Giftblätter und Giftnudeln

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Am Freitag gab es Halbjahreszeugnisse. Zuerst die gute Nachricht: Ich habe mich in keinem einzigen Fach verschlechtert. (In Klammern die Noten vom Vorjahr.)

Deutsch 14 (14, 13)
Mathematik 10 (10, 10)
Englisch 14 (13, 14)
Pädagogik 13 (13, 12)
Psychologie 12 (12, 12)
Französisch n.e. (n.e., n.e.)
Spanisch n.e. (n.e., n.e.)
Biologie: 10 (09, 09)
Chemie: 09 (09, 06)
Politik, Gesellschaft, Wirtschaft: 09 (08, 07)
Kunst: befreit
Musik: befreit
Darstellendes Spiel: befreit
Religion: n.e. (n.e., n.e.)
Philosopie: 08 (n.e., n.e.)
Sport: 15 (befreit, befreit)

Ja. Richtig gelesen. Uschi hat mir in Sport 15 (in Worten: fünfzehn!) Punkte gegeben. Also volle Punktzahl. Es gab nur noch zwei andere Leute, die ebenfalls 15 Punkte in Sport bekommen haben. Eine ist Leistungsturnerin, der andere spielt in einem Bundesnachwuchskader Fußball. Sofort, also wirklich keine 2 Minuten nach Verteilung der Zeugnisse, fingen die ersten Mitschülerinnen zu labern an, dass sie mir diese 15 Punkte nicht gönnen. Es ist wirklich immer wieder dasselbe Spiel. Und es sind immer wieder dieselben Leute. Und sie schießen jedes Mal aus dem Abseits. Und lernen nichts dazu.

Wie bei „stille Post“ flüsterten sich die Leute zu: „Jule hat 15 Punkte in Sport bekommen. Das geht gar nicht.“ Inzwischen ignoriere ich das weitestgehend, bis dann solche Sprüche kamen wie: „Die hat sich nicht getraut, 14 zu geben, weil ihr dann Behindertenhass unterstellt worden wäre.“ Oder: „Uschis Liebling.“ Oder: „Bei Behinderten kannst du halt keine Leistung beurteilen, da zählt dann nur, ob du mitgemacht hast und die 15 motiviert dann für das nächste Jahr. Das ist alles nur Psychologie, da kommt unser eins gedanklich nicht mit.“ Ich konnte mir nicht verkneifen, den Stinkefinger zu zeigen. Viel lieber noch hätte ich ihr meinen halbvollen Joghurtbecher diagonal durch den Raum auf den Schoß gefeuert. Und die Wasserflasche hinterher. Die tun so, als wenn die 15 Punkte, die ich bekomme, von ihren Punkten abgezogen werden. Ich fand mich in Philosophie auch besser als 08 Punkte, besser als meine Nachbarin, die 10 Punkte hat, trotzdem mache ich da nicht so einen Alarm.

Immerhin: Ich hörte in dem ganzen Getuschel auch zwei oder drei Leute, die sagten: „Find ich völlig berechtigt. Ist doch wohl nur Schwimmen beurteilt. Und im Kraulen hängt sie uns alle ab. Und sie schwimmt ohne Beinschlag.“ Oder einer: „Ihr kotzt mich so an mit eurem Gewäsch.“ – Ich hasse es, wenn sich Leute meinetwegen streiten. Oder meinetwegen schlechte Stimmung ist. Mit Neid und Missgunst oder Engstirnigkeit kann ich ja noch einigermaßen leben. Und ich hasse das, wenn ich dabei knallrot im Gesicht werde. Weil es mir peinlich ist und weil ich mich ärgere. Und jeder das auch noch sieht. Während ich versuchte, aufmerksam zuzuhören, merkte ich nicht, dass der Lehrer vorne auch aufmerksam zuhörte. Es war sowieso gerade sehr laut, da alle über ihre Zeugnisse quatschten. Nur als mein Blick einmal nach vorne schweifte, sah ich das. Und nach und nach schauten auch die Lästerschwestern nach vorne und eine nach der anderen brach mitten im Satz ab. Gewissensbisse?

Es wurde stiller und stiller. Bis irgendwann niemand mehr redete und alle nach vorne schauten. Der Lehrer zeigte auf alle fünf Lästerschwestern und zählte nacheinander durch: „Eins, zwei, drei, vier, fünf. Sie kommen bitte mal nach vorne.“ – Murren, Stühle rücken, unmotiviertes Nachvornetrotten. Die erste der fünf Giftnudeln bekam einen Stift in die Hand gedrückt. „Sie malen bitte einen Gliederungspunkt an die Tafel und schreiben dahinter Ihr stärkstes Argument, warum eine Schülerin mit einer körperlichen Behinderung keine Höchstpunktzahl in Sport bekommen kann.“ Er deutete auf die zweite: „Sie sind die nächste.“

Ich machte mich auf den Weg nach draußen. „Wo wollen Sie hin?“ fragte mich der Lehrer. – „Auf die Toilette. Ich muss mich übergeben.“ Ich fuhr auf den Flur und donnerte die Tür hinter mir ins Schloss. Kaum war die Tür zu, ging sie wieder auf. Meine Tischnachbarin kam hinterher. Ich hörte nur noch ihre letzten Worte: „Wir kotzen zusammen.“ Dann krachte die Tür abermals ins Schloss. Ich fragte sie: „Willst du einen heißen Kakao?“ Wir fuhren zum Kakaoautomaten, setzten uns ans Fenster und ließen uns die Sonne aufs Gesicht scheinen. Nach gefühlten drei Minuten sagte ich, ohne die Augen zu öffnen: „Ich könnte denen manchmal so derbe die Fresse polieren.“

Meine Banknachbarin sagte: „Ich verstehe nicht, was das soll. Das kann denen doch scheißegal sein, was du für eine Note bekommst. Vor allem wissen sie doch, dass sie sich mit dieser blöden Tour auf ganz dünnes Eis begeben. Die wissen doch, wie Herr … tickt, das ist doch schon vorprogrammiert, dass die jetzt Ärger kriegen. Anstatt dann einfach mal die Klappe zu halten und drüber nachzudenken, warum ich keine 15 Punkte in Sport habe.“

„Ach die merkt doch nichts mehr. Weißt du, wenn ich von 40 Schwimmstunden gefühlte 25 nicht dabei bin, weil ich jede zweite Woche meine Tage habe, dann ist das in meinen Augen nicht mal ausreichend. Wenn ich dann in einem Bikini ankomme, der so geschnitten ist, dass er, sobald ich bißchen Gas gebe, verrutscht, dann kann man doch schon fast unterstellen, dass die schon zu Hause eingeplant hat, keine Leistung zu bringen. Dass ihr da pro Stunde mindestens ein Mal die Äppel rausfallen, imponiert doch beim dritten Mal nicht mal mehr einem Schmierlappen als Sportlehrer. Hat mindestens sechs verschiedene Bikinis, nimmt ihren iPad mit in die Schwimmhalle, aber hat keine 25 Euro für einen schlichten Badeanzug übrig. Und genauso wie ihre Einstellung ist auch ihre Leistung. Und dann reicht es eben nicht für 15 Punkte. Weißt du, wieviele sie hat?“

Meine Banknachbarin schüttelte den Kopf. „Ist mir auch egal. Ich bin ja mal gespannt, was die da an die Tafel schreiben.“ Wir tranken unsere Becher leer und beschlossen, wieder reinzufahren. Als erstes machte ich ein Handyfoto vom Tafelbild. Die einzelnen Punkte:

• Körperbehinderte können keine körperlichen (Höchst-) Leistungen erbringen
• Behinderte und nicht Behinderte kann man in den Leistungen nicht vergleichen
• Nicht behinderte Lehrerin kann Leistung von Behinderten nicht objektiv beurteilen
• Behinderte bekommen einen Mitleidsbonus
• Behinderte sind „seelisch verwundet“ wegen ihres Körpers und eine Bewertung des Körpers als Schulnote ist gemein und nicht zielführend, deshalb nur Bestnoten
• Behinderte haben viele Fehlzeiten und deshalb wird in nicht so wichtigen Fächern wie Sport ausgeglichen
• Behinderte stehen wegen ihren Bedürfnissen (besondere Dusche, Einzelumkleide etc.) im Fokus und werden verstärkt wahrgenommen
• Lehrer sind geneigt, bauliche Barrieren und fehlendes Leistungsangebot durch gute Benotung „auszugleichen“
• Behinderte müssen besonders motiviert werden
• Es ist politisch ein heißes Thema, wenn Behinderte kritisiert werden. Daher Note eher zu gut.

Strukturierter und fundierter, als ich zunächst dachte. Dann kam die Aufgabe: „Sie fünf werden sich in der nächsten Woche zusammensetzen und am kommenden Freitag ein 45-Minuten-Referat halten, in dem genau diese 10 Thesen beleuchtet werden. Parallel suchen Sie bitte im Internet in den einschlägigen Schulgesetzen und deren Anlagen nach den Kriterien für eine Leistungsbeurteilung im schulischen Sportunterricht und stellen die nötigen Zusammenhänge her. Die zweiten 45 Minuten diskutieren wir das Thema. Die Kriterien für die Leistungsbeurteilung schreiben Sie bitte stichwortartig auf ein DIN-A4-Blatt zusammen und geben mir das vorher zum Kopieren. Wenn Sie das im Internet nicht finden, sprechen Sie mich am Dienstag im Lehrerzimmer an, dann suchen wir gemeinsam. Machen Sie im Referat bitte deutlich, wer von Ihnen was genau erarbeitet hat, denn die Arbeit wird bewertet.“

Man darf gespannt sein, oder? Ich bin gespannt.

Uschi und das Wasser

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Neues Halbjahr, neuer Stundenplan. Ich durfte heute ausschlafen, wenn ich gewollt hätte, sogar bis um 11, da ich erst um kurz vor 12 zur ersten Stunde gemusst hätte. Das ist so, weil ich pro Tag nicht mehr als vier Unterrichtsstunden machen soll. Würde ich öfter anwesend sein, würde ich meinen Rentenanspruch verlieren. Das will ich natürlich nicht.

Aber es kann mir ja niemand verbieten, den Sportkurs zu besuchen, der ab 10 Uhr im Schwimmbad das Wasser umrührt. Und mit „besuchen“ meine ich nicht „offiziell teilnehmen“, sondern regulär Eintritt zahlen und als Gast das Schwimmbad besuchen. Die Anlage ist groß genug, für Schulen wird nur ein komplettes Becken abgetrennt, der Rest ist für jedermann zugänglich.

Ich schwimme so gerne! Uschi, unsere Sportlehrerin, geht schon auf die 60 zu, lässt es sich aber nicht nehmen, noch selbst Sport und Schwimmen zu unterrichten. Normalerweise gibt es in Hamburg keinen Schwimmunterricht mehr durch Lehrkräfte, das macht das Schwimmhallenpersonal. Allerdings nicht bei reinen Sportlehrern, die können ja nicht in ihrem anderen Fach mehr Stunden übernehmen, so dass diese dann doch noch Schwimmen unterrichten dürfen. Und so eine reine Sportlehrerin ist unsere Uschi.

Ich habe sie vorher gefragt, ob sie das doof findet, wenn ich einfach parallel zur Schulzeit, wo der Rest meines Jahrgangs Schwimmen hat, privat in dieselbe Schwimmhalle komme. Nein, im Gegenteil, sie fand es gut. Es gibt aber weder ein „anwesend“ noch am Ende eine Note, ich müsste Eintritt zahlen und dürfte eigentlich auch nicht mit in dasselbe Becken. Eigentlich.

Ich war tierisch aufgeregt. Weil ich nicht wusste, ob und wie das alles mit dem Umziehen funktioniert, habe ich mich zu Hause bereits schwimmfertig gemacht. Ich muss mich ja hinten zustöpseln, oder sagen wir mal, es ist besser. Warmes Wasser und die intensiven Körperbewegungen können die Darmtätigkeit anregen und das muss nun wirklich nicht sein. Es gibt aber so genannte Analtampons, die genauso funktionieren wie die Tampons für vorne und für hygienische Verhältnisse beim Schwimmen sorgen.

Am Ende war ich froh, dass ich das bereits zu Hause gemacht habe, denn die Behindertenumkleide und -dusche war in dem Bereich, der nur für die Schulen freigegeben war. Ich konnte mit Engelszungen reden, wenn ich in den „öffentlichen“ Bereichen nicht klar kommen würde, müsste ich nachmittags wiederkommen. Was für eine Kundenfreundlichkeit! Zumal keine weitere Person meines Jahrgangs diese Rollstuhlumkleide nutzt, sie steht leer! Die andere Rollstuhlfahrerin ist vom Sport befreit. Egal. Ich zog mich auf dem Gang aus, Badeanzug hatte ich ja schon drunter, donnerte die Sachen in irgendeinen Schrank, geduscht hatte ich zu Hause (in die normalen Duschen kam ich ja auch nicht rein) – ab in die Halle.

Mein Jahrgang war noch nicht da, also nutzte ich das öffentliche Becken und schwamm sechs Bahnen, dann sah ich Uschi. Alleine in der Halle. Als ich winkte, stellte sie ihre Tasche auf die Wärmebank und kam zu mir. „Sie sind ja doch hier. Wollen Sie nicht mit nach drüben kommen?“ – „Ja doch, gerne.“

Sie ging wieder rüber, ich setzte mich wieder in den Rollstuhl und fuhr nach drüben in den für den Schulsport abgetrennten Teil der Halle. Und wartete. Uschi füllte irgendwelche Zettel aus, nach und nach kamen meine Mitschüler dazu. „Schwimmst du mit?“ fragte mich eine von ihnen. Ich nickte freundlich, dachte aber gleichzeitig: „Nö, ich sitze hier zum Spaß im nassen Badeanzug.“

Es gab ein paar Verhaltensregeln (keine Leute reinstoßen, wir haben nur die Bahnen 7 und 8, es wird vorher geduscht) und dann kam die Ansage: „Wer nicht mitschwimmt, braucht ein Attest.“ Sandra, die sich anscheinend sicher war, dass Uschi nichts von alledem, was sie sich im letzten Halbjahr schon geleistet hatte, mitbekommen hat, fügte hinzu: „Oder einen Behindertenausweis.“

Es lachte … keiner! Uschi ging auf Sandra zu und ich dachte, sie knallt ihr eine. Sandra zog den Kopf zwischen die Schultern und wurde sichtbar nervös. Dreißig Zentimeter vor ihr stehend sprach sie sie an: „Haben Sie einen Behindertenausweis?“ – „Sehe ich so aus?“ – „Sie schreiben mir bis morgen handschriftlich eine DIN-A4-Seite darüber, warum man mit einem Behindertenausweis nicht automatisch vom Schulschwimmen befreit ist und ob man jedem Menschen seine Behinderung ansieht. Das lassen Sie mir von Ihren Eltern unterschreiben und wenn das bis morgen 10.00 Uhr nicht im Lehrerzimmer in meinem Fach liegt, erteile ich Ihnen einen Tadel.“

Sandra schluckte. Das saß besser als jede Ohrfeige. „Möchte noch irgendjemand einen dummen Spruch machen oder können wir jetzt mit dem Unterricht anfangen?“ – „Entschuldigung, können Sie das Thema nochmal wiederholen?“ fragte Sandra kleinlaut. Sie bekam als Antwort: „Nein, hören Sie zu oder fragen Sie Ihre Mitschüler. Nach der Stunde.“ Es war mucksmäuschenstill, nur das Wasser rauschte. Keiner sagte auch nur einen Piep. Ich bin kein Fan von extrem autoritären Lehrern, aber Uschi hatte ich ja auch schon nett erlebt und nach der Antwort hatte sie bei mir gleich einen Stein im Brett.

„Gibt es jemanden, der nicht schwimmen kann?“ fragte Uschi. Alle guckten in die Runde, eine Mitschülerin sprach mich leise an: „Kannst du schwimmen?“ Ich nickte. Sie machte einen erstaunten Gesichtsausdruck. Ich kam mir vor als käme ich vom Mond. „Gut, dann verteilen wir uns auf die Bahnen 7 und 8 und schwimmen jeder vier Bahnen hin und vier zurück, jeder in seinem Tempo und in seinem Schwimmstil. Es geht nicht um Zeit.“ Ich kraulte locker meine acht Bahnen und war die vierte oder fünfte. Ich konnte also locker mithalten.

Dann sollten wir nochmal zehn Bahnen schwimmen. 2 Brust, 2 Rücken, 2 Kraul, 2 Rückenkraul und 2 in einem ganz anderen Stil. Wer einen Stil nicht kann, darf stattdessen Brustschwimmen oder kraulen. Ich kann nur vier Stile, keine fünf, also habe ich am Ende nochmal gekrault. Es gab aber etliche dazwischen, die nur Brustschwimmen konnten und etliche, die nur Brust und Rücken konnten. Also war ich mit meinen vier Stilen schon gut. Dann mussten wir tauchen. Einmal tief, einmal weit. Das war auch kein Problem. Und dann war die Stunde auch schon vorbei. Die anderen durften, wer wollte, nochmal vom Dreier springen, ich durfte in die Behindertendusche – alles bestens. Nächste Woche will ich wieder mitschwimmen.