Trainingscamp spontan und ohne irgendeinen Hinweis gegen die Wand gefahren hätte. Halle und Herberge seien doppelt vergeben worden und für uns sei nichts mehr frei. Weil man auch nicht helfen wollte, habe er die Angelegenheit an die Juristen des Vereins weitergereicht, er sei angesichts des bisherigen Mailverkehrs und der schriftlichen Buchungsbestätigung zuversichtlich, dass die Fahrt für alle Teilnehmer relativ günstig werde. Solle heißen: Es werde wohl eine Schadenersatzforderung geben. Zum Glück sei kein Verantwortlicher vor Ort, den hätte er ob der allgemeinen Gleichgültigkeit sonst eigenhändig verhauen. Um aber wieder zur Sachlichkeit zurück zu kommen: Von außen reingedrückte Programmänderungen bieten manchmal auch ungeahnte Chancen. Das Trainings-Camp werde natürlich nicht abgesagt, wäre ja noch schöner, wenn Dritte uns einfach das verlängerte Wochenende versauen, sondern es werde nur der Ort sich ändern. Der Bus dort hinten sei für uns. Und der neue Ort hätte es in sich. Nicht ganz so steril wie die Sportunterkunft, dafür würde sich der Event- und Erlebnisfaktor aber mindestens verdoppeln. Unser Orga-Chef war bestimmt früher mal Verkäufer auf dem Hamburger Fischmarkt…

Es gebe etwas, was sonst eigentlich nur älteren und erfahrenen Schwimmerinnen und Schwimmern vorbehalten sei, einfach, weil es etwas anspruchsvoller sei als eine rundum geflieste Fünfzig-Meter-Bahn. Aber es seien genügend Trainer und Betreuer dabei, um auch denen optimal zu helfen, die noch nie im Freiwasser geschwommen und noch nie mit ihrem Rolli am Strand waren. Genau wie der [andere Verein, der für seine regelmäßigen Camps an einem großen See in Bayern deutschlandweit bekannt ist] böten wir kurzfristig als Alternativprogramm vier Tage Training unter freiem Himmel. Sozusagen als kleines Bonbon für den Ärger hier. Einschließlich Zelten auf einem rolligerechten Campingplatz. Mit Lagerfeuer und allem, was sonst noch dazu gehöre. Und es werde sich sicherlich auch die eine oder andere Stunde ergeben, in der man sich mal in den Sand legen und sonnen könne. „Ist das eine gute Nachricht oder eine gute Nachricht?“, stellte unser Orga-Chef seine Teilnehmer mitten in ein einfach zu lösendes Dilemma.

Nach etlichen offenen Mündern, gerade unter den jüngeren Teilnehmern, und kurzem Schweigen hörte man als erstes ein lautes „Geil“ aus der Runde, dann eine Mutter, die ermahnte: „Du sollst nicht immer ‚geil‘ sagen.“ – Der Orga-Chef und ich tauschten einen Blick aus. Wenn das das derzeit größte Problem ist, waren wir gut im Rennen. Es werde einen Gepäck-Shuttle vom Hamburger Bahnhof zur Ostsee geben, für alle, die jetzt zu Hause anrufen und noch Sachen (wie Schlafsäcke) nachschicken wollen. „Es ist alles organisiert. Wir lassen unsere Sportler nicht hängen. Ich brauche aber von allen minderjährigen Teilnehmern ein Gespräch mit den Eltern. Von allen. Also gibt es gleich ein allgemeines fröhliches Handy-Weiterreichen. Gibt es jemanden, der nicht mitfahren möchte?“

Der ängstliche Blick in die Runde war unbegründet. Wer mit wem in welchem Zelt schlafe, ob auch Handbike- und Schnellfahrtraining angeboten werden könnten und wir Handbikes und Rennrollis aus Hamburg nachholen könnten, ob es okay sei, wenn die wenigen mitgereisten Eltern sich eine Unterkunft in dem 15 Kilometer entfernten größeren Ort nehmen würden. Eine Mutter am Telefon hatte Angst, dass ihre Tochter in der Ostsee untergluckern würde, eine andere, dass ihr Sohn sich auf der Toilette auf dem Campingplatz einen Harnwegsinfekt holt. „Das ist ein festes Klo mit Wasseranschluss in einem festen Haus, das wird genauso oft gereinigt wie das Schwimmhallen-WC.“ – Am Ende hatten wir alle Leute dabei. Auch Marie und Cathleen, die inzwischen eingetrudelt waren und ganz verdattert die ausgelassene Stimmung begutachteten, fanden die Alternative toll. War auch nicht anders zu erwarten. Ich tauschte noch einmal mit unserem Orga-Chef einen Blick: Der nickte zufrieden. Konnte er auch sein. Hut ab!

Stinkesocke goes Stinkstiefel

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Es war der letzte Tag vor den Hamburger Schulferien, und nachdem ich an meinem Studienort bereits alles erledigt hatte, was ich in diesem Semester unbedingt noch vor Ende der Vorlesungszeiten erledigt haben musste, konnte ich bereits frühzeitig nach Hamburg fahren. Geplant war, dass ich meine Sportkolleginnen und Sportkollegen auf ein Traininscamp begleite, das am ersten Ferientag beginnen sollte. Auch wenn ich an meinem neuen Studienort regelmäßig Sport mache, mein Rennbike und den Rennrolli inzwischen vor Ort habe und eine nette Schwimmgruppe gefunden habe – meine Leute vermisse ich trotzdem.

Bevor es losging, war ich in Hamburg noch mit einem Funktionär meines Sportvereins verabredet. Wir hatten in den letzten Wochen intensiven Mailverkehr, mit dem Ziel, einige gefühlte Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Seit einem Jahr versuchen neben mir noch mehrere andere Leute, diese Probleme in den Griff zu bekommen. Die Leiter meiner Sportabteilung labern sich den Mund fusselig, bis zur Vorstandsebene dringt das Thema aber nie durch, sondern versandet unterwegs ungelesen.

Nun habe ich mehrmals sehr intensiv und hartnäckig gefühlte 25 dumme Fragen gestellt und damit wohl für einigen Wirbel gesorgt. Zwar gehöre ich nicht zu jenen Menschen, denen so etwas Spaß macht, aber sehr wohl zu jenen, die gegen gefühlte Ungerechtigkeiten kämpfen – und nicht nur gegen jene, von denen sie selbst betroffen sind, sondern auch gegen jene, von denen andere betroffen sind, die vielleicht nicht so kämpfen können. Und sei es aus Gründen, dass sie wegen ihrer körperlichen Einschränkungen kaum am PC schreiben können. Immerhin gibt es, und das war ein erfreulicher Teil dieses Treffens, nach über einem halben Jahr nun endlich eine feste Zusage aus höheren Vereinskreisen, dass man sich der beanstandeten Dinge annimmt.

Eigentlich bin ich für ein Dasein als Stinkesocke zu lieb. Behaupten zumindest einige Leute. Umso ätzender finde ich es, wenn ich mich als Stinkstiefel aufführen muss, damit andere Menschen mal alle Leute gleichermaßen ernstnehmen, auch jene, die vielleicht keine große Lobby oder allzu freche Klappe haben haben. Aber wenn es sich lohnt … *stink*

Trautlinde

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Das war mal wieder eine Woche, um die mich nur gehässige Menschen beneiden würden. Gehässige Menschen in meinem Umfeld? Gibt es. Zwar zum Glück nur vereinzelt, aber dennoch absolut ausreichend.

Weil ich in meinem Blog grundsätzlich keine vollen Namen nenne (und die wenigen, die ich nenne, um einfacher und in besserer Kontinuität schreiben zu können, sind Nicknamen), fühlte sich eine Kollegin aus dem Sportverein (zum Glück nicht aus meinem Team) von einem Beitrag persönlich angesprochen und hat ein riesiges Fass aufgemacht, fing gleich an mit der Forderung nach einer Unterlassungserklärung und ähnlich überzogenen Reaktionen. Da es keinen Dialog zwischen uns beiden gab, sondern der Alarm gleich an einen zehnköpfigen Mailverteiler (einschließlich aller wichtiger Funktionäre) versendet wurde, war zwar zum Glück niemand von denen aufgeregt, aber dennoch not amused über eben diese Welle, die mit meinem Namen in Verbindung stand. „Wir sehen keinen Grund, uns in Ihr Privatleben einzumischen. Wir möchten Sie aber bitten, in einem persönlichen Dialog mit der Beschwerdeführerin auf breiter Linie Frieden zu produzieren und die durchaus gefährliche Dynamik aus dieser Sache zu nehmen“, hieß es knapp.

Nachdem es in der Vergangenheit schon etliche hässliche Aktionen dieser Person gab, nicht nur gegen mich, aber eben auch, und ich immer wieder meine viel zu feine Sensibilität als Ursache für meine anschließende Übellaunigkeit bemüht und anschließend die Kröte geschluckt habe, während auf anderer Seite nicht mal Platz für eine Entschuldigung war, habe ich die Worte zum Anlass genommen und dieses Mal etwas anders gemacht: Nämlich sie beim nächsten Schwimmtraining schon bei ihrem ersten Luftholen mit den Worten „du kannst mich mal“ übergebügelt, links liegen lassen und sie anschließend ignoriert. Sieben oder acht Leute standen in unmittelbarer Nähe. Die haben mich beim Reinkommen schon angestarrt, so dass ich mir sicher war, dass vorher bereits einmal ordentlich über mich abgelästert worden ist. Wie gesagt, zum Glück ist es nicht meine Sportgruppe. Es ist schon sehr befremdlich, dass es Menschen gibt, die sich scheinbar darüber definieren, dass sie besser sind als andere. Und besser ist, wer schlecht machen kann.

Ich bin voller Erwartung, ob ich die Bitte, dieses Mal anders mit der Sache umzugehen als in der Vergangenheit, richtig umgesetzt habe. Am Dienstagnachmittag habe ich einen zehnminütigen Telefontermin mit einem wichtigen Organ aus unserem Sportverein. Natürlich wird sich da niemand aus dem Fenster lehnen und in meine Privatangelegenheiten einmischen – aber ich bin sehr gespannt, ob man versuchen wird, mich einzufangen. Dann werden wir uns allerdings mit der Frage beschäftigen müssen, warum man immer nur von mir eine Deeskalation erwartet und somit nur Stinkesocken aber nie Stinkstiefel zur Ordnung ruft. Wie gesagt, ich bin gespannt. Nicht, weil ich mich gerne streite, sondern weil ich mir nicht mehr alles gefallen lassen möchte.

Achso, fast hätte ich es vergessen: In dem betreffenden Beitrag wurde natürlich nicht nur kein Name, sondern auch kein Nickname genannt. Es ist also nicht etwa so, dass ich im Blog über eine reale Auguste, die ich fiktiv Trautlinde nannte, geschrieben hätte und eine reale Trautlinde sich wegen ihres Namens, des selben Sportvereins und der räumlichen Nähe angesprochen fühlen würde. Es steht überhaupt kein Name in dem betreffenden Beitrag, weder ein realer, noch ein Nickname, und auch die Handlung passt aus tatsächlichen Gründen überhaupt nicht zu der, die sich jetzt aufregt. Es ist ungefähr so, als würde sich jemand, der wegen einer Skiverletzung sein Bein temporär schonen muss, sich in einem Beitrag über einen Rollstuhlfahrer beim Segeln gespiegelt sieht.

Wenn ich nun noch über die stressige Uni schreiben würde, bedauert mich am Ende noch jemand. Und das möchte ich nicht.

Also schreibe ich über etwas Schönes, das fällt mir im Übrigen auch sehr viel leichter: Über mein Aushelfen beim Kinder- und Jugendschwimmen. Und über Anna.