Elftes Gyrosbaguette

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Ich stelle mir gerade vor, ich hätte Geburtstag. Nicht meinen richtigen, der in meiner Geburtsurkunde steht, sondern den anderen. Also den Zweitgeburtstag. Den ich immer an dem Tag berolle, an dem ich einst dem Sensenmann erst die Hand geschüttelt, dann aber nochmal „Auf Wiedersehen“ gesagt habe.

Der Tag, an dessen Jährung ich früher immer Gyrosbaguette gegessen habe. Was mir inzwischen aber keinen Spaß mehr macht, weil erstens Gyrosbaguette so viele Zwiebeln enthält, dass ich davon in einer Tour laut pupsen muss, zweitens es den Imbiss nicht mehr gibt, an dem sich die Heli-Crew an meinem Unfalltag sowas geholt und dann aus Gründen liegen gelassen hat, drittens es die Notärztin nicht mehr gibt, die mir damals nicht mit einem Gyrosbaguette, sondern mit viel Liebe, ein wenig Gas, viel Wasser und ein paar Drogen das Leben gerettet hat.

Ich stelle mir gerade vor, es wäre mein elfter Zweitgeburtstag. Ich hätte dienstfrei, würde morgens mit Marie eine Runde im Meer trainieren, würde mich nachmittags noch mit einer Freundin treffen, die extra ihr Fahrrad auf dem Auto mitbringt, weil wir beide schon seit Monaten gemeinsam an paar Kilometer abreißen und dabei quatschen wollen, sie auf dem Fahrrad und ich mit meinem Handbike; ich würde von Marie einen Kuchen mit elf Kerzen bekommen und gar nicht mehr so viel über das alles nachdenken, denn es ist bereits elf Jahre her.

Und ich stelle mir vor, ich hätte am Morgen ein paar Leuten geschrieben, das ich heute meinen elften Zweitgeburtstag feiere und mit allen, die wollen, anstoße. Ohne mir viel dabei zu denken. Und dann passiert *Trommelwirbel* etwas, womit niemand gerechnet hat: In den zwei Stunden danach wollen 100 Leute mit mir anstoßen und prosten mir zu. Ich freue mich riesig über die Aufmerksamkeit. Auch wenn ich mich inzwischen für ausgeglichen halte, so ein Zweitgeburtstag ist immer Scheiße. Auch nach elf Jahren sind Gedanken da. Keine, die mich umwerfen, keine, die mich noch zum Heulen bringen, aber am Abend davor in alten Fotoalben geblättert zu haben, war ohnehin nicht richtig. Nein, einfach nur ein wenig Melancholie. Ablenkung tut gut, und Anteilnahme auch. Mitleid nicht.

Naja, und dann stelle ich mir vor, in den zwei Stunden danach wollen noch weitere 100 Leute mit mir anstoßen. Auch wenn ich nur noch vorsichtig nippe, ist mir schon ganz schwindelig. Ich muss Sekt nachkaufen, weil ich mit einem solchen Ansturm gar nicht gerechnet habe. Neben aneinanderklirrenden Gläsern bekomme ich viele schöne Worte.

Ich stelle mir vor, dass ich vier Stunden später von dem ganzen Sekt völlig betrunken bin. Inzwischen hat jemand 1.300 Menschen gezählt. Auch wenn ich noch gedacht habe, ich heule nicht, kommen mir die Tränen. Noch vier Stunden später habe ich gefühlte 11 Promille Alkohol im Blut und weiß gar nicht mehr, was ich noch sagen soll. Denn inzwischen haben 4.000 Menschen mit mir angestoßen.

Spinne ich? Ja. Es waren keine 4.000 Leute in meinem Garten. Und auch nicht in meinem Haus. Ich habe keinen Tropfen Alkohol getrunken. Aber ich hatte am Morgen nach einiger Überlegung, ob ich es überhaupt posten sollte, beim Kurznachrichtendienst Twitter geschrieben, dass heute mein elfter Zweitgeburtstag wäre. Dass die Frau, die mich damals umfuhr, hupte statt zu bremsen und ich deshalb jetzt rolle statt zu laufen. Das Ding ging buchstäblich durch die Decke.

Als ich heute vom Dienst wiederkam, hatten über 13.000 verschiedene Menschen meinen Tweet geliked, rund 1.000 verschiedene Menschen meinen Tweet geteilt und, und darüber freue ich mich noch einmal besonders, rund 400 Menschen mir mit persönlichen Worten zu meinem „Geburtstag“ gratuliert. Anteil genommen, mitgefühlt, mich gefeiert. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

Meine Followerzahl hat sich innerhalb von 24 Stunden mehr als verdreifacht. Es wird vermutlich Stunden dauern, zu sichten, wer mir alles seine Visitenkarte in den Briefkasten geworfen hat. Gut, zwei oder drei haben vor lauter Sekt in meinen Vorgarten gekotzt, das mache ich demnächst weg, aber die gibt es ja immer. Hätte ich das für möglich gehalten, dass mir an einem Tag mal deutlich über 10.000 Menschen ihre Aufmerksamkeit schenken?

Ja, es gab mal einen Tag, an dem mein Blog über 22.000 Mal aufgerufen wurde. Nach einer Verlinkung des Bild-Blogs. An einem „normalen“ Wochentag wird mein Blog derzeit etwa 3.500 bis 6.000 Mal aufgerufen. In den letzten 24 Stunden wurden meine Blog-Seiten über 38.000 Mal aufgerufen. Ich wollte es nur mal erwähnen. Denn eigentlich blogge ich nur ein wenig.

Ihr Lieben, danke für das das positive Feedback, die aufmerksamen und mitfühlenden Worte. Ich freue mich, dass so viele Menschen in meinem Leben mitlesen und meinen Zweitgeburtstag mitfeiern wollen. In diesem Sinne: Prost!

Der 60. Geburtstag meiner Mutter

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Genau 10 Jahre ist es heute her, dass ich mit dem Bloggen begonnen habe. 10 Jahre! Eine lange Zeit.

Damals war ich 16 Jahre alt, lag in einem Krankenhaus und war ziemlich übel zugerichtet. Ich wurde auf dem Schulweg von einem Auto geknutscht und bin geflogen. Zuerst über den Asphalt, dann mit einem Heli – und ein paar Wochen später zum ersten Mal aus dem Rollstuhl, weil sein Vorderrad sich im Schnee verhedderte.

Damals hatte ich Stress mit meiner Muddi. Sie konnte nicht begreifen, dass ich nicht lange aus dem Krankenhaus durfte, auch nicht, wenn sie ihren 50. Geburtstag feiert und mich gerne dabei gehabt hätte.

Inzwischen bin ich 26 Jahre alt, arbeite in einem Krankenhaus und fühle mich sehr gut. Mein Rollstuhl ist mein ständiger Begleiter, und er macht einen guten Job. Ich glaube, dass ich diese Veränderung in meinem Leben inzwischen völlig verarbeitet habe. Die deshalb begonnene Psychotherapie habe ich erfolgreich abgeschlossen. Zu meiner Mutter habe ich seit Jahren keinen Kontakt mehr, mein Vater ist inzwischen verstorben.

Ich hoffe, dass vor allem meine Haut und meine Blase noch lange gesund bleiben. Das sind die beiden, die in Verbindung mit einer Querschnittlähmung am häufigsten Probleme machen. Mein Herz-Kreislauf-System trainiere ich gut, da mache ich mir weniger Sorgen.

Eine Sache hat sich nicht verändert, wenn man von einer zwischenzeitlich erzwungenen Unterbrechung mal absieht: Ich blogge noch. Und inzwischen wurde mein Blog über 6,7 Millionen Mal aufgerufen.

Davon alleine über 125.000 Mal im letzten Monat. Pro Tag kommen aktuell wieder rund 5.000 Besucherinnen und Besucher auf meine Webseite. Manche Tage eintausend weniger, manche Tage auch noch mehr. Nur kommentiert wird nicht mehr so häufig wie früher. Obwohl ich nach wie vor gerne Kommentare lese.

Leider wird die Plattform, die ich 10 Jahre lang genutzt habe, nicht mehr so betreut wie ich es gebrauchen könnte. Zum Beispiel kann ich keine Layout-Anpassungen mehr vornehmen, sondern nur noch posten. Auch aus diesem Grund habe ich mich entschieden, pünktlich zum 10. Geburstag meines Blogs mit diesem umzuziehen.

Bitte sagt mir, wenn etwas so gar nicht geht oder ich einen offensichtlichen Fehler beim Umzug gemacht habe. Ich konnte mir weder die inzwischen über 1.040 Beiträge noch die über 10.000 Kommentare alle nochmal durchlesen; ich hoffe allerdings, dass alles gut transferiert wurde.

Insofern: Nehmt euch ein Glas Sekt und stoßt mit mir an! Prost!

Liebend getan

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Vielleicht hat der Eine oder die Andere gedacht, dass ich heute ein Gyrosbaguette essen würde. Und lag damit richtig. Allerdings nicht dort, wo sich die Crew, die mich vor zehn Jahren von der Straße gekratzt hat, am Tag meines Unfalls ihr Gyrosbaguette geholt hat. Denn den griechischen Imbiss gibt es nicht mehr. Und auch „meine“ Notärztin, die mich vor zehn Jahren im Heli begleitete und vermutet hatte, dass ich meine Verletzungen nicht überleben werde, gibt es leider nicht mehr. Sie ist, wie ich gestern erfuhr, im September letzten Jahres verstorben.

Warum, wieso, weshalb, weiß ich nicht. So alt, dass man damit rechnen müsste, war sie noch nicht. Sie hat mich in meinen gesundheitlich schwersten Minuten begleitet und korrekt behandelt. Ohne sie wäre ich vermutlich tot. Und trotzdem kannte ich sie nicht wirklich. Ich habe sie, einerseits aus einer Schüchternheit heraus, andererseits aus großem Interesse mal gefragt, warum sie Ärztin geworden ist. Sie hat geantwortet: „Aus Liebe.“ – Sie war eine „Institution“ für mich, keine Bekannte oder Freundin. Die Nachricht schockt mich, auch noch am heutigen „Tag danach“, extrem. Ich habe mit vielem gerechnet, dass sie mal versetzt werden könnte, inzwischen vielleicht gekündigt hat, woanders arbeitet – aber nicht mit ihrem Tod. Das berührt mich gerade sehr, und das nimmt mich emotional auch gerade sehr mit. Ich habe bereits einige Tränen vergossen. Es kam, zugegebenermaßen, höchst unerwartet.

Zehn Jahre ist der Unfall jetzt her. Zehn Jahre Querschnittlähmung. Sie sind vergangen wie im Flug. Ich hatte überwiegend eine schöne Zeit, wenngleich ich gerade in den letzten drei Jahren einige Erfahrungen gemacht habe, von denen ich noch nicht vollständig verstanden habe, wofür sie gut sein werden. Ich merke aber, dass mich diese Erfahrungen sehr viel gelassener, vorausschauender, kritischer und vor allem selbstbewusster gemacht haben. Und dass ich sehr viel über Menschen gelernt habe. Viele Eigenschaften, die mir bis dahin fremd waren, und die ich an mir sofort ändern würde, sind offenbar sehr verbreitet.

Ich bin früher eher still gewesen. Nicht schüchtern, aber ich mochte es nicht, wenn mich Menschen ansprachen. Wenn mich jemand nach dem Weg fragte, konnte ich darauf reagieren, die Uhrzeit bekam ich auch immer zusammen. Aber mit dummen Sprüchen bin ich früher eher selten konfrontiert worden. Das hat sich, seit ich im Rollstuhl fahre, enorm geändert. Eigentlich täglich sprechen mich in der Öffentlichkeit Menschen an. Gerade heute im Supermarkt wollte ebenfalls eine wildfremde Frau von mir wissen, ob ich eine Querschnittlähmung hätte. Zwischen dem Erdbeerregal und der Salatbar. Und sie erzählte mir, ohne dass ich es wissen wollte und während ich mein Gemüse zusammensuchte, dass sie mit einem sehr berühmten Ernährungsprogramm zwanzig Kilo abgenommen hat und dass sie es nicht mag, wenn Menschen mit ihren Handys laut im Supermarkt telefonieren.

Auch bin ich früher kein großes sportliches Licht gewesen. Heute habe ich eine gewisse Trainingsdisziplin, den Ehrgeiz, etwas schaffen zu wollen, und ich habe auch eine vergleichbar gute Kondition. Oft, wenn ich im Schwimmbad meine Bahnen ziehe, und ja, es können auch mal 100 Stück oder sogar noch mehr in einer Trainingszeit sein, sind Menschen davon fasziniert. Und dann denke ich oft: Leute, wenn ihr zehn Jahre das Schwimmen ohne Beine trainiert, würdet ihr das mindestens genauso gut können. Andererseits ist diese Bewunderung, die diese Menschen dann äußern, auch eine gewisse Motivation für mich. Offenbar trauen sie es sich dann doch nicht zu, sich am Schopf zu packen und sich einfach verbessern zu wollen.

Ich hatte früher, und auch dieses Thema wird oft angesprochen, auch von wildfremden Menschen, die dann aber meistens keine Antwort von mir bekommen, keinen Sex. Vor meinem Unfall habe ich mich nicht einmal selbst befriedigt. Klar, Busen hatte ich schon, Regel auch schon lange, aber sexuelle Bedürfnisse? Die waren einfach nie so ausgeprägt, dass ich sie gezielt befriedigen wollte oder sogar musste. Nach meinem Unfall war ich sehr neugierig, was geht und was ich empfinde. Und vielleicht ist das sogar sehr gut gewesen, weil ich so etwas dazubekommen habe, anstatt dass mir etwas weggenommen wurde.

An anderer Stelle wurde mir sehr viel weggenommen. Meine früheren Freunde, meine Eltern. Aber auch hier habe ich etwas dazu gewonnen: Marie mit ihrer Familie, einzelne Menschen, die ich im Blog nicht (mehr) erwähne, und auf die ich mich verlassen kann.

Ich weiß nicht, wie ich den Kreis schließen soll. Ich könnte jetzt noch ganz viel schreiben, um am Ende dieses Beitrags noch einmal zu meiner Heli-Ärztin zu kommen. Ich habe ihre Traueranzeige im Internet gesucht und gefunden. Ihre Urne wurde weit weg von Hamburg begraben, vermutlich an ihrem Geburtsort. Ihre beiden Eltern haben die Anzeige aufgegeben. Sie trägt einen Trauerspruch von Horatius Bonar (schottischer Geistlicher aus dem 19. Jahrhundert): „Nimmer vergeht, was Du liebend getan.“

Das siebte Gyrosbaguette

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Sieben Jahre ist es her. Und vieles hat sich seitdem verändert. Vor allem im letzten, dem siebten Jahr. Man sagt ja immer, das siebte Jahr ist verflixt. Möglicherweise stimmt dieser Aberglaube, der sich sonst ja eher auf Partnerschaften und Ehen bezieht. Obwohl ich sagen muss, dass ich mit meinem Leben aktuell sehr zufrieden – und glücklich bin.

Ich war, zum ersten Mal, nicht dort, wo ich sonst regelmäßig anlässlich meines Jahrestages war. Ich habe mir dieses Jahr zwar auch ein Gyrosbaguette gekauft, aber nicht dort, wo ich es sonst kaufe. Doch, es gibt den griechischen Imbiss noch. Aber: Es gibt bekanntermaßen seit einiger Zeit auch Menschen, die mir nicht wohl gesonnen sind. Und denen werde ich natürlich nicht die Möglichkeit geben, mich dort abzupassen. Paranoid? Keineswegs. Inzwischen haben die einstigen Antreiber, die nach wie vor alles daran setzen, mich persönlich zu treffen und mir entsprechend auf den Wecker gehen, noch mehrere andere Menschen motiviert und angesteckt. Im Moment weiß ich zeitweise nicht, was schlimmer ist: Meine Mutter (die im Moment ruhig ist, aber damit nicht weniger gefährlich) oder dieser „Pester Cluster“, wie ich ihn mal nennen will.

Jedenfalls ist es inzwischen so weit, dass mir davon abgeraten wurde, in diesem Jahr diesem Ritual zu folgen. Was schon bedrückend ist.

Der Anteil jener, die wohlwollendes Interesse an meinem Leben haben und meinen Blog lesen, um an diesem teilzuhaben, ist aber ungebrochen groß und meine Motivation, trotzdem weiter zu bloggen. Offline mache ich es sowieso, online leider nach wie vor verzögert, denn ich lasse alle Texte vor der Veröffentlichung gegenlesen und das dauert leider manchmal. Die letzten Einträge wurden nach ihrer Veröffentlichung binnen 24 Stunden aber über 25.000 Mal angeklickt. Der reine Wahnsinn.

Ich habe inzwischen zwar über 900 Textbeiträge geschrieben und selten um Worte verlegen (vor allem, wenn ich nicht schlagfertig und spontan reagieren muss), aber darüber bin ich nun echt sprachlos. Danke.